§ 129 StGB – so kennen wir das noch nicht
Einar Aufurth und Lukas Theune (Gastbeitrag)Der § 129 des Strafgesetzbuches ist in linken Kreisen berühmt-berüchtigt, weil er wie kein anderer Paragraf eines Gesetzes politische Repression verkörpert. Lange Zeit war die Strafnorm der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vor allem als sogenannter Schnüffelparagraf allgegenwärtig.
Ob Antifas aus Dresden, Berlin oder Baden-Württemberg, der § 129 StGB eröffnete den Landeskriminalämtern von jeher vielfältige Ermittlungsbefugnisse. Es war daher üblich, unter Berufung auf einen Verdacht einer kriminellen Vereinigung ermittlungsrichterliche Beschlüsse zur Observation, zum Abhören, für stille SMS und den Einsatz von IMSI-Catchern zu erlangen - Ermittlungsmaßnahmen, die etwa bei Ermittlungen nur wegen Körperverletzungsdelikten nicht zulässig sind.
Allerdings wurden nach Abschluss oft jahrelanger Ermittlungen die Verfahren oft sang- und klanglos wieder eingestellt. Zu Verurteilungen nach § 129 StGB kam es kaum.
Erweiterung des Vereinigungsbegriffs
Vor einigen Jahren wurde das Gesetz geändert und die Strafbarkeit nach § 129 StGB ausgeweitet. Eine Vereinigung ist nach der 2017 eingeführten Legaldefinition ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten Interesses. Sofern Zweck oder Tätigkeit der Vereinigung auf die Begehung von Straftaten (die im Höchstmaß mit mindestens 2 Jahren Freiheitsstrafe verfolgt werden) gerichtet ist, wird die Mitgliedschaft gemäß § 129 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StGB mit bis zu 5 Jahren Freiheitsstrafe bestraft.
Die Regelungen dienen der Umsetzung des Europäischen Rahmenbeschlusses 2008/841/JI vom 24. Oktober 2008 des Rates zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität1 , der – eigentlich - bis zum 11. Mai 2010 umzusetzen war. Da der Begriff der Vereinigung, wie ihn die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) in der Vergangenheit entwickelte, enger ist als die Definition der Vereinigung in Art. 1 des Europäischen Rahmenbeschlusses (2008/841/JI), wurde die Vorschrift mit Wirkung vom 22. Juli 2017 durch das 54. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs2 vom 17. Juli 20173 geändert.
Dabei hatte der Gesetzgeber in der Begründung die Problematik des § 129 StGB erkannt und beschrieben: „Durch die Absenkung der Anforderungen an die Organisationsstruktur wird der Anwendungsbereich des § 129 StGB nicht unerheblich ausgeweitet. Bei § 129 StGB handelt es sich um einen Straftatbestand im Vorfeld der Rechtsgutsverletzung. Unter Strafe gestellt wird die Gründung und Beteiligung an einer Vereinigung mit dem Ziel, Straftaten zu begehen. Die Straftaten müssen weder vorbereitet noch konkret geplant sein, sie müssen lediglich ihrer Art nach soweit konkretisiert sein, dass eine Ausrichtung der Vereinigung auf die Begehung von Straftaten eindeutig ist. Durch eine Erweiterung des Vereinigungsbegriffs werden sich zwangsläufig der Anwendungsbereich der Vorschrift und damit die Strafbarkeit im Vorfeld des Versuchs einer Straftat ausdehnen.“4
Zwar hatte der Europäische Rahmengesetzgeber vorgeschlagen, diese Ausweitung der Vorfeldstrafbarkeit auf solche Gruppen zu beschränken, denen es bei der Begehung von Straftaten um einen gemeinsamen wirtschaftlichen Vorteil geht. Dem folgte der deutsche Gesetzgeber aber nicht. Vielmehr ließ er ein „übergeordnetes gemeinsames Interesse“ genügen und bewahrte so die Möglichkeit, den § 129 weiterhin auch auf politische Zusammenhänge anzuwenden, weil hier ein solches „übergeordnetes gemeinsames Interesse“ eigentlich immer gegeben ist. Einschränkend sollte einerseits die Schwere der „Bezugstaten“ sein (sodass etwa eine Gruppe, die sich zum gemeinsamen Häuser besetzen zusammentut, dem Tatbestand nicht unterfällt, weil der Hausfriedensbruch nur mit maximal 1 Jahr Freiheitsstrafe bedroht ist). Andererseits sollte die vom BGH entwickelte Einschränkung, dass die geplanten oder begangenen Straftaten eine „erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten und unter diesem Gesichtspunkt von einigem Gewicht sein müssen“, fortgelten.
Testballon des GBA
Das Verfahren gegen Lina E. und drei weitere Personen war nunmehr das erste Verfahren gegen linke Strukturen, in dem die Bundesanwaltschaft den so ausgeweiteten Straftatbestand angewendet wissen wollte. Dabei war der Teil der Ermittlungsakte, der den sog. Strukturermittlungen diente, lange gänzlich leer geblieben.
Zwar gab es Ermittlungen und auch Anhaltspunkte zu einzelnen konkreten Straftaten etwa in Eisenach, Leipzig oder in Wurzen. Dabei fiel relativ früh nach Übernahme der Ermittlungen durch den Generalbundesanwalt (GBA) ins Auge, dass die Beschuldigtenzusammensetzungen bei den einzelnen vorgeworfenen Straftaten wechselten. Waren zu Beginn in dem Verfahren neun Personen einschließlich des späteren Kronzeugen Johannes Domhöver beschuldigt, entschied sich der GBA aus nicht weiter erläuterten Gründen zu einer Auswahl von vier Personen, die zum Oberlandesgericht (OLG) Dresden angeklagt wurden, während er das Verfahren gegen weitere Beschuldigte wegen minderer Bedeutung an lokale Staatsanwaltschaften abgab bzw. selbst weiterführte.
Einer der vier Angeklagten erlangte die zweifelhafte Ehre, vom GBA gleich der Mitgliedschaft in zwei verschiedenen „kriminellen Vereinigungen“ verdächtigt zu werden, was jedenfalls dann einer rechtlichen Erklärung bedürfte, wenn man am hergebrachten „engen“ Vereinigungsbegriff festhielte.
Insofern kann das „Antifa Ost-Verfahren“ durchaus als Testballon des GBA betrachtet werden: Wie wenig an Erkenntnissen zu einer festen Gruppe bedarf es, um den Tatbestand des § 129 StGB zu verurteilen? Über die rund anderthalb Jahre, die das Hauptverfahren dann vor dem OLG Dresden lief, erschien es durchaus unklar, ob das Gericht diesen auf die Spitze getriebenen Begriff der Vereinigung - ohne Gründung, ohne Hierarchie und ohne feste Mitglieder – mittragen würde.
Letztlich scheint das Gericht durchaus dankbar den Angaben des Kronzeugen Domhöver gefolgt zu sein, der im Verfahren immerhin angegeben hatte, es habe in Leipzig regelmäßige Kampfsport- bzw. „Szenariotrainings“ gegeben, in denen die Überfälle auf Neonazis geübt worden seien. So hatte der eigenwillige Vorsitzende in seiner mündlichen Urteilsbegründung letztlich wenigstens etwas an Substanz hinsichtlich des Vorwurfs darstellen können, die Angeklagten hätten eine feste, auf die Begehung von Straftaten ausgerichtete Gruppierung gebildet.
Eine zuverlässige Aussage darüber, welche Anforderungen das Gericht für die Mitgliedschaft bzw. für die Unterstützung einer Vereinigung nach der neuen Gesetzeslage stellt, wird erst dann möglich sein, wenn die schriftlichen Urteilsgründe vorliegen. Das wird voraussichtlich im November 2023 der Fall sein und soll dann im zweiten Teil des Artikels behandelt werden.
Kein Ende abzusehen
Das Strukturverfahren gegen die beschuldigten Antifas selbst wird sich in den nächsten Jahren nicht so schnell erledigt haben. In dem Verfahren gegen Lina E. und die anderen drei läuft die Revision. Aber auch gegen andere Personen wird in demselben Komplex weiter ermittelt. Zuletzt kam es noch zu Verschränkungen mit dem EU-Partner Ungarn, wo in Budapest Ermittlungen zum Teil gegen deutsche Personen geführt werden, die am dortigen „Tag der Ehre“ Körperverletzungen begangen haben sollen, von den deutschen Polizeien aber zum Teil auch zum Komplex Lina E. gerechnet werden. Es ist anzunehmen, dass auch der § 129 StGB bei diesen Ermittlungen weiter eine Rolle spielen wird, auch wenn etwa die Geraer Staatsanwaltschaft in dem an sie abgegebenen Verfahren gegen drei weitere Beschuldigte, gegen die die ursprünglichen Ermittlungen des GBA geführt wurden, diesen Vorwurf bereits eingestellt hat.
Dass GBA und lokale Staatsanwaltschaften Mittel, Wege und Paragrafen finden, um zu harten Urteilen gegen Linke zu gelangen, ist nichts Neues. Dass der bislang im gerichtlichen Hauptverfahren nur selten anzutreffende § 129 StGB hierfür – auch bei der Strafzumessung – wieder eine bedeutsame Rolle spielen kann, ist durchaus eine Veränderung.
Die Linke im Allgemeinen und Antifas im Speziellen sollten sich hiervon aber schon allein deshalb nicht einschüchtern lassen, weil es auch ohne den neuen § 129 politische Repression gegen linke und antifaschistische Zusammenhänge geben würde. Der Satz von Esther Bejarano beansprucht nach wie vor Geltung: „Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat überhaupt nicht verlassen.“
(Der Autor Dr. Lukas Theune ist Rechtsanwalt in Berlin und Geschäftsführer des "Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein e.V." (RAV). Der Autor Einar Aufurth ist Rechtsanwalt in Berlin und Verteidiger im "Antifa Ost-Verfahren".)
Eine detaillierte Bewertung der Anwendung des §129 StGB im SAO-Verfahren erscheint nach Vorliegen der schriftlichen Urteilsgründe in einer der folgenden Ausgaben des "Antifaschistischen Infoblattt" (AIB).