Die „Gruppe S.“ und die verschonten Neonazis
Exif RechercheDie Geschichte der „Gruppe S.“ liest sich wie eine Netflix-Serie und ist doch bittere Realität: Ein Informant meldet sich beim Verfassungsschutz, will rechtsterroristische Bestrebungen melden und wird ignoriert. Wenige Wochen später versucht er es erneut – diesmal beim LKA – und wird dort ernst genommen. Er berichtet von den Plänen einer größeren Gruppe Neonazis: es geht um Waffen, Schießübungen, Geld, konkrete Anschlagsziele auf Politiker:innen, Moscheen, Antifaschist:innen. Die Gruppe koordiniert sich über verschiedene Chats. Die Polizei entschließt sich, ihn als Informanten in der Gruppe spitzeln zu lassen.
Als die Gruppe sich am 8. Februar 2020 in Minden trifft, um konkrete Anschlagsziele zu besprechen, observiert ein Mobiles Einsatzkommando (MEK) der Polizei jeden Schritt. Der Anführer der Gruppe, Werner Somogyi, von den Neonazis nur „Teutonico“ genannt, soll auf dem Treffen den Plan vorgestellt haben. Er will Muslime in Moscheen zeitgleich in mehreren Bundesländern mit Waffen angreifen. Dies werde schließlich zu bürgerkriegsartigen Zuständen führen, weil es zu Gegenreaktionen kommen würde, so seine Vorstellung. Ein „Tag X“-Szenario, das zur politischen Destabilisierung beitragen soll, nach dem sich Neonazis auf der ganzen Welt seit Jahrzehnten sehnen und das den „Racial Holy War“ (RaHoWa) einleiten soll – die Sehnsucht nach dem bewaffneten Kampf und den politischen Umsturz.
Wenige Tage nach dem Treffen in Minden bricht der Kontakt zu dem Informanten ab, die Ermittler:innen werden nervös und schlagen zu. Am Morgen des 20. Februar 2020 finden in sechs Bundesländerngegen 13 Mitglieder Razzien statt u.a. auch bei einem Beamten der Polizei. Gefunden werden Depots mit Versorgungsmitteln, zahlreiche Waffen und Munition, sowie Material zur Herstellung von Sprengsätzen und Bombenbauanleitungen. Seitdem sitzen zwölf Personen wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ als Mitglieder der „Gruppe S.“ – von den Ermittler:innen nach dessen Anführer Somogyi benannt – in U-Haft.
Doch mit der Haft endet die spektakuläre Geschichte der Gruppe nicht. Am 15. Juli 2020 wird der Beschuldigte Ulf Rösener tot in seiner Zelle aufgefunden. Ersten Erkenntnissen zufolge starb er durch Suizid. Bei Rösener wurden im Rahmen der Durchsuchung im Februar 2020 selbstgebaute Handgranaten gefunden, später führte er die Ermittler:innnen zu einem Waffendepot in einem Waldstück. Damit nicht genug, habe es zudem einen Auftrag zum Mord des Informanten gegeben, der schließlich als Hauptbelastungszeuge im Verfahren gegen die „Gruppe S.“ gilt. Dafür soll Werner Somogyi aus der Haft einem italienischen Mafia-Mitglied 50.000 Euro geboten haben. Der Informant ist vom Verfahren ausgenommen. Er habe maßgeblich zur Aufklärung beigetragen und bleibt aufgrund dessen verschont. Doch noch weiteren Personen aus dem Netzwerk bleibt ein Prozess erspart.
Davon gekommen...
Die drei Neonazis Ralph E. aus Witzhave, Thomas „Togger“ G. aus Hamburg und Thorsten K. aus Bad Bramstedt organisierten in Hamburg die rassistischen Kundgebungen „Merkel muss weg“ (MMW). Über Monate trafen sie Absprachen und waren in die Interna der „Gruppe S.“ eingeweiht. Den Kontakt zur „Gruppe S.“ konnten E., G. und K. über Tony Ebel herstellen, der als rechte Hand von Somogyi galt. Ebel rekrutierte die Mitstreiter in Norddeutschland und war Verbindungsperson für die MMW- Gruppe.
Mit Thorsten K. pflegte Ebel einen engen Austausch. Sie telefonierten regelmäßig und besprachen sich. Ebel halte viel von ihm und bezeichnete ihn gegenüber Somogyi gar als „der Legionär“. Er schlägt diesem auch vor, dass Thorsten K. eine Führungsfigur für die Gruppe werden soll. Thorsten K. trat bei den MMW-Kundgebungen in Hamburg als Chef des Ordnerdienstes auf und nahm an den Kooperationsgesprächen mit der Polizei teil.
Thomas „Togger“ G. war Personenschützer des ehemaligen Hamburger Richters und Innensenators Ronald Schill und bewegte sich früher im Umfeld von Neonazi-Gruppierungen. Er ist wegen gefährlicher Körperverletzung und Verstoß gegen das Waffengesetz vorbestraft. Um 2016 trainierte er Mitglieder der „Identitären Bewegung“ im Kampf- sport. Von Thomas G. sei Tony Ebel begeistert und lege für ihn seine Hand ins Feuer, teilt er Somogyi mit. Im Nachgang einer „Querdenken 40“ Kundgebung im März 2021 in Hamburg schrieb ein Mitglied dieser FB-Gruppe: „Bewaffnet Euch, sonst werdet ihr untergehen!“. Thomas G. entgegnete: „Bin in Hamburg dabei und viele meine Kameraden/Freundeund Weggefährten. Ahoi!“. (Fehler im Original)
Den dritten im Bunde, Ralph E., preist Ebel gegenüber Somogyi als Mann an, auf den man sich zu 100 Prozent verlassen könnte, der schon wegen Mord und Totschlag gesessen hätte und gewillt sei Aktionen zu starten. Ralph E. war 2018 Kandidat der AfD im Kreis Stormarn (Schleswig-Holstein) und wird auf der Kandidatenliste als Personenschützer bezeichnet.
Laufende Vernetzung
Am 3. Oktober 2019 reisten Ralph E. und Thorsten K. nach Berlin, um an einem Aufmarsch von „Wir für Deutschland“ teilzunehmen und um sich mit dem Anführer und weiteren Mitgliedern der „Gruppe S.“ zu treffen. Einen Tag nach dem Aufmarsch meldete sich Ebel bei Thorsten K. Er will an den Organisations- Treffen von MMW in Hamburg teilnehmen. Im November treffen sich die Neonazis und Ebel wird in den geheimen Gruppen-Chat der MMW-Orga aufgenommen.
Somogyi plant ein Treffen mit den norddeutschen Rekruten der „Gruppe S.“, wofür am 2. November 2019 ein Gruppenchat namens „Besprechungs-Zimmer“ eingerichtet wird. Ralph E., Thorsten K. und Thomas G. sind von Beginn an Teil dieser Chatgruppe. Der Polizei-Informant gibt später an, dass alle Mitglieder dieser Telegram-Gruppe genau wussten, um was es geht. Die Ziele seien das „Töten von Schwarzafrikanern“, sowie rechts-motivierte Anschläge gewesen. Auch über Waffen sei gesprochen worden. In der Gruppe seien nur Leute gewesen, „die diese Ziele teilen und den Willen haben, diese auch umzusetzen.“
Im Dezember 2019 trifft sich die MMW- Gruppe erneut mit Ebel. Für Mitte Dezember plante man ein Treffen zunächst bei Ebel. Es wird auf den 8. Februar 2020 in
Minden verschoben. Auf Nachfrage, wer zum Treffen kommen würde, spricht Somogyi im Januar u.a. von „Thorsten, Ralf und Togger“. Warum Thorsten K., Ralph E. und Thomas G. letztlich nicht an dem Treffen teilnahmen, ist nicht bekannt.
Über den Inhalt des Treffens in Minden wurden Ralph E. und Thorsten K. jedoch nur vier Tage später von Ebel in Kenntnis gesetzt. Er berichtet, dass es gut gewesen sei und die Strukturen weiter ausgebaut werden würden. Sie hätten schon Waffen und bräuchten noch mehr.
Als die Ermittler*innen am 14. Februar 2020 zuschlagen und bundesweit Razzien gegen die „Gruppe S.“ durchführen, können die drei aus dem MMW-Orga-Team aufatmen. Sie sind nicht betroffen, ja gar davongekommen. Stattdessen erhalten sie Einladungen zur Zeugenbefragung. Ein alter Freund von Ralph E. – ein Polizist aus Trittau – schickt ihm die Vorladung sogar per Whats-App. Während die Wohnräume von Tony Ebel im niedersächsischen Ort Wriedel durchsucht werden, tauchten u.a. Neonazis aus Hamburg zur Unterstützung auf. Sie bedrohten Anwohner*innen sowie Pressevertreter*innen.
Nur die halbe Wahrheit
Als das Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg (LfV) am 30. März 2021 seinen Bericht für das Jahr 2020 vorstellte, wird auch ausführlich auf die „Gruppe S.“ eingegangen. Zudem behauptet das LfV in Bezug auf die „Merkel muss weg“-Veranstaltungsreihe: „Das LfV hatte die Öffentlichkeit frühzeitig informiert und kontinuierlich über den rechtsextremistischen Hintergrund der Versammlungsreihe berichtet.“ Die Verbindungen zwischen den Gruppen werden nicht gezogen. Die jüngsten Entwicklungen und Verstrickungen zur rechtsterroristischen Gruppierung werden der Öffentlichkeit verschwiegen.
Eine Strategie, die seit jeher von der Behörde verfolgt wird: das Offensichtliche als Neuerkenntnis präsentieren, obwohl antifaschistische Recherchen und zivilgesellschaftliche Bündnisse schon länger die möglichen Gefahren, wie auch ihren Ursprung offen legen. Auch das Netzwerk, welches erst Strukturen wie die „Gruppe S.“ ermöglicht, fällt bei den Behörden in den Hintergrund der Betrachtung. Eine Kontinuität, die ebenso in der Strafverfolgung ersichtlich ist und einer Öffentlichkeit spätestens im Prozess gegen den „Nationalsozialistschen Untergrund“ (NSU) bewusst geworden sein muss. Denn auch der NSU war nicht zu dritt, sondern konnte seine Morde, Raubüberfälle und Anschläge nur durch ein breites Unterstützer*innen-Netzwerk über Jahre hinweg ausführen.