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Festung Europa: Ignorierte Notrufe aus Kalkül

Einleitung

Die Notwendigkeit ziviler Seenotrettungseinsätze auf dem Mittelmeer bleibt enorm. Doch europäische Staaten verweigern den Schiffen regelmäßig das Einlaufen.

Rassismus Mittelmeer
(Foto: Kripos_NCIS; CC BY-ND 2.0)

Nicht mal einen Monat war es her, dass die deutsche Seenotrettungs-NGO „SOS Humanity“ im August 2022 ihr erstes Schiff in Spanien taufte. Der direkt danach startende erste Einsatz im zentralen Mittelmeer verlief so: Das Schiff steuerte innerhalb von sieben Tagen vier Unglücksstellen an und nahm 415 Menschen an Bord, darunter 64 Kinder unter 13 Jahren. Zwischen dem 7. und 16. September 2022 bat die Besatzung daraufhin dreizehn Mal die Behörden von Malta und Italien um Erlaubnis, die Menschen an Land bringen zu dürfen. Doch sie durfte in keinen Hafen einfahren. Das mit den völlig entkräfteten Menschen überfüllte Schiff musste mindestens bis zum 18. September 2022 auf dem Meer ausharren. Kurz zuvor durfte die "Geo Barents", das Schiff von "Ärzte ohne Grenzen", 270 Schiffbrüchige erst nach Taranto in Italien bringen, nachdem die Crew 17 Mal erfolglos einen sicheren Hafen angefragt hatte.

Die Situation auf dem Mittelmeer war im Spätsommer paradox. Rund 15 private NGO-Schiffe waren entweder im Einsatz oder wurden dafür vorbereitet, unter anderem die "Open Arms", "Ocean Viking", "Sea Watch 3", "Sea Eye 4" und eben die "Humanity 1". Größer war die zivile Rettungsflotte noch nie. Die jahrelange Arbeit der NGOs hat zu einem erstaunlich stabilen Spendenaufkommen geführt, das ihnen ermöglicht, immer neue Schiffe anzuschaffen. Die Notwendigkeit für deren Einsatz ist enorm: Von Anfang August bis Mitte September 2022 gab es nach Zählung der UN-Migrationsorganisation IOM im Mittelmeer jeden zweiten Tag ein tödliches Unglück. 1.297 Menschen starben so seit Anfang des Jahres.

Eine Erklärung dafür bietet ein Blick auf die Berichte der NGO „Alarm Phone“. Sie betreibt seit 2014 eine 24-h-Notruf-Hotline, bei der sich Flüchtlinge melden können, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten. Ein „ganz normaler Tag“, wie sie selber sagen, war für die Aktivist*innen etwa der 2. September. Es war der siebte Jahrestag des Todes von Aylan Kurdi, jenem Jungen, dessen Bild um die Welt ging, als er 2015 tot an die türkische Küste nahe Bodrum gespült wurde. Am 2. September 2022 hätte er keine besseren Überlebenschancen gehabt. Das Alarm-Phone hatte an jenem Tag Kontakt mit drei Notfällen. Ein Boot mit 80 Insassen, Tagen zuvor im Libanon gestartet, trieb zwischen Kreta und Malta in Seenot. Schon 30 Stunden zuvor hatten die Insassen einen Notruf abgesetzt. Ein in der Nähe befindliches Handelsschiff erhält die Order, den Schiffbrüchigen Wasser und Lebensmittel zu geben – und dann weiterzufahren. Zur gleichen Zeit lief 15 Seemeilen südwestlich der italienischen Insel Lampedusa ein Gummiboot mit 14 Insassen voll mit Wasser. Acht Stunden zuvor hatten sie einen Notruf abgesetzt. Rettungskräfte waren nicht in Sicht. Ein drittes Schiff mit 70 Menschen war am Vorabend auf halber Strecke zwischen Tripolis und Lampedusa in Seenot geraten. Statt nach Europa in Sicherheit gebracht zu werden, kommt die sogenannte libysche Küstenwache und bringt die Menschen zurück nach Libyen, wo sie interniert werden. In allen Fällen hatte das Alarm-Phone wie stets, die Behörden alarmiert. „Extrem selten“ gebe es eine angemessene Reaktion der Behörden, sagt Maurice Stierl vom Alarm-Phone. Italien würde hin und wieder Hilfe schicken. Vor allem Malta, das für eine besonders große Rettungszone zuständig ist, bleibe in der Regel aber völlig untätig. „Die warten einfach ab, ob die Menschen es selbst schaffen, weiterzukommen.“ Auf Notfälle nicht zu reagieren sei „ein Kalkül“, sagt Stierl. „Es wird versucht, so wenig wie möglich in der Todeszone zu retten.“

EU setzt auf Abschottung

Die EU setzt immer stärker darauf, die Menschen nicht ankommen zu lassen. Der wichtigste Partner dabei ist die unter Federführung Italiens seit 2016 aufgebaute sogenannte libysche Küstenwache. Sie stoppt Flüchtlingsboote auf dem Meer und bringt die Insassen wieder zurück nach Libyen. Dazu wird sie heute immer öfter auch von der Rettungsleitstelle in Malta gerufen, wenn Notrufe abgesetzt werden. 14.184 Menschen griff sie von Januar bis August 2022 auf dem Meer auf, rund 110.000 waren es seit ihrem Aufbau 2016. Die UN zählen diese Rücksendungen fleißig mit und twittern „Libya not safe“, können aber nichts dagegen unternehmen, dass die Aufgegriffenen nach ihrer Ankunft wieder in Folterlager gesperrt werden.

Ein hoher Diplomat des UN-Flüchtlingswerks UNHCR gab indes den Eltern der ertrunkenen Flüchtlinge die Schuld an der Misere. Anfang September 2022 hatten Angehörige im tunesischen Zarzis eine Gedenkfeier für die Mittelmeertoten abgehalten, zu der auch europäische Aktivist:innen eingeladen waren. Einer von ihnen twitterte ein Bild ihrer Kundgebung aus Zarzis. Der UNHCR-Sonderbeauftragte für das Mittelmeer, Vincent Cochetel kommentierte den Tweet mit folgenden Worten: „Sie trauern um den Verlust. Aber dieselben Mütter hatten kein Problem damit, ihre Kinder zu ermutigen oder ihnen Geld zu geben, um diese gefährlichen Reisen anzutreten. Wie im Senegal könnte die symbolische Verfolgung von Eltern, die ihre Kinder einem Risiko aussetzen, einen ernsthaften Wandel in der Einstellung zu tödlichen Reisen auslösen.“ Cochetels Forderung, Eltern juristisch für den Tod der Kinder auf dem Meer zu verfolgen, löste heftige Reaktionen aus. „Es ist das Visa- und Grenzsystem, das die Migranten in Gefahr gebracht hat, nicht ihre Mütter“, schrieb Jalila Taamallah, die Mutter von zwei jungen Tunesiern, die Anfang 2020 auf dem Weg nach Frankreich ertrunken waren. Bereits zuvor hatte Cochetel auf Twitter geschrieben, sein Kommentar sei „unangemessen“ gewesen. Auch die UNHCR-Zentrale sieht das so. Sie distanzierte sich für ihre Verhältnisse überraschend deutlich: „Wir entschuldigen uns für die gestrigen Äußerungen unseres Sondergesandten über die Lage im westlichen und zentralen Mittelmeer“, heißt es in einer Erklärung der Organisation. Diese spiegelten „in keiner Weise die Position des UNHCR wider".

Vor den Wahlen Ende September 2022 in Italien hatte die extreme Rechte dort das Thema hochgekocht. Nachdem am 27. August 2022 rund 1.000 Menschen auf der Insel Lampedusa ankamen, twitterte der extrem Rechte Lega-Kandidat Matteo Salvini: „Verrückt, beschämend, katastrophal“. Schuld hätten die Seenotrettungsorganisationen und die EU: „Brüssel kümmert sich nicht um die Verteidigung der Grenzen und Sicherheit der Bürger.“ Italien werde mit den Flüchtlingen, vor allem jenen, die die NGOs bringen, allein gelassen – das war die Botschaft.

Staatliche Seenotrettung nicht in Sicht

Dass die von den vielen NGO-Schiffen Geretteten oft so lange nicht in einen Hafen gebracht werden dürfen, hat auch damit zu tun, dass einer der wichtigsten Vorstöße der EU der vergangenen Jahre, den Mittelmeerstaaten Flüchtlinge abzunehmen, komplett im Sand verlaufen ist. Wie das Bundesinnenministerium der "tageszeitung2 (taz) mitteilte, nahm etwa Deutschland seit 2018 über den sogenannten Malta-Mechanismus insgesamt 936 aus Seenot Gerettete auf – 502 aus Malta und 436 aus Italien. In Italien sind im gleichen Zeitraum 197.000 Menschen über das Mittelmeer angekommen. Seit Juni 2021 kamen gerade einmal 23 Menschen über den Entlastungsmechanismus nach Deutschland. Die deutsche Ampel-Regierung hatte sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, gegen das Sterben vorzugehen. Sie wolle eine „staatlich koordinierte und europäisch getragene“ Seenotrettung im Mittelmeer aufzubauen und „mit mehr Ländern Maßnahmen wie den Malta-Mechanismus“ weiterzuentwickeln. Doch von einer staatlich koordinierten Seenotrettung ist nichts in Sicht. Anstelle des Malta-Mechanismus soll nun der so genannte EU-Solidaritätsmechanismus treten, mit dem einige EU-Mitglieder die Mittelmeer-Staaten bei der Flüchtlingsaufnahme entlasten wollen. Es geht dabei vor allem um Menschen, die von NGO-Schiffen aus Seenot gerettet wurden. So soll die Neigung erhöht werden, den Schiffen schneller eine Einfahrt in einen sicheren Hafen zu erlauben. Andere EU-Staaten machten zur Bedingung, dass die Kommission die Größe ihres Kontingents geheim hält. Sie fürchten offenbar, für ein Entgegenkommen in dieser Frage innenpolitisch abgestraft zu werden. Deutschland hatte sich bei der Beschlussfassung im Juni 2022 öffentlich bereit erklärt, dabei 3.500 Asylsuchende zu übernehmen. Das ist nur ein Bruchteil der tatsächlich Ankommenden.

Doch manchen hierzulande ist auch das zu viel. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), derzeit Vorsitzender der Innenministerkonferenz. „In Zeiten ohnehin bereits hoher Zugangszahlen noch zusätzliche Aufnahmeprogramme zu starten, ist nicht nur das falsche Signal, sondern offenbart auch, dass der Bund den Ernst der Lage nicht erkannt hat“, behauptete Herrmann. Während andere EU-Mitgliedstaaten ihre Asylpolitik „auf den Prüfstand stellen“ – soll heißen: sich noch weiter abschotten – gehe die Bundesregierung „einen unreflektierten Sonderweg und verschließt vor der Realität die Augen.“ Für ihn ist die Aufnahme der Schiffbrüchigen „scheinbare Humanität“ auf dem „Rücken der Bürgerinnen und Bürger.“