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Prävention und Normalität

Udo Sierck (Gastbeitrag)
Bild: Fastfission~commonswiki, Gemeinfrei, wikimedia.org

Die Publikation "Eugenics Quarterly" wurde 1969 in "Social Biology" umbenannt.

Die "Gesellschaft für biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung (GfbAEV)" mit dem Neonazi Jürgen Rieger an der Spitze1 verschickte Ende der siebziger Jahre ein Rundschreiben an Ärzte des deutschen Sprachraums. In ihm wurde aus ärztlicher Verantwortung die »Führung auf eugenischem Gebiet« beansprucht und der weitere Ausbau der genetischen Beratungsstellen verlangt.

In der Wortwahl eindeutig und treffend, fand lobend Erwähnung, daß in diesen Einrichtungen jetzt auch auf Krankenschein »Erbgesundheitsgutachten« erstellt würden. Bei geringstem Zweifel am gesunden Nachwuchs gäbe es nur eines: »Verweisen Sie Ihre Patienten an die Genetischen Beratungsstellen.« Zur weiteren Information und zur »Vertiefung Ihrer erbgesundheitlichen Kenntnisse« wurden Bücher prominenter bundesdeutscher Humangenetiker empfohlen.

In einem Merkblatt mit gesundheitlichen Ratschlägen für Eheschließende, das Heiratswilligen auf den Standesämtern in Baden-Wüttemberg mindestens noch Ende der achtziger Jahre in die Hand gedrückt wurde, heißt es in einem Jargon, der an die »Aufklärung« zur Volksgesundheit im NS-Regime erinnert:

»Gesundheit ist eine der wesentlichen Grundlagen für das Glück der Ehe. Gesundheitsvorsorge (...) ist eine wichtige Voraussetzung, für ein harmonisches Eheleben und für  gesunde Kinder. Krankheit dagegen bringt Kummer und Sorgen ins Haus, beeinträchtigt die Schaffens- und Lebensfreude des Ehepartners und zerbricht die eheliche Gemeinschaft. Bestimmte Krankheiten der Eltern können die Kinder in ihrer körperlichen und geistig-seelischen Entwicklung schädigen. Unheilvoll sind vor allem bestimmte  Erbleiden (...). Es sollte sich deshalb jeder, der heiraten will, vergewissern, ob sich die Verehelichung mit seinein Gesundheitszustand vereinbaren laßt. Es ist dies die ernste Pflicht eines gewissenhaften Menschen gegen sich selbst, gegenüber seinem künftigen Ehegatten und den Nachkommen. ( . . . ) Verlobte sollen deshalb vor der Eheschließung ihren Arzt aufsuchen und diesen um eine gründliche Untersuchung (...) und um seinen sachverständigen Rat bitten. Zumeist wird die ärztliche Untersuchung eine Bestätigung der Heiratsfähigkeit bringen. (...) Wer gegen diese Vorschriften verstößt, obwohl er seine Erkrankung kennt oder den Umständen nach kennen muß, kann mit Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe bestraft werden

Solche Appelle an die Selbstverantwortung, die diversen Angebote der Prävention in Anspruch zu nehmen, verbunden mit dem drohenden Vorwurf der Selbstverschuldung, wenn ein Kind eine vorgeburtlich erkennbare Behinderung hat, sind heute kaum noch notwendig. Denn ohnehin besitzen immer mehr scheinbar verantwortungsbewußte Menschen ein Präventivbewußtsein und akzeptieren die Versprechungen der Humangenetik auf ein nichtbehindertes Kind. Nach dem Büro für Technikfolgen-Abschätzung (TAB) beim Deutschen Bundestag sind mit DNA-Analysen seit Anfang 1993 bereits 738 verschiedene Erkrankungen nachweisbar. Daß mit dieser Entwicklung die Stigmatisierung "behinderter" Menschen als »nicht rechtzeitig erkannt« einhergeht, ist eine wenige Jahre alte Behauptung aus der "Behinderten"-Bewegung, die sich inzwischen bewahrheitet hat. Die Prävention erhebt den Anspruch, eine "Behinderung" erst gar nicht entstehen zu lassen. Tritt eine "Behinderung" auf, hat die Prävention demnach in ihrem Selbstverständnis versagt. Lebende "behinderte" Menschen sind eine Provokation für die ExpertInnen und PraktikerInnen der Prävention.

Anton Leist2 , ein in der aktuellen bioethischen Debatte stehender Philosoph, der sich in schriftlichen Beiträgen auch für die Tötungsdiskussion stark macht und der eine Verbindung zu den Rechtsextremen weit von sich weisen würde, äußert zu den Möglichkeiten und Konsequenzen der vorgeburtlichen Untersuchungen: »Vielleicht führt das Bestreben, möglichst gesunde Kinder zu haben, zugleich zur verbreiteten Intoleranz gegenüber lebenden Behinderten. Andererseits werden durch die pränatale Diagnose in Zukunft weniger Behinderte leben, gegen die sich eine Intoleranz richten kann. (...)«

Prävention, übersetzt mit Vorbeuge oder Vorsorge, ist auf den ersten Blick ein vernünftiger Ansatz, der aktives Eingreifen in Verhältnisse und Verhalten rechtfertigt. Aber in Konkurrenz zueinander stehen schon der medizinische und der sozialwissenschaftliche Ansatz der Prävention: Letzterer setzt auf die mündigen Bürger, auf gesellschaftliche Reformen mit Gesundheits- und Sozialpolitik. Das faktisch herrschende medizinische Präventionsmodell individualisiert Krankheit, macht die Menschen zum Objekt, deren »natürliche« Anlagen es zu entschlüsseln und an denen es anzusetzen gilt.

Prävention und Eugenik verbinden sich zu einem undurchsichtigen Geflecht. Mit der Definitionsmacht über Normalität und mit der Macht, in Lebenszusammenhänge eingreifen zu können, bedeutet medizinisch orientierte Gesundheitsvorsorge auf den zweiten Blick Selektion, soziale Ausgrenzung sowie physische und psychische Gewalt. Die Perspektiven der Prävention sind Entmündigung und Disziplinierung der Versicherten sowie die Ökonomisierung und Bürokratisierung von Krankheit und Behinderung.

Die Medizin übernimmt die Rolle einer »Institution sozialer Kontrolle«: Wer sich angepaßt verhält, bekommt nach bestimmten Kriterien finanzielle und materielle Unterstützung. Der gutachtende Arzt oder die attestierende Ärztin bestimmen über den weiteren Lebensweg, sie hierarchisieren die zu ihnen kommenden Menschen in noch Förderbare und in jene, bei denen der zu betreibende Aufwand sich aus ihrer Sicht nicht mehr lohnt. Der Präventionsgedanke wandelt sich in ein technokratisches Instrument der Medizin, das auf individuelle Schuldzuweisung und persönliche Verantwortung setzt und selektiv wirkt.

Auf die eugenischen Varianten der Prävention machte der 1991 vorgelegte und im Auftrag des Bundesministers für Forschung und Technologie erstellte Bericht »Die Erforschung des menschlichen Genoms. Elltische und soziale Aspekte« aufmerksam. In ihm wurde festgehalten: »Menschen, die aufgrund ihrer genetischen Disposition (...) aus der Normalität herausfallen, werden daher 'von Natur aus' benachteiligt, ja mit der Wiederbelebung eugenischer Vorstellungen als 'minderwertig' eingeschätzt.« Aus diesem Befund folgerten die Berichterstatter die Einschränkung individueller Freiheiten, denn aus »dem Modell der Selbstverantwortlichkeit des Individuums kann der Selbstzwang entstehen, die Lebensführung unter das Diktat genetischer Information zu stellen

Trotz des Wissens um diese Perspektive sangen die Autoren des Berichtes ein Loblied auf das reduzierte Menschenbild der Naturwissenschaft, auf die Totalisierung von Erfassung und Zurichtung, bei der das Subjekt und soziale Aspekte auf der Strecke bleiben. Die private soziale Absicherung ist nicht mehr nur eine finanzielle Frage, sondern auch eine der »guten Gene«: Im Technikfolgen-Abschätzung-Brief Nr. 7/1993 des Deutschen Bundestages liest sich lapidar: »Eine Nutzung genetischer Tests durch Versicherungen kann vor dem Hintergrund steigender Kosten im Gesundheitswesen und einer Verschärfung der Konkurrenz in einem liberalisierten EG-Binnenmarkt nicht ausgeschlossen werden.«

Ein wichtiges Merkmal der Prävention ist es, beim Individuum anzusetzen, um Entstehung und Verlauf von psychischen oder körperlichen "Behinderungen" und Erkrankungen zu beeinflussen. Zum Präventionsansatz gehört auch die Offerte, die lebenslängliche Dauer der "Behinderung" oder chronischen Krankheit im Vorfeld zu verhindern sowie das Ansinnen, einen eingetretenen Leidenszustand nicht zu lange andauern zu lassen. Ein künftiges »Leben in Leiden« zu ersparen, ist ein Handlungskonzept und eine Begründung, die von den Vordenkern und TheoretikerInnen sowie von den Tätern und Täterinnen in der aktuellen "Euthanasie"-Auseinandersetzung stammt.

Die Prävention vor dem angeprangerten langsamen Sterben bildet in diesem Denken der schnelle Tod. "Behinderung" und chronische Krankheit wird zum individuellen Schicksal erklärt, das es privat zu meistern gilt. Ansprüche an die Solidargemeinschaft werden schrittweise negiert. Jeder und jede soll in schwierigen Lebenssituationen  selbst zusehen, wieder »auf die Beine zu kommen«. Gelingt dies nicht, wird das dem Einzelnen als persönliche Schwäche gedeutet. Er oder sie hat versagt und kann weder in der Gegenwart noch in der Zukunft größere Unterstützung von außen erwarten.

Die naheliegende Konsequenz aus dieser Haltung ist der sprichwörtliche Gedanke an das Ende mit Schrecken statt ein Schrecken ohne Ende. So ist es kein Zufall, daß Hans Schaefer, der Vater der deutschen Sozialmedizin3 , angesichts "behinderter" Menschen, bei denen er von einer »beinahe krankhaften Fröhlichkeit« ausgeht, Leben nicht mehr absolut setzen möchte. Schaefer folgert, daß eines Tages dem Recht auf Leben das Recht der Gesellschaft auf Kostensenkung gegenübergestellt werden müsse.

(Udo Sierck ist Autor. Er lebt und arbeitet in Hamburg)

  • 1Anmerkung des AIB: Gegründet wurde der Verein 1962 von Wilhelm Weis (Anhänger der "Deutschgläubigen Gemeinschaft") als "Deutsche Gesellschaft für Erbgesundheitspflege e.V." in Hamburg. Ab 1964 gab der Verein als Organ die Zeitschrift "Erbe und Verantwortung – Eugenische Rundschau" heraus. 1972 gab Weis den Vorsitz an Jürgen Rieger ab, welcher den Verein umbenannte. Die Zeitschrift wurde in "Neue Anthropologie – Erbe und Verantwortung" umbenannt. Von 1971 bis 1974 galt der Verein als ein "Arbeitskreis Humangenetik" des  "Weltbund zum Schutz des Lebens". Dessen damaliger Präsident Max Otto Bruker zählte zum "Wissenschaftlichen Beirat" der Gesellschaft. Weitere Mitglieder waren hier Rolf Kosiek, Hans Georg Amsel, Hans-W. Hammerbacher, Alain de Benoist, Günther Schwab, Karl Thums, Wolfgang Gröbner und Friedrich Ritter.
  • 2Anmerkung des AIB: Der Professor für Philosophie an der Universität Zürich ist Autor des Buches "Eine Frage des Lebens – Ethik der Abtreibung und künstlichen Befruchtung"
  • 3Anmerkung AIB: Hans Schaefer war Mitglied der Studentenverbindung "Akademische Gesangverein" (AGV) in München, war Mitglied der NSDAP und der Sanitäts-SA. Seit 1961 leitet er das "Institut für Sozialmedizin" an der Universität Heidelberg. Er war Gründer und Präsident der "Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin", Präsident der "Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention" und Präsident der "Deutschen Liga für das Kind". Hans Schaefer ist Mitglied im Bundesgesundheitsrat.