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Flüchtlinge organisieren sich

Einleitung

Im »Land der Skins und Schläger« wehren sich die Betroffenen: Als 47 Flüchtlinge aus einem Asylbewerberheim in der brandenburgischen Kreisstadt Rathenow im Februar ein Memorandum an die Presse und die Landesregierung verschickten, in dem sie auf Grund andauernder Angriffe und Diskriminierungen ihre Verlegung in ein anderes Bundesland forderten, ahnte wohl niemand, was folgen würde. Die Flüchtlinge schrieben u.a.: »Wir sind wegen Lebensgefahr aus verschiedenen Ländern geflohen, um Asyl in einem Land zu finden, in dem wir geschützt und respektiert werden. Stattdessen erlitten wir eine Reihe von fremdenfeindlichen Angriffen, die unser Leben erneut gefährdeten und uns körperliche und seelische Verletzungen zufügten. Viele Bewohner des Asylbewerberheims sowohl aus Rathenow als auch aus dem gesamten Land sind ernsthaft angegriffen und verletzt worden.«

300 Flüchtlinge aus Brandenburg kamen 2001 zu einer Demonstration gegen die sogenannte Residenzpflicht und die Einschränkung ihrer politischen Betätigung in die brandenburgische Kleinstadt Rathenow.

Zur Überraschung aller griffen die Medien die Situation der Flüchtlinge in Rathenow auf: Die Chronik rechter Angriffe – u.a. war an Sylvester ein pakistanischer Flüchtling von einer Naziclique krankenhausreif geschlagen und Flüchtlinge direkt vor dem Heim angepöbelt worden – wurde nachrecherchiert und veröffentlicht. Im Nachhinein berichteten die Flüchtlinge, dass sie innerhalb eines Monats mit mehr als einhundert JournalistInnen aus dem In- und Ausland Kontakt hatten. Den SchreiberInnen folgten Fernsehteams, wie beispielsweise ein ARD-Kontraste Team, das rassistische Pöbeleien gegenüber einkaufenden Flüchtlingen vor laufender Kamera dokumentierte. Die Stadtverwaltung reagierte nur zögerlich und stereotyp: Rathenow sei eine ganz normale Stadt und auch nicht schlimmer als andere Städte. Doch da der »Ruf der Stadt« beschädigt sei, wurde schnell eingeräumt, dass selbstverständlich alles ganz schlimm sei. Und deshalb wurden die Flüchtlinge dann gleich medienwirksam zur Eröffnung einer Rollerskatebahn und ins Polizeipräsidium eingeladen. Kein Wort davon, dass in Rathenow seit Anfang der 90er Jahre rassistische Angriffe und rechtsextreme Organisierung an der Tagesordnung waren und sind; kein Wort davon, dass antifaschistische Jugendliche fünf Jahre lang ein Haus nach dem anderen besetzten, von der Polizei wieder geräumt und von Stadtverwaltung und Sicherheitsbehörden kriminalisiert wurden, um ein selbstverwaltetes Jugendzentrum durchzusetzen; kein Wort davon, dass der vom SPDIer zum Parteilosen mutierte Bürgermeister, der jetzt vor laufenden Kameras von seinen »Integrationsangeboten« und einem »anderen Rathenow« schwafelt, sich Anfang der 90er Jahre mit stadtbekannten Nazis traf und offen zugibt, dass er bis zur Veröffentlichung des Memorandums keinerlei Kontakt zu den Flüchtlingen hatte. Dafür sei schliesslich das Landratsamt zuständig

Selbstorganisierung der Betroffenen

Doch die Flüchtlinge wollen keine öffentlichkeitswirksamen Streicheleinheiten von einer Stadtverwaltung, der mehr als deutlich anzusehen ist, dass sie immer noch nicht fassen kann, wiediejenigen, die da am Stadtrand weggeschlossen waren, durch einen einzigen Brief über Wochen die Medienberichterstattung prägten. Sie organisierten mit Unterstützung des Flüchtlingsrats Brandenburg eine zwölftägige Tour durch die Flüchtlingsheime in neun Brandenburger Städten, diskutierten dort mit vielen anderen Flüchtlingen und stellten schließlich Ende März ihre Erfahrungen und Forderungen auf einer Pressekonferenz vor. Ihnen ist es vor allem wichtig, den Zusammenhang zwischen staatlichem Rassismus und dem rassistischen Mainstream in der Brandenburger Bevölkerung aufzuzeigen. »Wenn die Gesetze, die uns zu Menschen zweiter Klasse und ohne Rechte machen, aufgehoben werden, dann fühlen sich die rassistischen Angreifer auch nicht mehr als Vollstrecker einer Mehrheitsmeinung,« sagen sie. Der öffentliche Druck, der durch das Memorandum und die Tour entstand, war immerhin so groß, dass Ex-Innenminister und jetzt Sozialminister Alwin Ziel und Bildungsminister Steffen Reiche eine Delegation der Flüchtlinge empfingen. Doch außer blumigen Worten – Kommunen sollten gemeinnützige Arbeit mit Flüchtlingen organisieren, »das hätte auch was mit Integration zu tun« (0-Ton Ziel), wurde den Flüchtlingen nichts angeboten. Jetzt planen sie, sich direkt an die Bundesregierung und das UNHCR zu wenden. Außerdem sollen Demonstrationen stattfinden und Kontakte im ganzen Bundesgebiet aufgebaut werden.

Unterstützung?!

Schon einmal, Anfang der 90er Jahre reagierten Flüchtlinge mit selbstorganisiertem Widerstand auf rassistische Angriffe – vor allem in Ostdeutschland. Damals verließen ganze Flüchtlingsgruppen die Heime im Osten, in die sie zwangsverlegt wurden. Mit Hilfe von UnterstützerInnen aus der autonomen Antira- und Antifabewegung besetzten sie Kirchen, wie beispielsweise in Norderstedt, und die TU Berlin, demonstrierten und machten Öffentlichkeitsarbeit. Doch ihre Forderungen wurden nur ansatzweise erfüllt; oft gaben die Flüchtlinge aufgrund der zugespitzten Bedingungen, interner Streits und Widersprüchen zwischen autonomen und bürgerlich-kirchlichen UnterstützerInnen auf. Heute haben sich die Lebensbedingungen für Flüchtlinge durch die de-facto-Abschaffung des Asylrechts und das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz noch erheblich verschlechtert. Doch die Unterstützung aus der autonomen Antifa- und Antirabewegung für Flüchtlinge in Ostdeutschland gibt es nur noch vereinzelt und im Umkreis von größeren Städten. Stattdessen sind es vielerorts Organisationen wie die Flüchtlingsräte, die diese Arbeit organisieren. Die Initiative der Flüchtlinge aus Rathenow und anderen Brandenburger Städten ist nach langen Jahren des isolierten Widerstands von Einzelnen ein neuer Versuch der direkt Betroffenen, gemeinsam gegen staatlichen Rassismus zu kämpfen. Lassen wir sie nicht alleine!