Skip to main content

ESLR-Bruderschaft: Politische Spätzünder

Jacob Weyrauch
Einleitung

Die mittelhessische Gruppe „Ehre Stolz Loyal Respekt“ (ESLR) ist ein Beispiel, wie sich aus einer rechten Straßenmobilisierung eine Organisation herausbildete, die sich als "Bürgerwehr" und "Bruderschaft" verstand. Ihre Mitglieder radikalisierten sich rasant und waren Teil des Netzwerks der rechtsterroristischen "Gruppe S".

Foto: Presseservice Rathenow

Die extrem rechten deutschen „Gelbwesten“ demonstrierten am 6. Juli 2019 vor dem Berliner Kanzleramt. Mittendrin: Christian G. im ESLR-Dress.

Am 3. Oktober 2019 findet sich eine zehnköpfige Gruppe am Berliner Neptunbrunnen, gleich neben dem Roten Rathaus, ein. Die  Gruppe „Ehre Stolz Loyal Respekt“ (ESLR), die zuvor an der rechten "Wir für Deutschland"-Demonstration teilgenommen hatte, stellt sich zum Gruppenbild auf. In der Mitte hockt ihr Anführer Jonny Lack und ballt seine linke Faust. Viele auf dem Foto tragen Pullover und Lederwesten mit ESLR-Symbolen. Der Mann, der für das Foto seinen Arm um das ESLR-Mitglied Christian G. legt ist Paul-Ludwig U. –  im derzeit laufenden Stuttgarter „Gruppe S.“-Prozess ist er der Hauptbelastungszeuge. Er war am Tag vorher von seinem Wohnsitz in Baden-Württemberg nach Mittelhessen gereist, um bei ESLR-Mitgliedern zu nächtigen und mit ihnen nach Berlin zu fahren. In dieser Nacht war er beim bierseligen Zusammensein zum ESLR-Mitglied ernannt worden.

Knappe vier Monate später finden die „Gruppe S.“-Razzien statt, zeitgleich geht die Polizei unter dem Verdacht der „Gründung einer kriminellen Vereinigung“ (§129) gegen ESLR vor. Schwere Vorwürfe stehen im Raum: So soll die Gruppe bewaffnete Anschläge geplant haben (siehe LOTTA #83, S. 35) und sie war tief in den „Gruppe S.“-Komplex verstrickt. Bis dahin waren nicht einmal zwölf Monate  vom ersten gemeinsamen Auftreten der ESLR-Mitglieder  bis bis zur behördlichen Einschätzung als rechtsterroristische Gruppe vergangen.

Kennenlernen und Vernetzen

Am 9. März 2019 findet, wie zu dieser Zeit regelmäßig, eine Demonstration der „Gelben Westen Gießen“ in der Gießener Innenstadt statt. Etwa 30 Personen nehmen teil. Die Demonstrationen der „Gelben Westen“ in Deutschland haben in der Regel, anders als das französische Vorbild, keinen sozialrevolutionären Anspruch, sondern bedienen sich lediglich der gelben Warnwesten als Symbol, um Ressentiments gegen „die da oben“,  Migrant*innen und Linke auf die Straßen zu tragen. Dabei geht es auch  um zu hohe Spritpreise, gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, oder gegen den geplanten UN-Migrationspakt. Angesichts dieser Gemengelange von Themen sind an diesem Tag auch Ingo Helge, Stefan Jagsch und Thomas Hantusch von der hessischen NPD anwesend. Die „Gelben Westen Gießen“ stören sich daran keineswegs und betonen stattdessen, offen für alle sein zu wollen.

Auf dem Rücken der gelben Warnweste von Peter P. aus dem hessischen Vogelsbergkreis stehtsteht an diesem Tag „No NWO – QAnon“. NWO steht für „Neue Weltordnung“ bzw. „New World Order“ und ist in der Rechten eine Chiffre antisemitischer Verschwörungsmythen, Wenige Monate später hat P. die Warnweste durch eine ESLR-Kutte ersetzt. Mit Michael O., Jessica B., Klaus J., Christian G. und Jonny Lack sind an diesem 9. März 2019 wesentliche Figuren von ESLR erstmals gemeinsam auf einer Demonstration feststellbar. Zumindest für Lack endet diese unerfreulich: Er erhält von der Polizei eine Anzeige wegen des Mitführens schlagkraftverstärkender Quarzsand-Handschuhe.

Auf einem weiteren Gruppenbild aus dem Juli 2019 zeigt sich ESLR mit 13 Personen. Viele tragen Shirts mit dem ESLR-Logo, das unter anderem den  „Punisher-Totenkopf“ aus den Marvel-Comics zeigt. Am 6. Juli demonstriert der extrem rechte Teil der deutschen „Gelbwesten“-Szene vor dem Berliner Kanzleramt, dazu aufgerufen hatte auch Eric Graziani ("Patriotic Opposition Europe"). Manche tragen gelbe Warnwesten, andere aber auch Kutten, die sie als Anhänger von „Bürgwehren“ oder „Bruderschaften“ ausweisen. Christian G. ist auch da – und trägt ESLR-Shirt und gelbe Weste.

Die Verzahnung der Gießener Gelbwesten  mit ESLR ist offenkundig; so demonstriert auch Bettina I., die  „Gelbwesten“-Auftritte in Gießen organisierte,  im November 2019 in Landau in Rheinland-Pfalz im ESLR-Outfit. Zu dieser Zeit konstituiert sich unter Führung von Werner Somogyi eine selbsternannte Elite, die sich aus selbsternannten „Schutztruppen“ und „Bürgerwehren“ rekrutiert wie "Soldiers of Odin", "Wodans Erben", "Freikorps Heimatschutz" und auch ESLR  – und in der Anschlagspläne diskutiert werden. Der „Gruppe S.“-Komplex entsteht.

Rechter Vigilantismus

Tatsächlich war ESLR-Chef Jonny Lack bereits vor der Gründung von ESLR aktiver Teil verschiedener rechter Gruppen, er war  vor wenigen Jahren „Leader“ der „Division Hessen“ der "Soldiers of Odin" (SoO) und schloss sich um 2018 der Gruppe "Wodans Erben Germanien" (WEG) an. und wirkte als Fotos belegen, dass Lack im Jahr 2018 an einer „Bestreifung“ der Marburger Innenstadt beteiligt war. Derartige patrouillierende „Bürgerwehren“ bildeten sich vor allem in den Jahren nach 2016, zu ihrer Beschreibung entstand der Begriff des Vigilantismus.

Ihr Ziel ist eine bewegungsförmige Selbstjustiz, die vorgibt, vor den als Bedrohung wahrgenommenen Geflüchteten schützen zu wollen. So legitimieren sich vigilantistische Gruppen durch rassistische Motive. Das Verhältnis zum Staat und seinem Gewaltmonopol ist dabei keineswegs so eindeutig wie im klassischen, revolutionären Neonazismus: Zwar werden staatliche Autoritäten mit Skepsis beäugt und ihnen fehlendes Durchgreifen in Migrationsfragen attestiert, grundsätzlich sehen sich die „Bürgerwehren“ aber als systemstabilisierend. So geht es ihnen darum, die „alte Ordnung“ gegen Feinde von innen und außen  zu „verteidigen“ und nicht darum, das System zu stürzen – in diesem Sinne handelt es sich um eine konformistische Rebellion.  Dennoch gewinnt mit zunehmender Radikalisierung auch "Tag-X"-Metaphorik und somit das Ziel des gewaltsamen Systemsturzes an Zuspruch.

Auffällig ist: Nur wenige Personen im „Gruppe S.“-Komplex verfügen über eine einschlägige neonazistische Vorgeschichte. Da wäre beispielsweise Per „Odin“ Meier von der Gruppe "Vikings Security Germania", der zunächst an jenem Treffen in Minden teilnehmen wollte, aus dessen Teilnehmern die Ermittlungsbehörden später die „Gruppe S.“ konstruierten. Meier verübte 2001 einen rassistisch motivierten Brandanschlag auf ein Wohnhaus, in dem sich ein asiatisches Geschäft befand. 2009 meldete Meier eine Demonstration für "Freie Nationalisten" aus Bitterfeld und Dessau an. Auch Michael D., einst Teil der "Kameradschaft Mecklenburg-Strelitz", taucht im „Gruppe S.“-Komplex auf, von dem Mindener Markus K. wurden Bezüge zu "Blood & Honour"-Kreisen bekannt. Die überwiegende Mehrheit der Beteiligten kann aber nicht auf eine jahrzehntelange Szene-Karriere zurückblicken.

Viele Mitglieder vigilantistischer Gruppen sind zwischen 40 und 60, haben bereits Kinder im Erwachsenenalter und stammen aus der deutschen Provinz. Sie lebten möglicherweise immer schon in einer rechten und rassistischen Lebens- und Alltagswelt, war aber nie politisch organisiert und soweit aktiv, dass sie für Antifaschist*innen sichtbar waren bzw. von diesen als sonderlich relevant erachtet wurden..

Zudem scheinen viele ihrer Mitglieder von dem Drang angetrieben zu sein, die Durchschnittlichkeit ihres Lebens durch eine Zugehörigkeit zu einer elitär wirkenden „Bruderschaft“ aufzuwerten. Bei "Soldiers of Odin", "Wodans Erben Germanien" oder eben ESLR konnten sie diese Sehnsucht ausleben, mit Ritualen, Mythen und Codes anreichern und der Ästhetik von Rockern und Rebellen nacheifern.

Da  eine politische Sozialisation in Kameradschaften oder rechten Parteien die Ausnahme ist, haben die Beteiligten des „Gruppe S.“-Komplexes in aller Regel keinen Zugriff auf das in derartigen Kontexten vermittelte Wissen: Davon zeugt sowohl ihre wenig stringente Ideologie, die sich aus Versatzstücken diverser rechter Strömungen zwischen "Q-Anon"-Ideologie, klassischem Neonazismus, Reichsbürgertum und dem AfD-Wahlprogramm „Deutschland. Aber normal“ zusammensetzt als auch das geringe Interesse an strukturiertem Vorgehen. Eine Rechtsschulung hatte wohl niemand der Aktiven je durchlaufen, und so schwankte das Verhalten der Mitglieder stets zwischen dem eigenen Anspruch an hoher Konspiration und der teils stümperhaften Praxis.

Als Beispiel dafür können die Aussagen von Werner Somogyi während der Durchsuchung seines Hauses gelten. Trotz dessen, dass ein Hitler-Bild in seinem Schlafzimmer gefunden wurde, bestand dieser darauf, kein Nazi zu sein, und unterhielt sich ausgiebig mit den eingesetzten Polizist*innen. Somogyi sprach diese sogar noch während der Durchsuchung darauf an, dass er Polizei und Militär eigentlich als Unterstützer*innen im Kampf gegen Zuwanderung sehe – man stehe doch letztendlich auf derselben Seite. Somogyi wirkte perplex und zeigte keinerlei Bewusstsein dafür, gegen Gesetze verstoßen zu haben. Ähnliches wird im Prozess immer wieder auch aus Vernehmungen anderer Personen aus dem „Gruppe S.“-Komplex berichtet. Auch für ESLR dürfte gelten, dass die Mitglieder sich in der Rolle einer legitimen Selbstjustiz sehen.

Eine Frage des Mediums

Das Phänomen des organisierten rechten Vigilantismus ist auch ein Resultat der sich wandelnden Medienwelt: Ohne Facebook und insbesondere Telegram wäre ein Kennenlernen bzw. die Pflege von Kontakten in zunächst losen, dann stärker organisierten Gruppen kaum denkbar. Das ständige Treffen auf Gleichgesinnten, und die Flut bestärkender Bildern und Nachrichten der Telegram-Channels verstärkt und beschleunigt die Radikalisierung. Auf den Facebook-Profilen vieler Personen aus dem „Gruppe S.“-Komplex wird zudem deutlich, wie stark diese von "Reichsbürger"-Denken geprägt sind.

Die psychologische Wirkung dser Echokammern der Telegram-Kanäle, die geschlossene Facebook-Gruppen inzwischen beinahe vollständig abgelöst haben, ist dabei enorm: Hier trifft vollständige Medieninkompetenz auf  höchst manipulative VerschwörungsideologInnen, Welterklärer und Crash-Propheten, die einem  Kreis der „Eingeweihten“  vermeintlichen „Wahrheiten“ und „Beweise“ präsentieren. Omnipräsent ist die "Tag-X"-Metaphorik. Immer wieder ist  vom drohenden baldigen Zusammenbruch oder Untergang die Rede – und davon, dass sich das Schicksal des Volkes nun entscheide und die Männer zum Kampf aufgerufen seien. Die "Reichsbürger"-Idee erzählt ihnen, dass staatliche Institutionen gar nicht berechtigt seien, Gesetze vorzugeben und ein Gewaltmonopol auszuüben, sondern dass es stattdessen rechtmäßige Bürgerpflicht sei, das Recht (und damit die Gewalt) in die eigenen Hände zu nehmen.

So wächst aus den zunächst harmlos wirkenden „unzensierten“ Nachrichten und „nonkonformen“ Meinungsbeiträgen Stück für Stück eine vigilantistische Gewaltideologie. Die Gruppe ESLR ist hierfür nur ein Beispiel.

Die Feindbilder sind im vigilantistischen Milieu stets klar, aber doch wandelbar. Auf den einschlägigen Seiten, Profilen und Kanälen ist Corona-Leugnung und Impfverweigerung heute beherrschendes Thema, es hat die Themen Migration und Gender längst verdrängt. Für die Post-Corona-Zeit ist bereits ein Thema in Vorbereitung: Der Klimawandel. Persönliche Einschränkungen oder gar eine Änderung des eigenen (unantastbaren) Lebensstil will man nicht hinnehmen. Mythen über die „Klimawandelverschwörung“ einer „Ökolobby“ werden immer populärer und die Forderungen „Pro Diesel“ und „Gegen hohe Spritpreise“ hatten vor Jahren schon die deutschen Gelbwesten auf ihrer Agenda. „Fridays for Hubraum“ ist dafür das prominenteste Beispiel.

Trotz der auffälligen Affinität zu Pandemie-Leugnung und Impfverweigerung tauchen bürgerwehrartig strukturierte Gruppen auf Corona-Leugner*innen-Demonstrationen kaum geschlossen auf. Schwarze Kutten sind hier die absolute Ausnahme – was auch daran liegen mag, dass die Razzien im „Gruppe S.“-Verfahren nur wenige Wochen vor den ersten öffentlichen Protesten der Corona-Leugner*innen-Szene stattfanden und die entsprechenden Gruppen damit vorübergehend die Arbeit einstellten.

Während sich Einzelpersonen aus der vigilantistischen Szene, die sich um das Jahr 2016 bildete, immer wieder auf Corona-Leugner*innen-Demos zeigen, so ist doch auffällig, dass die Szene dort keine tragende, organisierende Rolle spielt. Es ist ein neues Milieu, das der vigilantistischen Szene den Rang abgelaufen hat – sowohl was die Professionalität und Breite der Mediennutzung und des Aufbaus einer eigenen, verschwörungsideologischen Medienwelt angeht, als auch, zumindest im Jahr 2020 und zu Beginn des Jahres 2021, hinsichtlich der Mobilisierungsfähigkeit auf der Straße.

Es ist nur folgerichtig, dass die rechtsoffenen Proteste der Corona-Leugner*innen-Szene auch auf Teile des vigilantistischen Milieus anziehend wirken und beide zunehmend verschmelzen. Verschwörungsideologien und "Tag-X"-Rhetorik sind schließlich beiden gemein. Die Befürchtung liegt nahe, dass während der Corona-Leugner*innen-Demonstrationen ähnliche Prozesse des Kennenlernens, Vernetzens und Radikalisierens angestoßen wurden, die hier am Beispiel von ESLR aufgezeigt wurden.