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Italien: Iuventa Crew-Mitglieder vor Gericht

Autor*innenkollektiv „loud and clear“ und "Iuventa Soligruppe Hamburg"
Einleitung

Das Rettungsschiff Iuventa lief im Juli 2016 zu ihrem ersten Rettungseinsatz im zentralen Mittelmeer vor der libyschen Küste aus. In insgesamt 16 Einsätzen wurden von mehr als 200 Crew-Mitgliedern ca. 14.000 Menschen aus Seenot gerettet. Am 2. August 2017 wurde sie beschlagnahmt.

Iuventa Soli
(Foto: Rasande Tyskar; CC BY-NC 2.0)

Als 2015 die ersten Schiffe der Zivilgesellschaft aufbrachen, um die Verbrechen der EU im Mittelmeer zu dokumentieren und einzuschreiten, war die öffentliche Zustimmung zunächst groß. Spätestens Ende 2016 startete allerdings eine großangelegte Kampagne, deren Ziel es war, die Arbeit der zivilen Flotte zu diskreditieren. Die Beschlagnahmung der Iuventa im Sommer 2017 war der vorläufige Höhepunkt dieser europaweiten Kampagne.

Ein kurzer Blick zurück: Am 31. Oktober 2014 endete die staatliche, italienische Rettungsmission „Mare Nostrum“, vor allem auch auf Druck des damaligen deutschen Innenministers de Maiziere (CDU). Die entstandene Lücke füllten ab 2015 zivile Rettungsschiffe. In den Jahren 2016 und 2017 war die Anzahl der Schiffe dieser zivilen Flotte zwischenzeitlich zweistellig. Die öffentliche Berichterstattung war dabei fast durchgehend positiv. Dies änderte sich spätestens Anfang 2017 nach einer Kampagne, die aus dem Umfeld der ultra-rechten Gruppierung "Identitäre Bewegung" (IB) losgetreten wurde und bald ihren Weg in die Politik und die großen Medien schaffte (vgl. AIB Nr. 121).1

Bis heute werden NGO-Schiffe immer wieder unter fadenscheinigen Vorwänden in italienischen Häfen festgesetzt, Geldstrafen verhängt oder Schiffe mit geretteten Geflüchteten wochenlang nicht in einen Hafen gelassen. Schiffe der italienischen Küstenwache oder der EUNAV-FOR MED Operation Sophia wurden immer weiter von der libyschen Küste zurückgezogen, dem Ort, wo die meisten Boote in Seenot geraten. „Sophia“ wurde schließlich ganz eingestellt und durch „Irini“ ersetzt, die lediglich mit Flugzeugen operiert. So kommt kein Kriegsschiff in die Verlegenheit Menschen aus Seenot retten zu müssen.

Parallel dazu wurde die sogenannte libysche Küstenwache (scLYCG) immer weiter aufgebaut und mit Schnellbooten versorgt. Frontex operiert mit Aufklärungsflugzeugen und Drohnen, die von Malta und Kreta starten und Seenotfälle nur in absoluten Ausnahmefällen über die regulären öffentlichen Kanäle melden. Im Normalfall wird die von Italien aufgebaute Seenotrettungsleitstelle in Tripolis informiert, damit die scLYCG die Boote mit Geflüchteten zurück nach Libyen schleppen kann. Damit brechen die Frontex-Mitarbeiter*innen internationales Recht und machen sich mindestens der Beihilfe zu illegalen Pullbacks schuldig.

Zusätzlich haben europäische Staaten ihre Verordnungen oder Gesetze geändert, um den Betrieb eines Rettungsschiffes möglichst teuer und aufwendig zu machen. Zudem werden in Italien immer wieder Ermittlungs- oder Gerichtsverfahren gegen Aktivist*innen der zivilen Seenotrettung eingeleitet. Die allermeisten dieser Fälle wurden nach den Ermittlungen oder im Vorverfahren eingestellt, der einzige derzeit offene Fall ist das Verfahren gegen Iuventa.

Die Crews der Iuventa standen seit September 2016 im Mittelpunkt umfangreicher Ermittlungen, an denen mehrere Polizeibehörden und Geheimdienste beteiligt waren. Knapp ein Jahr später wurde die Iuventa im August 2017 beschlagnahmt. Sie liegt bis heute im Hafen von Trapani und rostet vor sich hin.

Ende Juni 2018 wurden zehn ehemalige Iuventa-Crew-Mitglieder von der Staatsanwaltschaft in Trapani informiert, dass gegen sie ein Ermittlungsverfahren wegen „Beihilfe zur unerlaubten Einreise nach Italien“ eingeleitet wurde. In insgesamt fünf Jahren hat die Staatsanwaltschaft rund 30.000 Seiten Akten sowie 400 DVDs mit abgehörten Gesprächen, Mitschnitten von Telefonaten sowie Daten aus beschlagnahmten Rechnern zusammengetragen. Drei Jahre später wurde das Ermittlungsverfahren im März 2021 offiziell abgeschlossen und gegen vier der ehemals zehn soll nun Anklage erhoben werden. Darüber hinaus sind noch 17 weitere Personen der NGOs „Ärzte ohne Grenzen“ und „Save the Children“, beide Organisationen selbst sowie eine Reederei von dem Verfahren betroffen.

Am 21. Mai 2022 startete die Vorverhandlung in Trapani, an deren Ende der zuständige Richter entscheiden muss, ob Anklage erhoben werden soll oder nicht. Den Angeklagten drohen bei einer Verurteilung bis zu 20 Jahre Haft und zusätzlich 15.000 Euro Geldstrafe für jede gerettete Person, die Italien erreicht hat. Das Ergebnis der ersten Anhörung ist, dass die Staatsanwaltschaft das Prozedere wegen zu vielen Verfahrensfehlern erneut starten musste und ein neuer erster Termin für die Vorverhandlung vermutlich im Herbst 2022 stattfinden wird. Dieser zeitliche Ablauf ist nur ein kleiner Vorgeschmack darauf, wie lange ein Verfahren dauern kann. Die Anwält*innen gehen von mehreren Jahren Prozessdauer aus.

Menschen aus Seenot zu retten ist allerdings nach Seerecht keine Straftat, sondern eine Pflicht. Es zu unterlassen, wenn man dazu in der Lage ist, ist hingegen eine Straftat. Das Seerecht fordert darüber hinaus, dass Gerettete an den nächstgelegenen sicheren Ort, einen „Place of Safety“ gebracht werden. Dies kann nur Italien oder Malta sein, da weder Libyen noch Tunesien als ein solcher Ort für die Flüchtenden gelten können.

Die Staatsanwaltschaft behauptet deshalb, dass die Boote gar nicht in Seenot gewesen seien. Damit ist sie ganz auf der Linie der italienischen Behörden, die aktuell Schiffen mit Geretteten keinen „Place of Safety“ mehr zuweisen, sondern einen „Port of Disembarkation“. Damit und mit der Bezeichnung der Überlebenden als Migrant*innen seitens der Behörden, wird ziemlich direkt in Frage gestellt, dass es sich um Rettungen von Menschen aus Seenot handelt.

Während das Verfahren gegen die Iuventa und andere NGOs noch eine gewisse mediale Aufmerksamkeit und Solidarität erfährt, wird die Kriminalisierung Geflüchteter bei gleicher Anklage von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Wenn NGO-Schiffe in italienischen Häfen anlegen, um die Geretteten an Land zu bringen, stehen Frontex-Beamte am Pier um zu ermitteln, wer das Boot gefahren ist und wer ein Navigationsgerät bedient hat. Dabei wird in den Verhören der Geretteten auch mal der Eindruck vermittelt, dass ein Verbleiben in Europa von der Beantwortung dieser Fragen abhängt. So werden regelmäßig mindestens zwei Menschen pro Boot der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ beschuldigt und in der Regel auch verurteilt.

Für die Ermittlungsbehörden sind das dann Erfolge im Kampf gegen Schlepper, allerdings handelt es sich um Geflüchtete selbst, die aus verschiedensten Gründen neben dem Motor gelandet sind. Durch diese absurde Praxis sind nach Schätzungen seit 2013 allein in Italien ca. 2.500 Menschen verhaftet und zu Haftstrafen zwischen zwei und 20 Jahren verurteilt worden.

Eine komplette Entrechtung Geflüchteter findet jedoch in Griechenland statt. Während der ca. ein Jahr dauernden Untersuchungshaft bleiben die Gefangenen zumeist ohne jegliche Informationen oder Rechtsbeistand. In kurzen Prozessen werden sie dann abgeurteilt. Das Ausmaß der verhängten Strafen ist geradezu absurd. Innerhalb von einer halben Stunde werden Menschen zu Haftstrafen von 50 bis 150 Jahren und Geldstrafen von mehreren 100.000 Euro verurteilt. Es ist zwar möglich, gegen diese Urteile Einspruch zu erheben, dafür braucht es aber anwaltliche Unterstützung, Geld und Öffentlichkeitsarbeit. Ist alles drei vorhanden, kann es durchaus zu Einstellungen oder Freisprüchen kommen, wie einige Fälle der letzten Monate gezeigt haben.

Menschen werden gezwungen täglich ihr Leben zu riskieren und sich in die Hände von Schleppern zu begeben, weil Europa keine sicheren Fluchtwege zulässt und alle EU-Außengrenzen mit Zäunen sowie durch illegale Push- und Pullbacks mit brachialer Gewalt abschirmt. Das Recht auf Asyl ist durch diese Praxis für Geflüchtete, die aus dem „falschen Land“ kommen, de facto abgeschafft.

Flucht selbst wird damit zu einem Verbrechen und die Geflüchteten zu Straftätern deklariert. Neben der Kriminalisierung von Geflüchteten soll auch die Solidarität und Unterstützung Geflüchteter oder von Menschen ohne Papiere unterbunden werden. In ganz Europa wurden in den letzten Jahren Menschen wegen sogenannter „Solidaritätsverbrechen“ angeklagt und zum Teil auch verurteilt. Knapp 240 Menschen mit europäischem Pass waren bzw. sind davon derzeit betroffen.

Dennoch ist die zivile Flotte im Mittelmeer stark wie nie. Die Anzahl der derzeit aktiven Schiffe ist zweistellig und die Ideen, wie die Hürden der europäischen Behörden umschifft werden können, sind vielfältig. Für das Leben, gegen den Tod!