Prozess gegen White Supremacists in Charlottesville
Eine Zivilklage gegen 24 Organisatoren einer Neonazi-Kundgebung in der Stadt Charlottesville im Bundesstaat Virginia endete im November 2021 erfolgreich. Den Kläger_innen wurden mehr als 25 Millionen Dollar Schadensersatz zugesprochen.
Am 12. August 2017 hatte der Neonazi James Alex Fields Jr. im Anschluss an die Kundgebung in Charlottesville sein Auto gezielt in eine antifaschistische Gegendemonstration gelenkt, dabei die 32-jährige Heather Heyer getötet und mindestens 19 weitere Menschen verletzt. (Vgl. AIB Nr. 116 / 3.2017). Die Klage vor dem Bezirksgericht in Charlottesville wurde von vier Männern und fünf Frauen eingereicht, darunter vier Personen, die bei dem Angriff durch das Auto verletzt wurden. Die Kläger_innen, zu deren Verletzungen Gehirnerschütterungen und ein zerschmettertes Bein gehörten, sagten im Prozess aus, sie litten noch heute unter posttraumatischen Belastungsstörungen, Schlaflosigkeit, mangelnder Konzentrationsfähigkeit, Flashbacks und Panikattacken. Präsident Donald Trump hatte zu dem Fall öffentlich verkündet, es habe auf beiden Seiten der Proteste „sehr gute Menschen“ gegeben.
Klage und Urteil
Die Bürgerrechtsgruppe „Integrity First for America“, die das Anwaltsteam der Kläger_innen bei der Prozessvorbereitung unterstützte, fasste das Klageziel mit den Worten zusammen, es sollten damit weiße Rassisten und Antisemiten entlarvt und in den Ruin getrieben werden. Bei den Beklagten handelte es sich um 24 Mitglieder der extremen Rechten und deren Organisationen. Zu ihnen gehörten Andrew Anglin, Herausgeber der Publikation „The Daily Stormer“, Jason Kessler, der die Kundgebung organisiert hatte und Richard Spencer, der einst als Anführer der „Alt-Right“-Bewegung galt. Daneben die Organisationen „Identity Evropa“, „Loyal White Knights of the Ku Klux Klan“ und die „NSF“.
Die Klage, die sowohl Strafzahlungen als auch Entschädigungen forderte, wurde von einer Geschworenen-Jury entschieden. Diese hatten zu beurteilen, ob die Organisatoren der extrem rechten Kundgebung in Charlottesville an einer rassistisch motivierten gewalttätigen Verschwörung beteiligt gewesen waren, was nach einem Bundesgesetz aus dem Jahr 1871 juristisch verfolgbar ist. Das sogenannte Ku-Klux-Klan-Gesetz war verabschiedet worden, um gegen rassistische Gruppierungen vorgehen zu können, die nach dem Bürgerkrieg in den USA Selbstjustiz üben und den frisch befreiten Sklaven ihre Bürgerrechte verwehren wollten. Das Gesetz wurde seitdem nur selten angewendet. In den Jahren 2020 und 2021 wurde auf dessen Grundlage der ehemalige Präsident Donald Trump, sein Anwalt Rudy Giuliani, die „Proud Boys“ und die „Oath Keepers“ verklagt, wegen Versuchen, schwarzen Wähler_innen das Wahlrecht zu entziehen und die Bestätigung der Präsidentschaftswahlen 2016 zu untergraben.
Im November 2021 verurteilte die Jury die Hauptorganisatoren der tödlichen Kundgebung in Charlottesville und sprach den Kläger_innen mehr als 25 Millionen Dollar Schadenersatz zu. Bei zwei Anklagen wegen Verschwörung auf Bundesebene kamen die Geschworenen jedoch zu keinem Ergebnis. Die Beklagten - eine Mischung aus weißen Nationalisten, Neonazis und Sympathisanten der Konföderierten - wurden nach dem Recht des Bundesstaates Virginia für schuldig befunden, an einer Verschwörung beteiligt gewesen zu sein, die zu den Verletzungen der Gegendemonstrant_innen während der Kundgebung geführt hatte. Die höchsten Summen wurden als Strafschadensersatz zugesprochen: Zwölf Beklagte wurden zur Zahlung von jeweils 500.000 Dollar verurteilt, während fünf weiße nationalistische Organisationen mit jeweils einer Million Dollar belegt wurden. Die Strafschadensersatzbeträge sollen gleichmäßig unter den Kläger_innen aufgeteilt werden. James Alex Fields Jr., der wegen des Mordes an Heather Heyer bereits eine mehrfach lebenslängliche Haftstrafe verbüßt, wurde zu zwölf Millionen Dollar Strafschadenersatz verurteilt sowie zu Hunderttausenden Dollar für die medizinischen Kosten der durch ihn verletzten Gegendemonstrant_innen.
Laut Urteil war für die Begründung einer Verschwörung nicht erforderlich, dass sich alle Beteiligten persönlich kannten, gemeinsam eine Vereinbarung getroffen oder die Gewalt selbst verursacht hatten. Entscheidend sei vielmehr, dass alle ein gemeinsames Ziel verfolgten und die Gewalttaten hätten vorhersehen können. Das konnten die Anwält_innen der Kläger_innen im Prozess beweisen und brachten Auto-Attentäter Fields mit „Vanguard America“, mit denen er in Charlottesville marschiert war, sowie mit allen anderen angeklagten Organisationen und ihren Führungspersonen in Verbindung.
Der Prozess dauerte drei Wochen und es wurden 36 Zeugen befragt. Die Beklagten hatten bereits nach eineinhalb Tagen ihre Verteidigung abgeschlossen, nachdem sie die folgenden vier Argumente vorgebracht hatten: Ihre Ansichten seien vom 1. Zusatzartikel zur Verfassung, der Rede-und Versammlungsfreiheit gedeckt, auch wenn diese von anderen missbilligt würden. Außerdem hätten sie in Selbstverteidigung gehandelt. Die Polizei sei schuld, weil sie die gegnerischen Seiten nicht auseinandergehalten habe. Und niemand habe vorhersehen können, was Fields tun würde, weil keiner ihn kannte.
Die Anwält_innen der Kläger_innen legten den Geschworenen Dutzende von Textnachrichten, Chatroom-Mitteilungen und Social-Media-Postings der Hauptplaner der Kundgebung vor, die diese Argumente widerlegten. Viele enthielten rassistische Bemerkungen, in anderen war die Rede davon, den Gegendemonstrant_innen die „Schädel zu brechen“. In einem Online-Interview bezeichnete der Präsident der „League of the South“ Michael Hill, der einen weißen Ethnostaat errichten will, den Gerichtssaal als „Frontlinie“ in diesem Kampf. Während seiner Aussage wurde Hill gebeten, einen Teil eines Gelöbnisses zu verlesen, das er ins Internet gestellt hatte: „Ich gelobe, ein weißer Rassist, Antisemit, Homophober, Fremdenfeind, Islamophobe und jede andere Art von Phobie zu sein, die meinem Volk nützt, so wahr mir Gott helfe“, trug er den Geschworenen mit Begeisterung im Saal vor. Und fügte hinzu: „Ich vertrete diese Ansichten immer noch“.
In neonazistischen Kreisen waren die Gewalttaten euphorisch gefeiert worden. So ließ Matt Parrott von der „Traditionalistische Arbeiterpartei“ verlauten: „Charlottesville war ein großartiger Sieg. Die Alt-Right ist keine erbärmliche und gesichtslose Internet-Modeerscheinung, sondern eine furchterregende Kraft, die auf der Straße kämpft.“
Nach der Urteilsverkündung erklärten die Anwälte der extrem rechten Organisatoren, sie würden versuchen, die Beträge zu reduzieren, und es gäbe kaum Chancen, dass ihre Mandanten in allen Fällen zahlen könnten. Die Anwält_innen der Gegendemonstrant_innen erklärten, sie würden eine Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Verschwörung auf Bundesebene in Betracht ziehen. Auch hofften sie, dass das Urteil Abschreckungswirkung entfalten werde.
Rolle der „Alt-Right“
Die Kundgebung in Charlottesville war als Protest gegen die Entfernung des Konföderiertendenkmals des Südstaaten-Generals Robert E. Lee angemeldet worden. Das eigentliche Ziel war jedoch, den offen rassistischen und weiß-nationalistischen Flügel der „Alt Right“- Bewegung an die Spitze eines landesweiten Aufmarsches zu setzen und die extreme Rechte in den nationalen Mainstream zu bringen. Darin ist die „Alt-Right“ weitgehend gescheitert. Einige Neonazis wurden verhaftet, die „Traditionalist Worker Party“ löste sich auf. Die "Identitäten" der Teilnehmenden des Fackelmarsches wurden von antirassistischen und antifaschistischen Aktivist_innen veröffentlicht und einige verloren ihren Arbeitsplatz. „Identity Evropa“ war gezwungen, sich in „American Identity Movement“ umzubenennen.
Aber die Ereignisse in Charlottesville als Fehlschlag abzutun, wäre ein Fehler. Denn diese haben das Streben der „Alt Right“ nach politischer Akzeptanz und ihren Hunger nach politischer Gewalt offengelegt und markierten eine Reorganisation der Bewegung. Auch wenn die Kundgebung in den Medien überwiegend verurteilt wurde, als Mittel zur Radikalisierung war sie ein Erfolg. Wenn die Ereignisse in Charlottesville die „Rechte“ nicht vereinen konnten, zeigt die Mischung aus „Proud Boys“, „Oath Keepers“ und anderen extrem rechten Gruppen mit der großen Menge an Trump-AnhängerInnen beim Sturm aufs Kapitol, wie gut sich die gewalttätige Rechte in die breitere Pro-Trump-Rechte integrieren konnte.
Charlottesville markierte tatsächlich das Ende der „Alt-Right“, wie sie einst verstanden wurde. Die Organisierung um Charlottesville war kein statischer Moment, der einen Anfang oder ein Ende markiert, sondern sollte als ein Moment in einem Prozess der politischen Verhandlung und Radikalisierung verstanden werden.
(Vgl. A Field Guide to White Supremacy by Kathleen Belew / Ramón A. Gutiérrez, Section IV, 17. The Alt-Right in Charlottesville: How an Online Movement Became a Real-World Presence, Nicole Hemmer.)