Europäische Migrationspolitik: Griechische Zustände
Nora Neumann (Gastbeitrag)Während in der Ägäis die Seenotrettung kriminalisiert wird, bringen die griechische Küstenwache (HCG Hellenic Coast Guard) und die griechische Polizei täglich Geflüchtete mit Gewalt zurück auf türkisches Hoheitsgebiet. Selbst Geflüchtete, die bereits eine Insel erreicht haben, werden auf Seenotinseln zurück in türkische Gewässer geschleppt. Dabei werden Tote in Kauf genommen. Die griechische Regierung leugnet Menschenrechtsverletzungen. Europäische Institutionen schweigen zu den gut dokumentierten Vorwürfen dieser an der griechischen Außengrenze gängigen Praktiken – und unterstützten Griechenland durch großzügige Geldzahlungen und lobende Worte.
Im September 2014 eröffnet die HCG das Feuer auf ein Boot voller Geflüchteter in der Bucht von Pserimos. Die 13 Schüsse treffen zwei Syrer, einen in den Kopf, einen in die Schulter. Belal Tello stirbt ein Jahr später aufgrund seiner Verletzungen, das zweite Opfer überlebt mit dauerhafter Behinderung. Das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wird schnell eingestellt, ohne die Opfer zu befragen oder gerichtsmedizinische und ballistische Gutachten einzuholen. Nicht die Schützen seien schuld, sondern die Fahrer des fliehenden Bootes.
Im Januar 2024, fast zehn Jahre nach der Tat, gibt der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) der Familie des Getöteten Recht und verurteilt die unzureichende Untersuchung, das Verschwinden von Beweisen und das Fehlen klarer rechtlicher Richtlinien für den Gebrauch von Schusswaffen durch die HCG. Auch wegen des Todes von elf Geflüchteten vor der Insel Farmakonisi während eines Pushbacks im Januar 2014 wurde Griechenland, bereits im Juli 2022, vom EGMR verurteilt. Auch hier wurde die mangelnde Aufklärung und das Vertuschen von Straftaten durch die griechische Justiz bemängelt.
Der Grundrechtsbeauftragte von Frontex, Jonas Grimheden, bestätigt in einem Bericht, dass die HCG über 15 Stunden lang keine Rettungsmaßnahmen ergriff, als das Boot „Adriana” am 14. Juni 2023 vor der Stadt Pylos sank und über 600 Menschen ertranken. Frontex verlies sich lediglich darauf, dass die griechischen Behörden die erforderlichen Schritte einleiten, anstatt selbst einen Mayday Ruf abzusetzen. Nun steht die Einstellung von Zahlungen an Griechenland und ein möglicher Rückzug von Frontex aus Griechenland im Raum.
Beide Maßnahmen werden schon lange von NGOs gefordert aber sicherlich auch nach diesem Desaster nicht in die Tat umgesetzt werden, da der Grundrechtsbeauftragte von Frontex lediglich Empfehlungen aussprechen kann. Der neue Direktor von Frontex, Hans Leijtens, erklärte lapidar, die Rettung von Menschen gehöre nicht zum Mandat von Frontex.
Frontex ist abhängig von den nationalen Behörden, da weisungsgebunden und nur „unterstützend“ tätig. Im Falle Griechenlands ist klar, dass die Pushback-Politik und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind und verschleiert werden. Frontex Beamt*innen, darunter auch deutsche Grenzschützer*innen, machen sich hier zu Kompliz*innen, da sie keine oder lückenhafte „Serious Incident Reports“ (SIRs) schreiben, welche bei Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen eigentlich Pflicht sind. Dies führt dazu, dass Frontex sich fortlaufend darauf beruft, keine SIRs in der Datenbank gefunden zu haben und daher auch nicht von Menschenrechtsverletzungen ausgegangen werden kann. Sollte sich dennoch ein SIR ins Frontex-System einschleichen, führt dies nicht zu Konsequenzen, weder für die Frontex-Mitarbeitenden, die sich mit den griechischen Praktiken gemein machen, noch für griechische Behörden.
Griechenland europaweit
Während in Griechenland das staatlich sanktionierte und EU-geförderte Sterben weitergeht, verkündete die EU feierlich die Reform des “Gemeinsamen Europäischen Asylsystems” (GEAS). Eine über zehn Jahre verhandelte massive Verschlechterung für Geflüchtete wird somit Realität. Die „Fiktion der Nichteinreise” wird in europäisches Recht gemeißelt, ebenso das Konzept der „sicheren Drittstaaten”. Beides wird seit spätestens 2016 genutzt, um das griechische Asylsystem zu unterwandern.
Fortan sollen Asylanträge von Menschen aus Ländern mit einer EU-weiten Anerkennungsquote von unter 20 Prozent in Lagern an den Außengrenzen geprüft werden. Auch Familien mit Kindern sollen in diese „Auffanglager” kommen. Abgelehnte Asylsuchende können einfacher in „sichere Drittstaaten” abgeschoben werden – auch in Teilgebiete von Staaten, die ansonsten als unsicher gelten. Hierzu gibt es keine EU-weiten Vorgaben, jedes Land darf eigenständig einordnen, welche Länder als sichere Drittstaaten gelten. Im Falle von Krisen, höherer Gewalt oder „Instrumentalisierung“ kann die EU-Kommission auf Antrag eines Mitgliedsstaates Ausnahmen von den gültigen Regeln des GEAS gestatten. Der Weg ist somit frei für rechtlich abgesicherte Willkür, Abschreckung und Inhaftierung von Geflüchteten an Europas Grenzzäunen.
Im Elendslager Moria auf der Insel Lesbos waren bis zu 20.000 Menschen hinter Stacheldraht eingepfercht, bis es 2020 abbrannte. Nun wird in Vastria auf Lesbos ein „Closed Controlled Access Centre“ (CCAC) gebaut, in dem die neuen „Grenzverfahren“ des GEAS abgewickelt werden sollen. Dieses brandneue Lager ist von einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben, liegt mitten in einem Wald und ist viele Kilometer vom nächsten bewohnten Ort entfernt. Die Geflüchteten, darunter auch Familien mit Kindern, sollen so unsichtbar gemacht werden. Unabhängige Kontrolle und Überwachung wird nahezu unmöglich und die Geflüchteten sind den das Menschenrecht missachtenden griechischen Behörden schutzlos ausgeliefert. Das Lager ist zu 100 Prozent von der EU finanziert und dient als Blaupause für die neuen EU-Außenlager.
Diese abermalige Verschärfung des europäischen Asylrechts geht vielen noch nicht weit genug: So sollen laut einem Grundsatzprogramm der CDU vom Mai 2024 Geflüchtete nicht länger Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und dem europäischen Recht bekommen, sondern in einem Drittstaat ein Verfahren durchlaufen. Verläuft das Asylverfahren positiv, gewährt der Drittstaat vor Ort Schutz. Dieses „Ruanda-Modell“ ist an das viel kritisierte Gesetz in Großbritannien, welches Abschiebungen nach Ruanda vorsieht, angelehnt. Damit wäre dann endgültig die Geflüchtetenproblematik Europas outgesourced an Länder, die einfach als „sicher“ deklariert werden können.
Nicht, dass das nicht bereits in großem Maßstab geschieht. Die Türkei lässt sich mit Milliarden bestechen, Geflüchtete aufzunehmen; die libysche „Küstenwache“ wird durch EU-Gelder, Know-How und Ausrüstung gefördert, um Überfahrten zu verhindern (wobei anscheinend egal ist, dass dort wiederholt Menschen in "Folterlagern" gequält und getötet wurden), es gibt Zahlungen und Abkommen mit Algerien, Tunesien, Marokko, dem Libanon um nur einige zu nennen.
Doch nicht nur an den Außengrenzen wird geltendes Recht gebrochen, auch direkt vor unserer Haustür. An der deutsch-österreichischen Grenze stellten im ersten Halbjahr 2023 angeblich nur 17 Prozent der „unerlaubt“ Eingereisten einen Asylantrag, an den Grenzen zur Schweiz oder Polen lag der Anteil bei 62 Prozent, an allen anderen deutschen Grenzen bei 44 Prozent. Hier lässt sich nicht mehr leugnen, dass die sogenannten „Zurückweisungen“ an der Grenze zu Österreich Pushbacks sind und die Bundespolizei Asylanträge ignoriert oder unmöglich macht. Besonders davon betroffen sind afghanische und syrische Geflüchtete, deren Schutzquote vergleichsweise hoch ist.
In Griechenland wird ersichtlich, was europäische Migrationspolitik bedeutet. Auch wenn die EU und ihre Behörden Menschenrechtsverletzungen leugnen oder die Verantwortung an die Justiz einzelner Mitgliedsstaaten abschieben wollen, täuscht das nicht darüber hinweg, dass das Sterben auf dem Mittelmeer, Elendslager wie Moria oder Straflosigkeit für Täter*innen im „Kampf um die Grenzen“ politischer Wille sind. Nur so lässt sich erklären, wie der rechte Fabrice Leggeri sieben Jahre Direktor von Frontex sein konnte und erst 2022 seinen Posten räumen musste, da er Ermittlungen behinderte, das EU-Parlament belog und griechische Verbrechen sowie die Beteiligung von Frontex-Beamt*innen an Pushbacks verschleierte. Nun wurde er für die ultra-rechte „Rassemblement National“ (RN) von Marine Le Pen in das EU-Parlament gewählt.