NSU-Aufklärung in Nord und Süd?
Caro Keller (NSU-Watch)Immer dann, wenn rechter Terror nicht vor Gericht landet oder juristisch nur unzureichend aufgearbeitet wird, wird seit der Selbstenttarnung des NSU oft der Ruf nach Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (PUA) laut. In den ersten Jahren nach November 2011 hatte sich die parlamentarische Untersuchung des NSU-Komplexes als wirksames Instrument erwiesen. Gesellschaftlicher Druck und die entschlossene Arbeit vieler Abgeordneter sorgten für Aufklärung. Ohne diese Arbeit wüssten wir vieles, was wir heute über den NSU-Komplex wissen, nicht. In den PUA im Bundestag sowie in Thüringen und Sachsen wurden die Mittel, die ein Untersuchungsausschuss hat – wie in Gerichtsverfahren kann ein Untersuchungsausschuss Akten beiziehen, Zeug*innen laden und diese unter Wahrheitspflicht vernehmen – ausgeschöpft.
Im Jahr 2022 soll rechter Terror in Ausschüssen zum rassistischen Anschlag in Hanau, zum Mord an Walter Lübcke und zum Neukölln-Komplex untersucht werden. Zum NSU-Komplex arbeiten momentan zwei Untersuchungsausschüsse, in Bayern und in Mecklenburg-Vorpommern. Diese Untersuchungsausschüsse mussten zum Teil erst hart erkämpft werden: Durch Betroffene, Angehörige und Antifaschist*innen. Es geht dabei nicht nur um staatliche Aufklärung, sondern auch um staatliche Anerkennung, von rechtem Terror oder Betroffenheit beispielsweise. Klar war immer, dass die staatliche Bearbeitung des NSU-Komplexes – ob parlamentarisch oder durch die Justiz – nicht für eine vollständige Aufklärung wird sorgen können. In den letzten Jahren zeigte sich aber verstärkt, dass ein PUA an sich noch nicht einmal einen relevanten Zugewinn an Aufklärung bringt, sondern dass es auf den Aufklärungswillen von Abgeordneten ankommt und auf ihre entschiedene Haltung beim Umgang mit Behörden, die Akten nicht liefern, und mit Zeug*innen, die sich nicht erinnern wollen.
Beim Blick auf die jüngste Vergangenheit müssen wir feststellen: Wirklich gut arbeitende Untersuchungsausschüsse gibt es elf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU schon lange nicht mehr, neue Puzzleteile zum NSU-Komplex lassen sich dennoch finden. Schauen wir auf die Arbeit der Untersuchungsausschüsse in den Landtagen von Bayern und Mecklenburg-Vorpommern.
Rechte Netzwerke im Fokus: Der 2. NSU / Rechter Terror-Untersuchungsausschuss Mecklenburg-Vorpommern
Seit dem Sommer 2022 tagt der 2. NSU / Rechter Terror-Untersuchungsausschuss im Landtag in Schwerin öffentlich. Unkompliziert wurde er unter rot-roter Regierung im letzten Jahr eingesetzt. Der SPD-Innenminister verkündete, wie sehr er und die ihm unterstellten Behörden sich auf die Aufklärung freuten. Diese geht nun aber so weiter, wie sie im ersten NSU-Untersuchungsausschuss endete: Schleppend. Dabei ist der Plan des Gremiums ambitioniert und verlangt nach Tempo, auch wenn formal bis 2026 Zeit ist – dann endet die aktuelle Legislaturperiode. Zunächst geht es natürlich weiterhin um den NSU-Komplex und hier um die Taten in Mecklenburg-Vorpommern, also den Mord an Mehmet Turgut in Rostock am 25. Februar 2004, die beiden Banküberfälle des NSU in Stralsund am 7. November 2006 und 18. Januar 2007 und das unterstützende Neonazi-Netzwerk. Danach soll das immer noch aktive Nordkreuz-Netzwerk in den Blick genommen werden. Auch weitere rechte Netzwerke stehen auf der To-Do-Liste im Nordosten.
In den ersten Sitzungen im Schweriner Schloss lag der Schwerpunkt auf den Ermittlungen zum NSU-Komplex in den Monaten nach der Selbstenttarnung. Da die meisten geladenen Zeug*innen zum ersten Mal vor einem Aufklärungsgremium aussagten, gab es hier trotz nicht gerade nachdrücklicher Befragungen durch die Abgeordneten einige neue Erkenntnisse zu gewinnen. Diese werfen auch ein Licht darauf, warum die Aufklärung des NSU-Komplexes insgesamt auf dem bekannten prekären Stand ist. Den größten Raum nahm in Mecklenburg-Vorpommern offenbar eine größere Datenbank-Abfrage unter anderem mit den vom GBA gelieferten Namenslisten ein. Häufig beschränkte sich die Arbeit auch auf diese Abfrage. Stellte man beispielsweise einen Treffer im System fest, war die Person aber inzwischen in ein anderes Bundesland verzogen, fühlte man sich in Mecklenburg-Vorpommern nicht mehr zuständig. In der landeseigenen Neonazi-Szene ermitteln? Vielleicht gar rechte Netzwerke aufdecken? Fehlanzeige.
Eine tiefergehende Kenntnis über die extreme Rechte in Mecklenburg-Vorpommern oder über rechten Terror waren keine Voraussetzungen für die Ermittler*innen, die in die extra eingesetzte Besondere Aufbau-Organisation (BAO) Trio M-V des LKA Mecklenburg-Vorpommern eingeteilt wurden. Der Leiter des „Ermittlungsabschnitts Folgemaßnahmen“, der Ermittlungsaufträge, die sich aus ursprünglichen Aufträgen ergaben, weiter bearbeiten sollte, gab am 21. November 2022 vor dem Untersuchungsausschuss an, er kenne „Blood & Honour“ zwar, diese Organisation sei aber seit dem Jahr 2000 verboten. Auch die Auswertung der Ausgabe 18 des Neonazi-Fanzines „Der Weisse Wolf“, in deren Editorial im antifaschistischen Pressearchiv apabiz ein „Gruß an den NSU“ gefunden wurde, war mehr als dürftig. Ein Ermittler des „Ermittungsabschnitts Auswertung“ sollte diese Ausgabe nach Bezügen zum NSU und nach Mecklenburg-Vorpommern untersuchen. Was er fand, waren folgende dürre Informationen: Das Kürzel NSU fand er einmal im Editorial. Außerdem: „Bezüge zu Mecklenburg-Vorpommern gab es nur an sehr wenigen Stellen.“ Dies seien Adressen von anderen Fanzines in Mecklenburg-Vorpommern und die postalische Anschrift des „Der Weisse Wolf“. Es sei anzunehmen, so der Ermittler, dass „Der Weisse Wolf“ und das Fanzine „Freya“ verbunden seien, weil es so im Heft stehe. David Petereit aus Mecklenburg-Vorpommern sei der Herausgeber gewesen. Mehr als diese Nichtigkeiten konnte der Ermittler dem Ausschuss am 29. August 2022 nicht mitteilen. Die Inhalte der Artikel im Fanzine schienen für ihn keinerlei Rolle gespielt zu haben. Symptomatisch für die Ermittlungen in Mecklenburg-Vorpommern.
Too little, too late: Der 2. Bayerische NSU-Untersuchungsausschuss
Neben diesen detaillierten Einblicken, wie sie in Mecklenburg-Vorpommern zu gewinnen sind, gibt es zwei sehr einfache Schlüsse aus dem NSU-Komplex: Die meisten Betroffenen wurden aus rassistischen Gründen von den Neonazis angegriffen und ermordet. Und: In den Ermittlungen spielten Neonazis kaum eine Rolle, dafür wurden die Betroffenen von Polizei, Medien und Gesellschaft zu Täter*innen gemacht. Dies zu verstehen, heißt auch, das eigene, heutige Verhalten den Betroffenen gegenüber zu reflektieren. Im bayerischen Untersuchungsausschuss ist das offensichtlich unterblieben. Am 24. Oktober war Mehmet O. als Zeuge in den bayerischen Landtag geladen. Mehmet O. ist Überlebender des ersten bekannten Anschlags des NSU 1999 auf die Pilsbar "Sonnenschein" in Nürnberg. Der Anschlag wurde erst durch die Aussage von Carsten Sch. im NSU-Prozess und anschließende journalistische Recherchen bekannt. Er wurde nicht in die Anklageschrift aufgenommen, Mehmet O. nicht als Nebenkläger anerkannt. Mehmet O. forderte lange einen 2. Bayerischen Untersuchungsausschuss, auch weil er hier eine Chance auf Aufklärung und Anerkennung sah.
Bis zum 24. Oktober 2022 waren die Abgeordneten in Bayern nicht durch ihre nachdrückliche Fragetechnik bekannt geworden. Der Ausschussvorsitzende, Toni Schuberl von den Grünen, und der Abgeordnete Matthias Fischbach von der FDP befragten den Zeugen aber unempathisch, konfrontativ und aggressiv. Als Beobachter*in bekam man einen Eindruck davon, wie die von Täter-Opfer-Umkehr geprägten Befragungen des Überlebenden durch die Polizei nach dem Anschlag ausgesehen haben müssen.
Dass den Abgeordneten jeglicher antifaschistischer ‚Kompass‘ fehlt, zeigte sich auch, als der Ausschuss Tino Brandt vorlud, den früher im bayerischen Coburg wohnhaften Neonazi und V-Mann. Brandt hatte den „Thüringer Heimatschutz“ (THS) (mit)gegründet, maßgeblich radikalisiert und zum abgetauchten NSU-Kerntrio Kontakt gehalten. Brandt wurde im PUA mehrfach nicht als Zeuge angesprochen, sondern allen Ernstes als Rechtsextremismus-Experte um Einschätzungen gebeten: „Nicht im Sinne eines Zeugen, sondern im Sinne eines Sachverständigen aus der Szene: Da Sie die Personen ja alle kennen, waren das drei Personen oder waren es mehr?“ hieß es da beispielsweise. Auch nachdem Brandt die Morde des NSU leugnete („Ich glaube da nicht so richtig dran, weiß nicht, was da alles so gedreht worden ist“), hörte das nicht auf. Der Grünen-Abgeordnete Cemal Bozoglu: „Aus Ihrer Sachkenntnis zur Szene: wie sehen Sie die Partei ‚Der dritte Weg‘?“. Der SPD-Abgeordnete Arif Taşdelen fragte Brandt gar zu den Todesumständen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt – ohne dass dieser hierzu über privilegiertes Wissen verfügen würde. Wenig überraschend hängt auch Tino Brandt der – vor allem durch die Arbeit des NSU-PUA in Thüringen – längst widerlegten Erzählung an, dass Mundlos und Böhnhardt sich nicht selbst getötet hätten: „Ich würde nicht sagen, dass der Selbstmord ein Selbstmord gewesen wäre“. Taşdelen bedankte sich bei Brandt und verkündete dessen Privatmeinung prompt fasziniert auf Twitter, als handele es sich um einen großartigen Durchbruch bei den Aufklärungsbemühungen.
Dagegen fragten die Abgeordneten kaum oder nur wenig sinnvoll nach, als Brandt Themen ansprach, die Erkenntnisse zum Netzwerk des NSU in Bayern liefern könnten. Etwa, als Brandt von der „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“ (GdNF), dem „Nationalen Block“ (NB) in Niederbayern, der Zeitschrift „Junges Franken“, von Peter Dehoust oder von der Münchner Neonaziszene um Bela Ewald Althans erzählte. Wenn ein Ausschuss sich entschließt, Neonazis als Zeug*innen zu laden, müssten die Abgeordneten wissen, wen sie vor sich haben und sich mit der extremen Rechten auskennen. Diese Voraussetzungen fehlen im 2. NSU-Untersuchungsausschuss in Bayern bisher.
Wo ist der Aufklärungswille?
Dass die Untersuchungsausschüsse in Nord und Süd überhaupt Erkenntnisse generieren – in Bayern wurden beispielsweise bisher nicht bekannte umfangreiche Aktenschreddereien öffentlich – liegt vor allem daran, dass dort wo viel aufzuklären ist, fast automatisch neues Wissen anfällt. Das allein kann ein Grund sein, die Aufklärung des NSU-Komplexes hier und auch in anderen Bundesländern voranzutreiben. Hamburg ist weiterhin das einzige Bundesland, in dem der NSU mordete, wo ein PUA bisher komplett verhindert wurde.
Gleichzeitig zeigen Mecklenburg-Vorpommern und Bayern die Verantwortung der Abgeordneten in Untersuchungsausschüssen auf, sich mit dem NSU-Komplex und rechtem Terror auseinander zu setzen. Die Abgeordneten haben die Verantwortung, Akten auch gegen Widerstände in den Behörden einzufordern, sie zu lesen und das darin enthaltene Wissen einordnen zu können. Sie müssen lernen, wie Zeug*innenbefragungen funktionieren, und sich auch gegen Behördenvertreter*innen im Zeug*innenstand durchsetzen. Nicht die elf Jahre, die seit der Selbstenttarnung des NSU vergangen sind, erschweren die Aufklärung, sondern mangelnde Vorbereitung und mangelnder Aufklärungswille.