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Antifa-Ost-Verfahren: Dem politischen Angriff etwas entgegensetzen

Aus einem "Offenen Brief" an das „Solidaritätsbündnis Antifa Ost“ (gekürzter und redigierter Nachdruck vom AIB)
Einleitung

Wir veröffentlichen einen "Offenen Brief" an das „Solidaritätsbündnis Antifa Ost“ als gekürzten und redigierten Nachdruck im "Antifaschistischen Infoblatt" (AIB), um die Diskussionen über den politischen Umgang mit dem Verfahren gegen die Leipziger Antifaschistin Lina E. und ihre Mitangeklagten in Sachsen zu unterstützen.

(Bild: soli-antifa-ost.org)
(Bild: soli-antifa-ost.org)

Wir1 glauben nach wie vor an die Möglichkeit der Vermittlung von linker und linksradikaler Politik. Gerade im Bereich Antifaschismus und auch im Gericht bestehen Spielräume. Legitimierung oder Anerkennung dieser „Institution“ hin oder her. Wir denken, es wäre bitter, wenn von diesem Verfahren vor allem im Gedächtnis bliebe: „Vergewaltiger“ „Kronzeuge“ „Verurteilung“. Vielleicht gibt es Möglichkeiten, dass wir alle viel mehr darüber nachdenken, reden und danach handeln, was die Notwendigkeit von (militantem) Antifaschismus heute bedeutet.

Zu Recht wird dieses Verfahren von vielen als schwerwiegendster Angriff der Repression seit langer Zeit auf uns eingestuft. Man muss leider davon ausgehen, dass am Ende dieses Prozesses nicht unbedingt ein Freispruch für alle stehen wird. Seit Juni 2022 hat sich die politische Lage noch einmal verschärft, weil der Mitbeschuldigte D. im abgetrennten Verfahren die Seiten gewechselt hat und sich als „Kronzeuge“ zur Verfügung stellt. Wir kennen weder D., noch die Angeklagten. Wir haben aber seit langer Zeit als interessierte Genoss_innen viele Prozesse gegen Leute von uns in verschiedenen Funktionen „begleitet“.

Uns sind dabei unterschiedliche Strategien der Angeklagten begegnet, offensive, defensive ... wir haben dazu auf keinen Fall eine dogmatische Einstellung, außer dass wir reuevolle Geständnisse immer peinlich, deplaziert und politisch würdelos finden. Jeder Prozess hat seinen speziellen Hintergrund, vor dem die Angeklagten – hoffentlich immer in Diskussion mit ihrem politischen Umfeld – ihre jeweilige Strategie finden und umsetzen. Ratschläge von außerhalb an Angeklagte sind meistens problematisch. Denn diejenigen, die sie geben, sitzen oft lediglich vor ihrem Laptop-Bildschirm und die angeklagten GenossInnen sind in vorderster Reihe – wie hier – mit der BAW und einem Staatsschutzsenat konfrontiert. Deshalb haben wir auch an dieser Stelle von den Angeklagten weder etwas zu fordern, noch sie zu einem bestimmten Verhalten aufzurufen, aber wir möchten unsere Überlegungen dazu äußern. (...)

Wir glauben, dass der Prozess durch die Aussagen von D. eine verschärfte politische Dimension bekommen hat. Dies nicht durch seine Aussagen, wer angeblich wann mit wem was auch immer getan, gesagt oder gelassen haben soll. Der Staatsschutzsenat hatte seine Beweisaufnahme quasi abgeschlossen und wäre zur Verurteilung geschritten – die Aussagen hat er nicht unbedingt gebraucht. Insoweit mögen juristisch die Belastungen von D. gegen die Angeklagten den bisherigen Stand der Beweisaufnahme bestätigen, aber im Endergebnis würde wohl auch ohne seine Aussagen der gleiche Scheiß rauskommen.

Uns geht es um den politischen und auch medial wahrgenommenen Charakter des Prozesses und die „politischen“ Aussagen von D., seine Angaben zu seiner angeblichen Politisierung, seiner angeblichen Radikalisierung und so weiter. Von D. kommt zu allen Fragen des Gerichts hinsichtlich des Werdegangs eines auch ehemals militanten Antifaschisten ein ziemlich hohles Gestammel. Warum wir dem Staat und seinen Organen bei der Bekämpfung von Nazis nicht vertrauen, warum es nötig ist, sich zu organisieren, warum Nazis eine solche Bedrohung darstellen usw. sind Fragen, zu denen Antifaschist_innen umfangreich Stellung nehmen könnten. Hierzu kommt von D. allenfalls dummes Zeug. (...) Uns geht es um die Wirkung, die das Gestammel von D. hervorrufen kann. Wir haben die Befürchtung, dass politisch die Delegitimation von (militantem) Antifaschismus von diesem Prozess übrig bleiben könnte. Alle, außer die wenigen, die es besser wissen, bekommen lediglich die Aussagen von D. mit, denen bisher im Prozess nichts angemessenes entgegengesetzt wird. Und es ist ein Unterschied, ob jemand im Internet etwas dagegensetzt oder ob es eine direkte politische Konfrontation im Gerichtssaal zu den politischen Hintergründen gibt.

Politische Prozessführung gibt es in diesem Land – zumindest seinen westlichen Bestandteilen – spätestens seit der Revolte von 1968. Mal sind sie spektakulärer, mal nicht, mal werden sie von interessierter Öffentlichkeit begleitet und häufig nicht. Ein paar Verfahren halten wir für vergleichbar mit dem jetzigen in Dresden. Zum Beispiel den sogenannten „Mackenrode-Prozess“ in Göttingen im Jahr 1998. Im Oktober 1991 hatten Antifaschist_innen ein Neonazi-Schulungszentrum der FAP in Mackenrode militant angegriffen und einen Neonazi schwer verletzt. Die politische Staatsanwaltschaft zerrte fünf Genoss_innen vor das Landgericht Göttingen. Niemand von den Fünfen saß glücklicherweise auch nur einen Tag in Untersuchungshaft. Im Prozess sagten eine Reihe von Neonazi-Kader als Zeugen aus und bemühten sich redlich, mindestens einen Teil der Angeklagten zu belasten. Nach jeder Vernehmung eines Neonazi-Zeugen gaben die Angeklagten abwechselnd eine Erklärung zu den Neonazis ab. Wie deren politischer Werdegang war, wo sie sich an Angriffen auf Linke, Migrant*innen etc. beteiligt hatten, in welchen Strukturen sie organisiert waren, für welche barbarische Ideologie und welchen praktischen Terror die jeweilige Struktur stand etc. Über Bande sollte damit vermittelt werden, dass ein Sich-Wehren und auch ein Angriff auf solch gewalttätige Neonazis eine Berechtigung hat. Die GenossInnen kamen durch ihre offensiven Erklärungen ins selbstbestimmte Handeln und konnten eine Stärke in der grundsätzlich unangenehmen Prozess-Situation gewinnen. In diesem Beispiel zeigte sich, dass auch der Gerichtsaal ein politisches Terrain für linke Angeklagte sein konnte.

Ein anderes – nicht so tolles – Beispiel stellt der „RZ-Prozess“ in Berlin Anfang der 2000er Jahre dar. Die Verfahrenslage ähnelt dem aktuellen Prozess in Dresden. Beim RZ-Verfahren war allerdings von vornherein klar, dass es einen „Kronzeugen“ gab. An diesem hing alles, andere Beweise gegen die Angeklagten existierten quasi nicht. Die damaligen Angeklagten setzten den Aussagen nichts eigenes entgegen, sondern verließen sich auf eine juristische Verteidigung. (...) In einem weiteren „RZ-Prozess“ in Frankfurt zur gleichen Zeit versuchte ein „Kronzeuge“ ehemalige RZ-Miglieder schwer zu belasten. Der Versuch scheiterte sowohl juristisch wie politisch. Dies lag daran, dass ein anderes früheres RZ-Mitglied auf Antrag der Verteidigung bereit war, über RZ-Strukturen der 1970er Jahre geschickt auszusagen, ohne dabei Schaden für Beschuldigte oder andere Strukturen anzurichten. So war es möglich die Denunziationen zu widerlegen. (...)

Der politische Angriff ging damals und auch heute weit über die Angeklagten hinaus. Er gilt einer ganzen politischen Bewegung, damals den ProtagonistInnen sowohl des bewaffneten Kampfes als auch der militanten Aktionen und ihren Unterstützer*innen. Heute wird auf die gesamte antifaschistische Bewegung gezielt und speziell auf den militanten Flügel derselben. Die Solidaritätsgruppe versucht sehr engagiert, diese Angriffe – die durch die Kriminalisierung lange vor den Aussagen von D. begannen – zurückzuweisen und vertritt explizit politische antifaschistische Inhalte. Dies geschieht in Pressemitteilungen, auf den regelmäßigen Kundgebungen, aber leider im wesentlichen im Netz. (...) Dabei wird in der bürgerlichen Presse relativ häufig über den Prozess berichtet – aber Journalist*innen berichten nun mal in erster Linie darüber, was im Gerichtssaal geschieht.

Wenn nicht versucht werden sollte, den Aussagen von D. – und zwar im Prozess – etwas entgegenzusetzen, dann sehen wir die Gefahr, dass die angeklagten Genoss_innen nicht nur verurteilt werden, sondern die BAW mit ihrem Versuch durchkommt, antifaschistischen Widerstand zu diskreditieren und zu denunzieren. Dann würde im schlimmsten Fall in der Öffentlichkeit übrig bleiben, dass politisch nicht so bewusste Menschen ein paar Neonazis zusammengeschlagen haben. Warum und wieso? Weiß mensch halt leider nicht.

Was könnte denn D. und seinen Aussagen entgegengesetzt werden? Eventuell politische Erklärungen der Angeklagten z.B. dazu, warum antifaschistische Selbstorganisierung in diesem Land unabdingbar ist und warum mensch sich nicht auf staatliche Behörden im Kampf gegen rechts verlassen kann. Dazu könnte einiges gesagt werden, ohne dass es zu offensiv wird. Vielleicht würde es den Angeklagten auch danach und dadurch etwas besser gehen, wenn sie zumindest versuchen dem politischen Angriff etwas entgegenzusetzen.

Eine andere Perspektive auf Antifaschismus in die Berichterstattung zu bekommen, würde nicht leicht und kein Automatismus sein, aber es bestünde eben eine Chance darauf, wenn Angeklagte politische Erklärungen abgeben würden. Wohl gemerkt: wir haben von den Angeklagten nichts zu fordern. Sie sitzen dort zwar lediglich zu viert vor dem Staatsschutzsenat, aber gemeint sind wir alle und der politische Angriff gilt auch uns allen. Wir verstehen auch, wenn in einer solchen Situation nicht der militanten Widerstand legitimiert und offensiv davon gesprochen wird, dass es gut und richtig ist, Neonazis militant anzugreifen. Aber auch unterhalb dieser Schwelle könnte – und wir sind der Meinung sollte – versucht werden, dem Kalkül der BAW zu begegnen.

Nachtrag:

Wie in einer "Erklärung zum Zeugen Domhöver vom 23.11.2022" auf www.soli-antifa-ost.org berichtet wurde, fand am 78. Verhandlungstag im "Antifa Ost-Verfahren" die Vernehmung des "Kronzeugen" Domhöver endlich ein Ende. Über zwölf Verhandlungstermine hinweg mussten sich die Angeklagten, deren Verteidiger*innen und die solidarische Begleitung im Gericht seine Darstellungen anhören. Mit seinen Aussagen zur Motivation für antifaschistische Arbeit entstand für die Angeklagten die Notwendigkeit, seine zweifelhafte Auffassung zu korrigieren – entsprechend ihrer eigenen Haltung. Dies sollte heute in Form einer gemeinsam formulierten und dem Gericht von einem der Angeklagten vorgetragenen Erklärung nach § 257 StPO passieren. Der Vorsitzende Richter hat den Angeklagten dabei mehrfach unterbrochen und ihm schließlich das Wort entzogen. Nach zwei Absätzen zu rechter Hegemonie und Gewalt in Ostdeutschland war er der Auffassung, dass sich die Erklärung nicht auf die Aussagen von Domhöver beziehen würde und daher prozessual unzulässig sei. Sein zynisches Angebot, er selbst könne einen Blick über den Text werfen, um danach zu entscheiden, ob der Text ein „politisches Statement“ und damit in seinen Augen nach § 257 unzulässig sei, schlugen alle Angeklagten selbstredend aus. Stattdessen insistierte die Verteidigung darauf, dass die bisherigen Ausführungen durchaus von § 257 umfasst seien. Insbesondere, da die Besprechung von antifaschistischer Politik zentraler Gegenstand in Domhövers Rolle als Zeuge war und ihm damit gewissermaßen ein Expertenstatus zugesprochen wurde – was mit dem Voranschreiten seiner Aussage mehr und mehr zu einer Farce verkam.

Die Erklärung findet sich im Originaltext unter:

https://www.soli-antifa-ost.org/erklaerung-zum-zeugen-domhoever-vom-23-…