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Aus der Zwischenwelt – Ein Leben auf der Flucht vor dem deutschen Staat

Einleitung

26 Jahre lang war Bernd Heidbreder nach einem missglückten Anschlag auf einen im Bau befindlichen Abschiebeknast in Berlin-Grünau auf der Flucht vor den deutschen Ermittlungsbehörden, bis er 2021 im venezolanischen Exil an einer Krebserkrankung starb. In diesem posthum erschienenen Erinnerungsband lässt er uns an seiner Geschichte teilhaben.

Zwischenwelt

Die autobiographischen Kapitel wechseln sich ab mit kurzen fantastischen ­Episoden aus der „Zwischenwelt“, in der die Toten auf den Fährmann Charon warten, der sie über den Fluss ins Reich der Toten übersetzt. Bernd hat allerdings keine Goldmünze dabei, um den Fährmann zu bezahlen, und so wandelt er durch die Zwischenwelt, in der die Habenichtse sich mit ihrem dortigen Verbleiben abgefunden haben oder nach einem Weg suchen, doch noch über den Fluss zu kommen. Hier hat er spannende und lehrreiche Begegnungen, zum Beispiel mit der sowjetischen Revolutionärin Alexandra Kollontai oder dem anarchistischen Theoretiker Murray Bookchin. Lakonisch und fast heiter philosophiert Bernd im Angesicht seines nahenden Todes mit seinen neuen Bekanntschaften über das Leben, den Tod und die Möglichkeit von gesellschaftlicher Befreiung.

Nach Kindheit und Jugend in einer „kleingestrickten Arbeiterfamilie“, einer auf familiären Druck hin aufgenommenen und aus Frust bald wieder abgebrochenen Ausbildung bei der Polizei und dem finanziellen Schiffbruch als Betreiber einer Grufti­kneipe in Köln nimmt sein Leben erst so richtig Fahrt auf, als er mit Anfang 20 nach Westberlin zieht. Hier kommt er schnell mit der Mitte der 1980er Jahre noch sehr dynamischen und anarchischen linken Szene in Berührung. Eine Bleibe muss er nicht lange suchen, seine Kumpan*innen und er brechen einfach ein paar leerstehende Wohnungen in einem Kreuzberger Altbau auf. Geld und Karriere spielen keine große Rolle in ihrem Leben. Als Sozialhilfeempfänger mit kleinkriminellem Nebenerwerb kommt man damals ziemlich gut über die Runden.

Bald merkt er, dass seine Mitbewohnerin und Mentorin Hanna (mit der er später eine Liebesbeziehung haben wird), fest in autonomen Strukturen verankert ist. Er findet Gefallen an der Kollektivität seines neuen Freund*innenkreises, am Nervenkitzel und der immer professioneller werdenden Militanz. Nebenbei lernt man bei der Lektüre einiges über die Berliner Bewegungsgeschichte der Achtziger: Vom IWF-Treffen 1988 über Randale am 1. Mai oder beim Reagan-Besuch lassen Bernd und seine Freund*innen wenig aus.

Schon eine ganze Weile vor der Wende konzentrieren sie sich auf autonome Antifaarbeit und lernen darüber sowohl türkische und kurdische Jugendliche aus ihrem Bezirk kennen, als auch ähnlich tickende Autonome aus Westdeutschland. Es ist eindrucksvoll zu lesen, mit welcher Vorsicht und Ernsthaftigkeit sie ihre militante Politik betreiben und wie lustvoll und intensiv diese Erfahrungen zugleich sind.

Repression spielt fast permanent eine Rolle. Ständig müssen sie auf der Hut vor etwaigen Observationstrupps der Polizei sein. 1989 wird Hanna schließlich beim Angriff auf einen Sexshop festgenommen und landet für viele Monate in Untersuchungshaft.

Der Mauerfall in diesem Jahr bedeutet für sie wie für alle Linken eine harte Zäsur. Anfangs freuen sie sich, merken allerdings sehr schnell, was der entfesselte deutsche Nationalismus auf der Straße anrichtet. Notgedrungen fangen sie an Kampfsport zu trainieren und fahren ständig zu „Feuerwehreinsätzen“ in den Osten, um Neonaziangriffe abzuwehren. Eine sehr aufreibende Zeit, in der es ihnen schon abwegig erscheint, mal ein paar Tage zu zweit in den Urlaub zu fahren.

Schließlich trennt sich Bernds Aktionszusammenhang, die Frauen gründen eine militante Frauengruppe. Mit ein, zwei übriggebliebenen Freunden macht Bernd weiter. Die Solidarität mit dem kurdischen Befreiungskampf und antirassistische und antimilitaristische Themen bestimmen zunehmend die Ziele ihrer Anschläge, die immer heftiger werden – wobei sie jedoch immer ausschließen, dass Menschen verletzt oder gar getötet werden. Bald kommt auch Sprengstoff zum Einsatz. Der Schritt zum bewaffneten Kampf ist für Bernd und seine Mitstreiter*innen jedoch nie eine Option. Mit dem missglückten Anschlag in Berlin-Grünau 1995 endet das Buch dann abrupt. Die im Untertitel genannte Flucht vor dem deutschen Staat, so Bernd am Ende des Buches, „ist eine andere Geschichte“.

Am Ende der knapp 250 Seiten angekommen, ist man traurig über den frühen Tod des Autors, aber vor allem dankbar, dass er seine Geschichte aufgeschrieben hat.

Bernd Heidbreder

Aus der Zwischenwelt

Ein Leben auf der Flucht vor dem 

deutschen Staat

ISBN: 978-3-89771-188-4

Unrast Verlag, Münster 2023, 18 €