1993 - Das Morden geht weiter
In den letzten drei Monaten gab es wieder viele Tote. Die meisten Meldungen waren nur wenige Zeilen in den Zeitungen wert oder wurden teilweise erst viel später bekannt gemacht. Leider sind die Todesmeldungen schon so »normal« geworden, daß es kaum noch jemandem auffällt. Keine/r wundert sich mehr über Überfälle und Morde an AusländerInnen und Linken. Die Ignoranz der Polizei den Tätern gegenüber, die AusländerInnen und Linke überfallen oder gar töten, ist für Betroffene oft der reinste Hohn. Die Täter, soweit bekannt, werden häufig mit Samthandschuhen angefaßt. Meist wird den Tätern ein politisches Handeln abgesprochen, denn wo kämen wir hin, wenn „Rechtsextremismus“ als politisches Motiv erkannt werden würde. Es wird von "Jugendlichen" geredet, die auf dem Weg sind, erwachsen zu werden. Damit werden die politischen Überfälle und Morde als ein "Jugendproblem" abgetan. Da die Gewalt auf der Straße und unter den Jugendlichen steigt, paßt es gut, die rassistischen Überfälle und Morde dazu zuzählen. So steigt die Statistik der Jugendkriminalität und so braucht es keine Auseinandersetzungen mit der rechten Ideologie zu geben. Denn die Straftäter werden erwachsen werden und so zum normalen Leben zurückkehren. Die Probleme werden runtergespielt, wodurch der Schein erweckt werden soll, daß es keinen Rechtsruck in der BRD gibt. In vielen Fällen versucht die Polizei den Schein zu erwecken, daß die Morde unpolitisch oder sogar Unfälle wären. Meist interessiert es nicht, was Freunde über die Situation der Toten zu Lebzeiten berichten.
Im November 1992 wurden in Königs Wusterhausen (KW) die beiden 17jährigen Mario H. und Mario S. zwischen Wildau und Königs Wusterhausen tot neben den Gleisen der S-Bahn aufgefunden. Die Polizei ging die ganze Zeit davon aus, daß die beiden beim sog. S-Bahn-Surfen verunglückten. Sie ignorierten die Aussagen der FreundInnen, die berichteten, daß Mario H. und Mario S., die antifaschistisch arbeiteten, Morddrohungen bekommen hatten. Erst Monate später fing die Polizei doch an, auch wegen Mord zu ermitteln.
Am 7. November 1992 verprügeln und ermordeten in Lehnin mehrere Neonazis den 51-jährigen Obdachlosen Rolf Schulze aus Zossen. Die drei beteiligten Neonaziskinheads Marko Wenzel, Thomas Sdzuj und Daniel Krüger zählten zu einer Wehrsportgruppe „Schönefelder Sturmtruppe“, Thomas Sdzuj und Daniel Krüger sollen zur Ortsgruppe der "Nationalistischen Front" (NF) in Ludwigsfelde gehört haben. Sie verschleppten ihr Opfer mit einem gestohlenem PKW von Schönefeld an den Kolpinsee und erschlugen dort Rolf Schulze mit Stiefeltritten und einer Propangasflasche, anschließend ertränkten sie ihn, übergossen sie ihn mit Benzin und zündeten ihn an. Krüger und Sdzuj wurden inhaftiert, Wenzel stellte sich nach eingehender Fahndung. Obwohl die Täter „sehr eindeutige rechte Bekenntnisse“ äußern, wird von der Polizei ein „politisches Motiv eindeutig ausgeschlossen“. (TAZ, 27.11.1992)
Am 6. Dezember 1992 stirbt in Jänschwalde (Kreis Guben) bei einem Brandanschlag auf ein Haus einer kroatischen Familie ein kroatischer Arbeiter. Die Polizei geht von einer „Brandstiftung mit politischem Hintergrund“ aus. Die Ermittlungen verlaufen schleppend und ergebnislos.
Am 18. Dezember 1992 wird in Oranienburg der 51 jährige Jochen Lommatsch von dem Neonazi-Skinheads Jens Sch. auf einem Parkplatz mit Fußtritten gegen den Kopf ermordet. Zeitweilig wurde auch Jen Sch. Mitbewohner und "Kamerad" Marco V. als Mittäter verdächtig.
Eine kurdische Frau, welche zuvor schon mit rassistischen Parolen aus einem Auto heraus beschimpft wurde in Schulzendorf in Tötungsabsicht angefahren. (Bereits am 8. September 1992 wurde in Schulzendorf vor dem AsylbewerberInnenheim zwei PKWs von Asylbewerbern in Brand gesteckt).
Am 15. Januar 1993 haben in Arnstadt (Thüringen) zwei Neonazis, den Parkwächter Karl Sidon getötet. Die als „Babyskins“ bezeichneten Jugendlichen verprügeln den 45-Jährigen, anschließend schleifen sie ihr Opfer auf die viel befahrene Bahnhofstraße. Mehrere Autos überrollen den Mann. Im Krankenhaus erliegt er seinen Verletzungen.
Am 22. Januar 1993 wurde in Staßfurt (Sachsen Anhalt) ein 21jähriger rumänischer Flüchtling im Hof der Polizei von den beaufsichtigten Beamten rücklings erschossen. Das Opfer Lorin Radu war zusammen mit einem Freund zur Personalienüberprüfung auf die Wache mitgenommen worden, weil sie sich beide – entsprechend dem Asylverfahrensgesetz – in Sachsen-Anhalt nicht hätten aufhalten dürfen. Der Beamte wurde vom Dienst suspendiert und die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen „fahrlässiger Tötung“.
Am 23. Januar 1993 gab es in Thüringen eine Auseinandersetzung zwischen rechten "Heavys" und Punkern. Dabei wurde der 23jährige Punker Mario „Gamasche“ Jödecke in Schlotheim (Mühlhausen/Thüringen) erstochen. Die Polizei geht von rivalisierenden Jugendlichen aus, und da „Heavy“ nur eine Musikrichtung ist, seien auch Heavys unpolitisch. Daher sei hinter dem Mord an Mario kein politisches Motiv zu sehen. Der Tatverdächtige, ein 17jähriger aus Ebeleben, wurde wieder freigelassen, da er noch minderjährig ist.
Bei Olaf Heydenbluth, der am 3. Februar 1993 in seiner Suhler Wohnung erhängt aufgefunden wurde, geht die Polizei von einem Selbstmord aus. Olaf Heydenbluth war Mitglied der "Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend" (SDAJ). Sein Schwerpunkt lag auf der Antifa- Arbeit. Er bekam öfters schon Drohungen, weshalb Olaf sich nicht mehr so oft in seiner Wohnung aufhielt. Da die Polizei von Selbstmord ausging forderten sie die Eltern auf, die Wohnung zu säubern. Jetzt, wo sie doch noch wegen Mord ermitteln, werden sie wohl keine Spuren mehr finden.
Am 22. Februar 1993 wurde ein Farbiger tot an der Bahnstrecke bei Hangelsberg/Fürstenwalde aufgefunden. Bei dem Mann handelt es sich nach Angaben der „Antirassistischen Initiative Berlin“ (ARI) um den 30-jährigen Asylbewerber Mabiala Mavinga aus Zaire. Die Todesursache bleibt ungeklärt.
Am 28. Februar 1993 starb der 22jährige Mike Zerna, der Fahrer der Spremberger Band »NEGROMANTHS« war, deren Konzert am 19 / 20. Februar 1993 in Hoyerswerda von Neonazis angriffen wurde. Bei dem Angriff wurde Mike Zerna schwer verletzt. Nachdem er eine Stunde unter dem Band-Bus eingeklemmt war, war er klinisch tot. Die ärztliche Versorgung kam zu spät. Die Stadt, die schon einmal 1991 wegen rassistischer Pogrome von sich reden machte, hatte wohl die »Probleme« von damals nur unter den Tisch gekehrt.
Am 9. März 1993 haben in Mühlheim/Ruhr zwei rechte Skinhaeds einen 56jährigen türkischen Mann an einer Haltestelle überfallen. Sie schlugen und beschimpften Mustafa Demiral als »Scheiß Türke«. Als die Rassisten dem Mann eine Gaspistole an seinen Kopf hielten starb er an einem Herzinfarkt.
Am 08. Mai 1993 wird der Flüchtling Belaid B. in der Gaststätte „Birkeneck“ in Bad Belzig von den Rassisten Mario K. und Dirk L. zusammengeschlagen und lebensbedrohlich verletzt.
Am 26. Mai 1993 wurde der 25-jährige Jeff Domaniak, dessen Vater Ägypter ist, auf der Autobahn von Berlin nach Dresden von dem 17-jähriger Neonazi-Skinhead Daniel K. verfolgt, gerammt und angefahren. Als er auf der Raststätte Waldeck bei Königs Wusterhausen anhielt, um den Schaden an seinem Motorrad zu reparieren, wurde er von Daniel K. (aus KW) überfahren. Erst aufgrund des öffentlichen Drucks beginnt die Staatsanwaltschaft Königs Wusterhausen wegen Mordes zu ermitteln.
Zwischen Entpolitisierung und Verharmlosung
Es fällt auf, daß Polizei und Presse Morde, die an Linken und Anderdenkenden verübt werden, als „unpolitisch“ handhaben. Oft sind die Meldungen in der Presse kurz und meist handelt es sich um weitestgehend namenlose Opfer. Um die Opfer, von denen wir wissen, nicht ganz zu vergessen, wurden wir sie hier nochmal dokumentieren.
Im Verfassungsschutzbericht zählen nur wenige der Toten zu den Opfern der rechten Gewalt. Viele werden nicht dazu gerechnet, weil die Täter zu jung sind und ihre Taten unter den Jugendkriminalitätsdelikten aufgenommen werden. Sie tauchen nicht in der Statistik auf, weil sie alkoholisiert waren und somit »nicht zurechnungsfähig« sind, weil sie keine Arbeit haben und aus »sozialen Problemen dazu kommen, Menschen zu ermorden«. So entsteht eine verfälschte Statistik der Neonazi-Übergriffe. Die Toten werden zwar erwähnt, aber nicht in einen politischen Kontext gestellt.
Im Gegensatz dazu wird in der Statistik der „Linksextremen“ explizit und immer wieder ein Tötungsdelikt hervorgehoben, wobei es sich offenbar um einen toten Neonazifunktionär handelt. Ein in mehrfacher Sicht hinkender Vergleich. Er zählt im staatlichen „Extremismusvergleich“ scheinbar gleich viel oder mehr als all die Toten der rassistischen Übergriffe des letzten Jahres zusammen, von der unsäglichen Gleichsetzung von „Rechts“ und „Links“ mal ganz abgesehen.