Argentinien: Ministerwechsel und Attentat in der Wirtschaftskrise
Martin Ling AIBDie argentinische Mitte-links-Regierung von Alberto Fernández trat wenige Monate vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie ihr Amt an. Seitdem jagt eine Krise die nächste. Im Juli 2022 gaben sich drei Wirtschaftsminister die Klinke in die Hand, im August 2022 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen die Vizepräsidentin Cristina Kirchner. Und zu schlechter Letzt sorgte ein missglücktes Attentat auf Kirchner am 1. September 2022 für den bisherigen Höhepunkt der Krise.
Lange stellte sich in Argentinien die Frage, welcher nicht-peronistische Präsident als erster das Ende seiner Amtszeit erreicht. Erst dem neoliberalen Mauricio Macri gelang das, als er am 10. Dezember 2019 an Alberto Fernández übergab. Was Macri schaffte, war keinem Nicht-Peronisten seit Juan Peróns Wahlsieg 1946 vergönnt. Dessen Erbe wird von rechts bis links bis heute rund um die peronistische Gerechtigkeitspartei (Partido Justicialista, PJ) reklamiert. Die Regierung von Alberto Fernández war von Anfang an ein breiter Kompromiss.
Auf Initiative der Ex-Präsidentin Cristina Kirchner wurde ein Dreierbündnis von links bis rechts geschmiedet. Die linke Kirchner ließ dem Zentristen Alberto Fernández den Vortritt und kandidierte „nur“ als Vize, Fernández konnte den Rechtsperonisten Sergio Massa ins Wahlkampfboot holen und stellte ihm den Vorsitz des Abgeordnetenhauses in Aussicht. Massa war 2015 maßgeblich mitverantwortlich für die Spaltung des peronistischen Lagers in zwei Blöcke und verhalf damit Macri indirekt zum Sieg.
Postenkarussell
Der Kompromiss wurde mit dem Wahlsieg belohnt. Doch den Burgfrieden zu halten, gestaltete sich in der durch die Corona-Pandemie verschärften Wirtschaftskrise schwierig. Stein des Anstoßes war vor allem der von außen geholte Wirtschaftsminister Martín Guzmán, dem der peronistische Stallgeruch abging. Das Abkommen, das der Ökonom mit dem verhassten Internationalen Währungsfonds (IWF) im Januar 2022 schloss, stieß bei Kircher und ihren Anhänger*innen auf keine Gegenliebe. Argentinien ist mit 44 Milliarden Dollar beim IWF verschuldet – Macri hatte diesen Kredit 2018 aufgenommen. Ohne Macri hätte 2022 das Abkommen mit dem IWF nicht den Senat passiert, da der linke Kirchner-Flügel dagegen stimmte. Fernández hatte einst Guzmán als Wirtschaftsminister geholt, aber politische Ränkespiele waren dessen Sache nicht. Guzmán warf entnervt von den Angriffen der Anhänger*innen der Vizepräsidentin im Juli 2022 die Brocken hin.
Der nächste Minister war - für nur 24 Tage - eine Ministerin: Silvia Batakis, eine Vertraute von Kirchner. Einen Tag nach ihrem Antrittsbesuch beim IWF wurde ihre Absetzung beschlossen. Der Streit um die Ausrichtung der Finanz- und Wirtschaftspolitik war auch nach Guzmáns Rückzug munter weitergegangen. Neuer Wirtschaftsminister wurde Sergio Massa, der Dritte aus dem Dreierbündnis von 2019.
Proteste
Am 17. August 2022 zogen Hunderttausende Demonstrierende in Buenos Aires zum Parlament. Aufgerufen hatten Gewerkschaftsverbände und verschiedene politische und soziale Organisationen. Sie fordern die Anpassung von Löhnen, Renten und Sozialhilfen an die Inflation. Die Demonstration richtete sich nicht explizit gegen die Regierung, forderte von ihr jedoch eine „entschiedene Politik zugunsten der schwächeren Teile der Gesellschaft und gegen die konzentrierten Wirtschaftsgruppen“. Überlagert wurden die Proteste nur wenige Tage später durch eine Korruptionsanklage gegen Kirchner.
Am 22. August 2022 forderte die Staatsanwaltschaft zwölf Jahre Haft wegen angeblicher Korruption. Kirchner genießt Immunität und ob das Bundesgericht der Staatsanwaltschaft folgt, ist noch nicht ausgemacht, aber in Argentinien kochen seitdem die Emotionen hoch. Direkt nach dem Verdikt der Staatsanwaltschaft zogen Gegner*innen von Kirchner vor ihr Haus im gehobenen Stadtviertel Recoleta (wo auch die Grabstätte der Ikone Evita Perón liegt) um sie zu beschimpfen. Ihre zahlreichen Anhänger*innen reagierten prompt, strömten ihrerseits zu ihrem Haus und halten seitdem ununterbrochen eine Mahnwache ab. Ihr Motto: „Wenn sie Cristina anfassen, werden sie Aufruhr ernten.“
Attentatsversuch von rechts
Aus dieser Menge heraus agierte am 1. September 2022 der Attentäter Fernando Andre Sabag Montiel, ein 35-jähriger Brasilianer und bekennender Ultra-Rechter. Nach Angaben der Polizei war er bereits wegen Waffenbesitzes vorbestraft. Es war denkbar knapp: Nur die Ladehemmung der Pistole rettete Kirchner das Leben. Einen Kopfschuss aus nächster Nähe, wie ihn der Attentäter – von Fernsehkameras dokumentiert – versuchte, ist in der Regel tödlich.
Zur Befriedung der Lage wird das missglückte Attentat kaum beitragen. Friedlich blieb der Tag darauf, den die Regierung zum freien Tag erklärte, um der Bevölkerung die Teilnahme an Kundgebungen zu ermöglichen. Auf der Plaza de Mayo versammelten sich viele tausende Menschen, um ihre Solidarität zu bekunden. Die zerstrittenen Peronisten könnte dieses Attentat wieder zusammenrücken lassen. Für ganz Argentinien ist das kaum zu erwarten.
Fernando Sabag Montiel verweigert bisher jede Aussage. Ein Foto zeigt, dass er eine „Schwarze Sonne“ (ein historisch von der SS verwendetes Symbol) auf seinen Ellenbogen tätowiert hat. Bei einer Hausdurchsuchung in seiner Wohnung wurde weitere Munition gefunden und ein Computer beschlagnahmt. Als sein Mobilfunkgerät in einem offenen Umschlag im Labor ankam, war es von „Unbekannt auf Werkseinstellungen zurückgesetzt“ worden, auch in den sozialen Medien hatte jemand unverzüglich all seine Accounts gelöscht.
Die Freundin des Attentäters, Brenda Uliarte, wurde später verhaftet, da sie auch am Tatort war und beschuldigt wird Montiel angestiftet zu haben.1 Beide standen der rechten „Föderalen Revolution“ von Jonathan Morel nahe. Uliarte bekundete in den sozialen Medien auch ihre Nähe zur politischen Rechten, etwa zur „Argentina Avanza“ von Javier Gerardo Milei. Der rechte „libertäre“ Politiker tritt für Avanza Libertad (2020-2021) bzw. La Libertad Avanza (2021-heute) an. Die Parteivorsitzende der Propuesta Republicana (PRO) Patricia Bullrich und Javier Milei gehören zu den Politikern, die den Anschlag nicht verurteilten.
Rechte Fanbase
Wenige Tage später wurde José Derman in der Provinz Buenos Aires festgenommen. Zuvor hatte Derman das Attentat auf die Vizepräsidentin in einem Video in seinen sozialen Netzwerken gefeiert. In der Stadt La Plata wurde in einem extrem rechten „Kulturzentrum“ des 38-Jährigen eine 83-mm-Mörsergranate gefunden. Das „Centro Cultural Kyle Rittenhouse“ (CCKR) bewirbt Derman als „das erste offen rechtsgerichtete Kulturzentrum in der Stadt La Plata und in ganz Argentinien“, ein „kulturpolitischer Raum mit antikommunistischem und antigeschlechterideologischem Charakter“. Der Name „Kyle Rittenhouse“ ist eine „Hommage“ an den weißen Rassisten, der im US-Bundesstaat Wisconsin zwei Männer erschoss, aber freigesprochen wurde (vgl. AIB 134). Ein zentrales Wandbild an der Fassade des CCKR zeigt Rittenhouse mit einem halbautomatischen Gewehr, ein weiteres Wandgemälde den Kongressabgeordneten Javier Milei (Libertad Avanza). In der Garage des ehemaligen Hauses seiner Familie produzierte Derman vor allem Youtube-Videos. Ein „Hauptsprecher“ des sich „libertär“ nennenden „CCKR-Kollektiv“ erklärte in einem Interview, dass man „einen Kampf auf der materiellen, aber auch auf der symbolischen Ebene“ führen wolle in einem "Kulturzentrum", in dem es keine Dreadlocks oder abstrakte Kunst gäbe.
Die einzigen Teilnehmer im Raum sind hierbei jeweils José Derman und Sebastián Poch. Beide waren zuvor aus der extrem rechten „Fuerza Unidaria“ ausgeschlossen worden. Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass Derman vor Gericht erscheinen musste: Im Jahr 2020 schickte er Frauen ungefragt „Dickpics“, um sie einzuschüchtern und zu bedrohen – „wegen „femibolches“ wie ihnen könne er mit niemandem mehr eine sexuelle Beziehung haben“. Das Verfahren wurde von einem Gericht in Buenos Aires eingestellt.2 Laut den Recherchen von „Página 12“ leide er angeblich an einer „paranoiden Wahnstörung“.
Das CCKR wurde dem zum Trotz - laut eines Facebook-Beitrages – im Juni 2022 von zwei politischen Mitarbeitern von Patricia Bullrich besucht, der Parteivorsitzenden der „Propuesta Republicana“ (PRO), ehemalige Abgeordnete und Arbeitsministerin.
(Für den Artikel haben wir Auszüge aus einem Text verwendet, der in den Lateinamerika Nachrichten 579 erschienen ist.)
- 1„Ich werde Cristina in den Tod schicken“, schrieb Uliarte einige Tage vor dem Anschlag an ihre Freundin Agustina Díaz. Montiel, Uliarte und Díaz sind auf Aufnahmen zu sehen, wo sie offenbar vor dem Anschlag die Gegend auskundschafteten. (Vgl. the Guardian: Far-right group discussed killing Argentina’s vice-president, court hears. 15. September 2022. Uki Goñi.
- 2Página 12, 8. September 2022: Detenido por reivindicar el atentado, Juan Ignacio Provéndola