Überraschend, aber überfällig – Das Urteil im Berufungsverfahren zum Neukölln-Komplex
NSU-Watch (Gastbeitrag)
Die Kammer habe „keine Zweifel“, dass die beiden Brandstiftungen so stattgefunden haben wie angeklagt. Nach mindestens 15 Jahren weitgehender Straflosigkeit für Täter der Serie von „Anti-Antifa“-Attacken in Berlin-Neukölln klingen diese Worte der Richterin ungewohnt.
Am 12. Dezember 2024 verkündete sie für die zuständige Landgerichtskammer das mündliche Urteil im Berufungsverfahren gegen Sebastian Thom (ehem. NPD) und Tilo Paulenz (ehem. AfD). Die Angeklagten wurden zu Gesamtfreiheitsstrafen von drei Jahren, sechs Monaten bei Thom und zwei Jahren, zehn Monaten bei Paulenz verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, die Angeklagten haben Revision eingelegt.
Dass es zu diesem Urteil kam, überraschte viele Prozessbeobachter*innen, die sich an die Straflosigkeit bereits gewöhnt hatten. Auch an der Beweislage hatte sich seit dem ersten Prozess vor dem Amtsgericht Tiergarten nichts Wesentliches geändert. Im Zenstrum beider Verfahren standen zwei Anschläge am frühen Morgen des 1. Februar 2018. In dieser Nacht wurden die Fahrzeuge zweier Neuköllner Antifaschisten – des Buchhändlers Heinz Ostermann und des heutigen Linken-Abgeordneten Ferat Koçak – in Brand gesteckt. Das Fahrzeug von Koçak war auf dessen Grundstück direkt vor dem geschlossenen Garagentor abgestellt, hinter dem sich eine Gasleitung befand. Sogar das in der Garage geparkte Fahrzeug von Koçaks Vater wurde durch die Hitzeeinwirkung beschädigt. Das Feuer drohte zudem auf das angrenzende Wohnhaus überzugreifen. Dass niemand körperlich verletzt wurde, war vor allem dem Eingreifen von Koçak selbst zu verdanken, der früh genug vom Feuerschein geweckt worden war.
Das Amtsgericht hatte 2022 Paulenz und 2023 auch Thom in Bezug auf diese Tatvorwürfe noch freigesprochen.
Stringente Darstellung lange vorliegender Indizien
Aber was hat sich seit dem ersten Urteil verändert? Vor allem hat die Berufungskammer die vorliegenden Beweismittel wesentlich ernsthafter geprüft als noch das Amtsgericht. Das Berufungsurteil bildet aus den vorliegenden Beweismitteln eine stringente Indizienkette. Es bezieht sich dabei auf abgehörte Gespräche, sichergestellte Chat-Inhalte, Zeug*innenaussagen über Gespräche von Paulenz und weitere Indizien. Franziska Nedelmann, Koçaks Anwältin, dazu: „Das Landgericht hat die vom Amtsgericht behauptete Lücke mit sehr klaren Argumenten gefüllt.“ (Podcast „Aufklären & Einmischen“/„Vor Ort“)
Das Urteil zeichnet ein deutliches Bild davon, wie sich Thom und Paulenz über mindestens ein Jahr darauf versteift hatten, persönliche Daten von Koçak herauszufinden. Immer wieder kommunizierten die beiden über ihn, versuchten auch über Dritte an Informationen über Koçak zu kommen. Am 15. Januar 2018 sah Paulenz schließlich Koçak in dessen Fahrzeug, informierte sofort Thom über diese Entdeckung und verfolgte ihn. Damit waren die beiden am Ziel ihrer Bemühungen. Am 23. Januar 2018 informierte sich Paulenz bei „Google Maps“ intensiv über das Grundstück der Koçaks, auf dem dann am 1. Februar 2018 das Auto angezündet wurde.
Heinz Ostermann wiederum war bereits 2017 Betroffener einer Autobrandstiftung geworden. Bei Thom wurden handschriftliche Notizen über ihn gefunden. Dass sein neues Auto zufällig in der gleichen Nacht und auf die gleiche Weise wie das von Koçak, aber von anderen Täter*innen in Brand gesteckt worden sein könnte, weist das Urteil ebenso zurück wie alle anderen von den Verteidigern aufgebrachten alternativen Täterhypothesen.
Selbstbezichtigungen
Gestützt wird die Beweiswürdigung durch das Landgericht auch durch Gesprächs-
und Chat-Inhalte, bei denen Paulenz seinen Mitangeklagten und sich selbst der Taten bezichtigt hat. Einige Beispiele: Ein LKA-Staatsschützer berichtete im Prozess, er habe Paulenz nach einer Vernehmung noch vor die Tür begleitet. Dort habe dieser dann sinngemäß gesagt, dass alle wüssten, wer die Fahrzeuge in Brand steckt, aber niemand es Thom nachweisen könne. Der Neonazi Maurice Pollei (Vgl. AIB Nr. 132: „Berliner Neonazi nach Messerangriff in Haft“) behauptete in einem abgehörten Gespräch mit Dritten, Paulenz habe ihm in der Untersuchungshaft gesagt, dass gegen ihn noch wegen weiterer Taten ermittelt werde, bei denen er aber nur „Schmiere gestanden“ habe. Paulenz saß wegen einer gefährlichen Körperverletzung an einem Taxifahrer in U-Haft, wo er auf den ebenfalls aus Neukölln stammenden Pollei traf. Die ehemalige Lebensgefährtin des Bruders von Paulenz hatte der Polizei zudem von einem Gespräch zwischen Paulenz, dessen Mutter und Bruder berichtet; darin habe sich Tilo Paulenz selbst der Tatbeteiligung bezichtigt.
Berliner Anti-Antifa-Netzwerk
Im Urteil finden sich auch Belege zum neonazistischen Netzwerk hinter den Taten. Es geht zum Beispiel auf eine Durchsuchung am Arbeitsplatz des Berliner Neonazis Björn Wild (ehem. KS Tor und JN-Berlin) ein. Diese Durchsuchung war nicht vom LKA, sondern in ganz anderer Sache vom Zoll durchgeführt worden. Dabei wurden zufällig umfangreiche „Anti-Antifa“-Datensammlungen gefunden, die vermutlich über Jahre oder Jahrzehnte in der Berliner Neonazi-Szene zusammengetragen wurden. In handschriftlichen Unterlagen aus diesem Fund finden sich, so das Landgericht, Übereinstimmungen der Handschrift mit Eintragungen aus Jobcenter-Unterlagen von Thom.
Weiter wurde Thom auch für Drohschmierereien gegen Antifaschist*innen in einer Nacht im März 2019 verurteilt. Thom war bei einer der drei Taten ‚in flagranti‘ von der Polizei gefilmt worden – gemeinsam mit seinem ‚politischen Ziehvater‘ Oliver Werner. Das Ziel der polizeilichen Überwachungsmaßnahme, in die die Neonazis zufällig geraten waren, war ausgerechnet der Antifaschist, gegen den sich deren Drohschmiererei richtete. (AIB: Gegen Linke ermittelt und Rechte überführt?) Auf den Videos meinte der Staatsschutz zunächst neben Thom einen anderen Neonazi erkannt zu haben. Thoms Verteidiger stellten deshalb die Validität des Videomaterials insgesamt in Frage. Darauf ließ sich das Gericht nicht ein. Bei der zweiten Person im Video handelt es sich augenscheinlich um Werner. Gegen ihn – der im ersten Prozess bis zur Verfahrensabtrennung ebenfalls Angeklagter war – ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft nun unter anderem wegen der Drohschmierereien erneut.
Während der Berufungsverhandlung stellte sich zudem heraus, dass wegen zweier Brandstiftungen am 23. Januar 2017 ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen Thom, Paulenz und den Berliner Neonazi Julian Beyer (ehem. NPD) geführt wird. Anfang November 2024 wurden die Wohnungen der drei Neonazis erneut durchsucht. Das neue Ermittlungsverfahren umfasst die bereits erwähnte erste Brandstiftung auf ein Fahrzeug von Ostermann, außerdem wurde das Fahrzeug eines antifaschistischen Gewerkschafters in Brand gesteckt.
Wild, Werner und Beyer: Keine Unbekannten, wenn es um „Anti-Antifa“-Aktivitäten der Berliner Neonazi-Szene geht.
Das Urteil zeigt also – auch wenn es sich auf Tatbeitrag und Schuld der Angeklagten konzentriert und erḱlärtermaßen keine darüber hinausgehende Aufklärung betreiben will – durchaus, dass eine Verengung des Blicks auf Thom (und Paulenz) beim Neukölln-Komplex falsch ist.
Folgen der Taten
Für die Betroffenen dürfte das Urteil eine Genugtuung sein. Wie drastisch solche Taten in das Leben von Betroffenen eingreifen können, auch wenn niemand körperlich verletzt wurde, hatten bereits die Aussagen von Zeug*innen aus dem Tatkomplex der Drohschmierereien von 2019 gezeigt. Und Nebenkläger Ferat Koçak stellte in seinem Plädoyer vor Gericht fest: „Diese Nacht hat einfach alles kaputt gemacht, sie bestimmt mein ganzes Leben.“
Antifaschistischer Erfolg
Dass es überhaupt zum Berufungsverfahren kam, ist auch der Beharrlichkeit von Betroffenen und der „harten antifaschistischen Arbeit“ (Rechtsanwalt Lukas Theune) in Neukölln zu verdanken. Gleiches gilt für die Einrichtung des Untersuchungsausschusses (UA) zum Neukölln-Komplex im Berliner Abgeordnetenhaus. Dieser wiederum hat seit dem Urteil Zugang zu Akten, die die Justiz zuvor nicht weitergegeben hatte. Viel Zeit, sich mit deren Inhalt zu beschäftigen, hat er allerdings nicht mehr: Die Beweisaufnahme im UA soll Mitte 2025 enden. Bis dahin geht es unter anderem um die Berliner Staatsanwaltschaft. Der damalige Leiter von deren Staatsschutzabteilung, Oberstaatsanwalt F., hatte Paulenz, damals noch AfD-Mitglied, als Zeuge bei einer anderen Sache persönlich vernommen. Nach der Vernehmung behauptete Paulenz in einem Chat mit einem anderen Neuköllner AfD-Mitglied, F. habe „angedeutet“, auf ihrer Seite zu sein. Die CDU/SPD-Regierungskoalition zeigt hierzu und überhaupt im UA bisher kein großes Aufklärungsinteresse, kritische Fragen stellen vor allem Linke und Grüne. Vom gemeinsamen UA-Abschlussbericht ist also nicht viel zu erwarten. Aber vielleicht gibt es ja auch hier eine Überraschung.