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Grenzenlose Menschenrechtsverletzungen

Matilda Bombolone
Einleitung

Flüchtlingspolitik in Griechenland

Foto: flickr.com;noborder network/CC BY 2.0

Fast täglich erreichen die Öffentlichkeit Berichte über im Mittelmeer ertrunkene Flücht­linge. Im Herbst 2013 machte die Katastrophe vor Lampedusa, als 360 Menschen kurz vor dem rettenden Strand der italienischen Insel ertranken, Schlagzeilen. Trotz des Massensterbens versuchen Menschen weiter und in den letzten Monaten sogar wieder vermehrt, von Nordafrika oder der Türkei aus, nur mit Hilfe eines kleinen Bootes nach EU-Europa zu gelangen.

Während die Behörden Italiens zuletzt mehrere Rettungsaktionen vermeldeten, teilt die griechische Küstenwache fast nur Unglücke und Opferzahlen mit. Erst am 5. Mai sanken zwei Boote vor der Küste Griechenlands im östlichen Ägäischen Meer. Dabei seien mindestens 22 Menschen ertrunken, sieben weitere würden vermisst, 36 Menschen seien gerettet worden. Die Flüchtlinge waren offenbar von der türkischen Küste gegenüber der Insel Samos gestartet. Als sie ein Notsignal sendeten, befanden sich die beiden Boote rund sechs Seemeilen nördlich von Samos. Nach Angaben von Nachrichtenagenturen hatte die Küstenwache zunächst vier Leichen im Meer geborgen. Die weiteren 18 Toten seien später in den Maschinen- und Aufenthaltsräumen der gekenterten Boote entdeckt worden. „Es war schlimm. Eine Frau hielt in ihren Armen ihr Kleinkind. Beide waren ertrunken“, sagte ein Augenzeuge im griechischen Rundfunk.

Die Ursachen dieses jüngsten Unglücks sind bislang unklar. In der Region herrschte gutes Wetter ohne starke Winde. Noch am Vortag hatte die griechische Küstenwache 146 Migrant_innen im offenen Meer zwischen der Halbinsel Peloponnes und Malta aufgegriffen.

„Pushbacks“ an den Grenzen

Auf die dramatische Lage für Flüchtlinge speziell an der griechisch-türkischen Grenze macht auch ein neuer Bericht der Nichtregierungsorganisation Amnesty International von Ende April aufmerksam. Die Menschenrechtsorganisation spricht darin von „unhaltbaren Zuständen“ und fordert die EU-Kommission auf, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland einzuleiten.

Mehrere der insgesamt 148 Flüchtlinge, die Amnesty International befragen konnte, berichteten von „Pushbacks“, also Zurückweisungen an der griechischen Grenze. Ihnen seien Pässe und Geld weggenommen worden. Teilweise mussten sie sich vor den Grenzbeamten nackt ausziehen. Anschließend seien sie mit Waffen bedroht und in kleinen Booten zurück in die Türkei abgeschoben worden.

Amnesty wirft Griechenland daher vor, das Verbot zu verletzen, Menschen in ein Land zurückzuschicken, in dem ihr Leben in Gefahr ist. Das Non-Refoulement-Prinzip (Prinzip der Nichtzurückweisung) ist das Kernstück der Genfer Flüchtlingskonvention (Artikel 33). Die Rückführung von Flüchtlingen verstößt somit gegen internationales Recht. Die Regierung in Athen müsse den aufgegriffenen Flüchtlingen vielmehr dabei helfen, Asyl zu beantragen, fordert Amnesty auch mit Blick auf die eindeutige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser urteilte 2012, dass Flüchtlinge nicht auf See zur Umkehr gezwungen werden dürfen. Sie müssen an Land die Möglichkeit erhalten,  Asylanträge zu stellen.

Auf ähnliche „Pushback“-Fälle machte zuletzt im November auch Pro Asyl aufmerksam. Allein nach Angaben der von der Flüchtlingsorganisation interviewten Augenzeug_innen seien binnen eines Jahres mindestens 2000 Menschen völkerrechtswidrig zurückgewiesen worden. Auch hier berichteten Flüchtlinge, dass sie oft willkürlich stundenlang ohne Wasser und Nahrung eingesperrt und auch misshandelt worden seien. Immer wieder hätten ihnen maskierte und bewaffnete Angehörige von Spezialeinheiten Wertsachen und Ausweise abgenommen und sie dann in ihre seeuntüchtigen Boote oder in den Grenzfluss Evros zurückgeworfen, darunter auch besonders schutzbedürftige Kinder, Babys und Kranke.

Pro Asyl spricht in seinem Bericht von systematischer Verletzung der Menschenrechte und kritisiert nicht nur die griechischen Behörden. Das Asyl- und Migrationssystem in dem Mittelmeerstaat werde maßgeblich durch die Europäische Union unterstützt und finanziert. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex ist seit Jahren in Griechenland im Einsatz.

Neben der Ägäis gibt es zwischen der Türkei und Griechenland eine zweite wichtige Fluchtroute: die entlang des Grenzflusses Evros. Seit nunmehr fast zwei Jahren wird diese Grenze durch einen 12,5 Kilometer langen Zaun und 1.800 griechische Polizisten vor ungewollten Zuwanderern „geschützt“. Wärmebildkameras sowie Land- und Flusspatrouillen kommen sogar auf insgesamt 40 Kilometern Strecke zum Einsatz. Frontex hilft auf Bitten der griechischen Regierung kräftig mit, eine 24-stündige Überwachung zu gewährleisten. Angeblich soll dort dennoch die „sichere Einreise“, die auch in den Schengen-Verträgen vorgesehen ist, möglich sein. Die Bundestagsabgeordnete Annette Groth (Die Linke) erfuhr jedoch bei ihrer letzten Reise im März, dass es in der Praxis keinen Unterschied mache, „ob ein Mensch illegal die Grenze übertreten hat, oder die legale Möglichkeit genutzt wurde, da die Menschen in die gleichen Auffanglager überstellt werden“.

Menschenunwürdige Internierungslager

Unendlich schwer haben es nicht nur Flüchtlinge und Migrant_innen an der Grenze zu Griechenland und damit EU-Europa, sondern auch jene, die von den Behörden als „illegale Migrant_innen“ eingestuft werden. Angaben zur Zahl der Eingewanderten sind in Griechenland schwer zu bekommen und fallen je nach politischem Kontext, in dem sie benutzt werden, höchst unterschiedlich aus. Es ist davon auszugehen, dass mehrere zehntausend Flüchtlinge und weitere hunderttausende Papierlose im Land sind. Viele wollen eigentlich in einem anderen EU-Land einen Asylantrag stellen, dürfen jedoch aufgrund der EU-Dublin-Verordnung Griechenland nicht verlassen. Nur in dem Land, das sie als erstes betreten, können sie um Asyl bitten.

Dies ist umso schlimmer, da Griechenland kein funktionierendes Asylsystem hat — von der Möglichkeit, tatsächlich Schutz zu erhalten, ganz zu schweigen. Im Gegenteil: die Behörden sperren illegal Eingewanderte sogar zur Abschreckung ein, lassen sie neuerdings bis zu eineinhalb Jahre in dunklen, dreckigen Zellen vor sich hin vegetieren. In „detention centers“ oder Polizeistationen landen auch Menschen, die gerade erst einem Krieg entkommen sind, wie zurzeit viele Syrer_innen. Dort herrschen menschenunwürdige Zustände, wie Besuche immer wieder beweisen.

Die Lage von Flüchtlingen in Griechenland ist den deutschen Behörden nicht verborgen geblieben. Auch 2014 wird es keine Rückschiebungen nach Griechenland geben. Das Bundesinnenministerium  hat seinen Erlass, mit dem Dublin-Überstellungen nach Griechenland ausgesetzt werden, um ein weiteres Jahr verlängert. Die Aussetzung gilt seit 2011.

Made by EU

Grund für weiteres Handeln sieht die Bundesregierung aber nicht, ebenso wenig wie die gesamte EU und ihre Mitgliedsstaaten. Griechenland darf zwar so ehrenhafte Aufgaben wie die halbjährliche EU-Ratspräsidentschaft übernehmen (noch bis Ende Juni), das krisengebeutelte Land wird aber in Migrationsfragen weder unterstützt noch gefordert. Nicht einmal das Aufstreben neofaschistischer Gruppierungen und der Anstieg rassistischer Straftaten wird ernstlich angeprangert.

Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen wollen die Tatenlosigkeit nicht hinnehmen. Pro Asyl etwa fordert, die Rechte von Flüchtlingen zu achten und dass Frontex seine Operationen in Griechenland einstellt. Weiterhin sollten alle EU-Länder ihre Visabestimmungen lockern, Familienzusammenführungen erleichtern und Visa aus humanitären Gründen für Flüchtlinge im türkischen Transit erteilen. So würde ein sicherer und legaler Zugang in die EU ermöglicht.

Dieser ist dringend nötig, betrachtet mensch die Zahl der bereits im Mittelmeer gestorbenen Flüchtlinge. Nach Recherchen des neuen Projekts europäischer Journalist_innen mit dem Titel „The Migrants’     Files“ sind seit dem Jahr 2000 23.000 Menschen auf dem Weg nach Europa ums Leben gekommen oder als vermisst gemeldet worden — weit mehr als bisher angenommen.

Aber auch diese Zahl konnte bisher nicht für ein Umdenken in der EU-Flüchtlings- und Migrationspolitik sorgen. Allein die Maßnahmen zur Abwehr von Flüchtlingen wurden zuletzt verschärft, etwa mit dem im Dezember gestarteten Überwachungssystem Eurosur (European Border Surveillance System). Damit sollen Polizei und Küstenwache Informationen über die Bewegung von (Flüchtlings-)Booten EU-weit austauschen können. Nur wenige Europaabgeordnete sehen das Projekt kritisch. Die Grünen-Politikerin Ska Keller gehört dazu und betrachtet Eurosur als einen weiteren Baustein in der Abschottungspolitik. „Mit Eurosur sollen Flüchtlingsboote […] abgefangen werden, ehe sie die europäischen Gewässer überhaupt erreichen. Damit wird ihnen ihr Recht auf Asyl verwehrt.“ Die Europaabgeordnete Cornelia Ernst (Die Linke) weist auf die Kosten des neuen Überwachungssystems hin: „Eurosur ist ein rund 340 Millionen Euro teures Investitionsprogramm für die Rüstungsindustrie, mit dem sich an dem Flüchtlingsdrama, das sich im Mittelmeer abspielt, nichts ändern wird.“ Sie fordert die Abschaffung von Eurosur und Frontex.

Doch damit steht Ernst wohl auf verlorenem Posten. Seit Januar wurden 42.000 Einwanderer an den EU-Grenzen aufgegriffen, dreimal so viele wie im gleichen Zeitraum 2013. Frontex teilte Mitte Mai 2014 seine neuesten Zahlen mit. Nur im Jahr des Arabischen Frühlings 2011 sei die Flüchtlingszahl bislang höher gewesen. Die Grenzschützer von Frontex rechnen damit, dass die Zahl im Sommer noch drastisch anwächst. In den Sommermonaten ist das Wetter besser, so dass sich in der Regel in dieser Zeit mehr Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa aufmachen.