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1948 – Der erste arabisch-israelische Krieg

Benny Morris
Einleitung

Benny Morris hat als Protagonist der sogenannten „Neuen Historiker“ in Israel gängige beschönigende Geschichtsmythen über die militärischen Auseinandersetzungen rund um die Gründung Israels in Frage gestellt, nachdem Archive aus dieser Zeit seit Ende der 1980er Jahre zugänglich worden waren. 

1948 buch

Sein Werk „1948“ ist knapp nach dem 7. Oktober 2023 erstmals in deutscher Übersetzung erschienen – diese berücksichtigt den jüngsten tiefen Einschnitt in der israelischen Geschichte nicht mehr. Der herausragenden aktuellen Bedeutung von Morris akribischer und detaillierter Beschreibung der Jahre 1947-1949 tut das jedoch keinen Abbruch. Schließlich kursiert heute aus unterschiedlichsten Richtungen umfangreiche Propaganda, die sich gerne der Geschichte des Konflikts widmet – dem berüchtigten „Kontext“. Dass dieser tatsächlich doch komplexer, vielschichtiger und jedenfalls anders sein dürfte, als viele so meinen, wird bei der Lektüre von Morris Werk erfahrbar, das wohl am besten als ‚in alle Richtungen schonungslos‘ charakterisiert werden kann. 

Die von israelisch-zionistischer Seite begangenen Kriegsverbrechen und Massaker (z.B. in Deir Yassin) werden in ihrem Ausmaß und ihrer Entstehung beschrieben, wie auch die der arabischen (bzw. palästinensischen) Akteure (z.B. Kfar Etzion-Massaker). Letztere haben laut Morris sowohl den Beginn der Bürgerkriegsphase, als auch die Ausweitung des Kriegs durch die Invasion der Nachbarländer Israels zu verantworten – die Zionist_innen hatten sich allerdings vorbereitet. Mit der einseitigen Ablehnung des UN-Teilungsplans vom November 1947, der eine Zweistaatenlösung vorsah, stellten arabische politische Akteure damals die entscheidende Hürde für eine friedliche Lösung des Konflikts auf. 
Die schädliche Rolle zionistischer Milizen wie Irgun und Lechi insbesondere in der Bürgerkriegsphase wird in der dichten Beschreibung überdeutlich – aber man erfährt auch einiges von den Auseinandersetzungen, in die sie wegen ihres Vorgehens mit dem zionistischen Mainstream gerieten (z.B. wegen Attacken auf die britische Kolonialmacht, Vertreter der UN oder Zivilist_innen). 

Nüchtern schildert Morris, dass es in der Bürgerkriegsphase wegen der britischen Kontrolle keine Kriegsgefangenenlager geben konnte. Beide Seiten machten daher in der Regel keine Gefangenen unter feindlichen Kämpfenden, die sich aus diesem Grund ohnehin selten ergaben. 

Morris widerspricht der These, dass es vorab einen zionistischen Generalplan zur Vertreibung aller Araber_innen gegeben habe. Das Ergebnis von Flucht und Vertreibung wird von palästinensischer Seite als Nakba (Katastrophe) bezeichnet. Der Historiker beschreibt dies als eine dynamische, sich verstärkende Entwicklung, in der viele einzelne Entscheidungen getroffen wurden – teils in widersprüchlicher Art oder mit militär-strategischem Hintergrund. Allerdings verschweigt er nicht, dass es tatsächlich auch (schriftlich fixierte) geplante Vertreibungen gab – so wie es auch dokumentierte Vergewaltigungen gab. Unmittelbar nach dem Krieg folgte die Vertreibung von Jüd_innen aus vielen arabischen Ländern in Richtung Israel – in quantitativ ähnlichem Umfang. 

Hochinteressant sind Aspekte des Konflikts, die in aktuellen Erzählungen von westlichen Linken bis hin zu (israelischen) Rechten kaum präsent sind und in Vergessenheit zu geraten drohen. So erscheint die Gründung Israels bei der Lektüre als kein eindeutig westliches Projekt: Phasen der zionistischen Kooperation mit der britischen Kolonialmacht wechselten sich mit denen der tödlichen Konfrontation ab. Die USA unterstützten die Staatsgründung zwar nach enormen diplomatischen Anstrengungen – die Sowjetunion tat dies jedoch ebenso. Letztere sahen den Zionismus in antikolonialer Gegnerschaft zu Großbritannien und die europäischen Jüd_ innen als Leidensgenoss_innen in Hinblick auf den deutschen Nationalsozialismus. Außerdem waren zionistische Organisationen mit sozialdemokratischer bis marxistischer Einfärbung aus östlicher Perspektive offenbar ganz naheliegende und einflussreiche Bündnispartner. Der entscheidende Waffenlieferant der zionistischen Milizen (bzw. später der israelischen Armee) war in diesen Jahren aus ähnlichen Gründen keineswegs die USA oder andere westliche Mächte, sondern die Tschechoslowakei. Von dort kamen neben dringend benötigten Gewehren unter anderem beschlagnahmtes Kriegsgerät der Wehrmacht, bis hin zu Messerschmitt-Kampfflugzeugen. 

Die enge zeitliche und personelle Verbindung zu Shoa und Zweitem Weltkrieg ist im Werk allgegenwärtig. Der Zionismus ist älter als der deutsche Nationalsozialismus und sehr divers – er richtete sich im Grundsatz als jüdische Nationalbewegung zunächst gegen den nicht nur in Europa im 19. Jahrhundert erstarkenden Antisemitismus. Die Chance zur Verwirklichung bekam er in der historisch einmaligen Situation nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager. Die Kämpfenden auf israelisch-zionistischer Seite waren oft reguläre Soldaten in den Reihen der Alliierten gewesen (z.B. Großbritanniens) – allerdings wurden auch strategisch bedeutende Ortschaften von Einheiten mit vielen jüdischen Ex-Partisan_innen verteidigt, die zuvor in Osteuropa gegen die Deutschen gekämpft hatten. Vereinzelt nahmen deutsche Nationalsozialisten (wie auch deren bosnische Verbündete) auf Seiten der Feinde Israels am Geschehen vor Ort teil – dies war wohl für die Kämpfe nicht von entscheidender Bedeutung. 

Ägypten, (Trans-)Jordanien, Syrien, Libanon und der Irak verfolgten jeweils unterschiedliche Interessen, die keineswegs deckungsgleich mit den vielfältigen palästinensischen sein mussten. Morris beschreibt die arabischen Akteure differenziert. Sie werden nicht dämonisiert und er reduziert sie nicht auf Protagonisten wie den Partner der deutschen Nationalsozialisten Amin al-Husseini oder die ägyptischen Muslimbrüder, was ein Anzeichen wäre, dass es ihm nicht um das Verstehen gehen würde, sondern um Propaganda. 

Das Gegenstück zu Morris Schaffen wäre eine (selbst)kritische palästinensische Geschichtsschreibung, die bislang noch aussteht. In ihm würde sie wohl einen begeisterten, kritischen, strengen und fairen Leser finden. 

Benny Morris: 1948 – Der erste arabisch-israelische Krieg Dt. 2023 (engl. Original: 2008), 32 Euro, 646 Seiten.
Herausgegeben von der Gesellschaft für kritische Bildung. Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Bruns, Peter Kathmann.