Mit dem Zweiten sieht man besser!
kanak attak (Gastbeitrag)Ahmet B. versteht die Welt nicht mehr. Vor einigen Tagen ist er mit seiner in der Türkei geheirateten Frau bei der deutschen Botschaft in Ankara gewesen, um für sie ein Einreisevisum für Deutschland zu beantragen. Als er die Heiratsurkunde, weitere Unterlagen und seinen deutschen Pass vorlegt, wird der Botschaftsmitarbeiter plötzlich stutzig. Seinen schönen roten EU-Pass hat Herr B. nicht wiederbekommen, dafür aber eine Bescheinigung, dass er nicht mehr im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit sei. Nun fragt er sich verzweifelt und empört zugleich, wie es denn sein kann, dass er, der in Berlin geboren und aufgewachsen ist und sich als 19-jähriger gerade in einer Ausbildung zum Bankkaufmann befindet, kein Deutscher mehr ist.
So beschreibt das Bundesinnenministerium die Geschichte einer Ausbürgerung. Natürlich verliert Ahmet B. seine »schöne Staatsangehörigkeit« gleich da, wo er ab nun laut BRD Gesetzgebung wieder hingehört – in die Nicht-EU. Ein Novum in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Eine in Vergessenheit geratene staatliche Maßnahme der Entrechtung. Der historische Kontext mag ein anderer sein, der Fokus liegt diesmal auf der Prekarisierung von Menschen mit migrantischem Hintergrund. In Deutschland ist damit die entgarantierte Staatsbürgerschaft eingeführt worden: 2005 ist es zur ersten Ausbürgerungswelle in der Geschichte der BRD gekommen. Der Fakt, dass in diesem Jahr 100.000 StaatsbürgerInnen ausgebürgert wurden und damit alle ihre Staatsbürgerrechte verloren haben, zeigt, dass der Rechtsstatus aller in Deutschland lebenden MigrantInnen – bei allen Unterschieden der diversen Aufenthaltstitel – unsicher bleibt. Die Betroffenen werden wieder auf Los gestellt: Ziehen Sie keinen Pass ein! Geben Sie alle ihre Bürgerrechte ab! Offensichtlich gab es aber ein weitverbreitetes Bedürfnis und Verlangen nach einem zweiten Pass, den sich viele aneigneten. Warum auch immer, das muss hier keine Rolle spielen. Diese Tatsache wurde in Deutschland wahrgenommen, aber mit zweifelhaften Begründungen für bestimmte migrantische Gruppen stets und vehement abgelehnt. Ein Resultat der politischen Forderungen migrantischer Kämpfe war im Jahr 1998 das Versprechen der neu gewählten rot-grünen Bundesregierung auf ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz und die Legalisierung des Doppelpasses. Doch es kam anders. Mit dem neuen Staatsbürgerschaftsgesetz wurde nicht nur die Möglichkeit eines Doppelpasses für bestimmte Deutsche zurückgewiesen, er wurde verboten. Die Selbstaneignung eines zweiten Passes sollte laut Gesetz automatisch zum Verlust des deutschen Passes führen. Illegalisierung, so lernen wir, ist nach wie vor eines der wichtigsten Kontrollinstrumente des hiesigen Migrationsregimes. Hier zeigt sich, dass selbst der deutsche Pass keinen Schutz vor staatlicher Entrechtung darstellt. Das Bundesministerium des Inneren benennt die Informationsbroschüre dementsprechend zynisch: »Plötzlich nicht mehr deutsch?«. Diese spezielle Entrechtung geht Hand in Hand mit anti-islamischen Ressentiments, dem Gerede von Parallelgesellschaften, der steigenden Tolerierung von Abschiebungen, der Aufrechterhaltung der Residenzpflicht und des Duldungsstatus, der systematischen Abschiebung von so genannten Geduldeten etc. Es gibt einen massiven Angriff auf die Lebensverhältnisse aller in Deutschland lebenden MigrantInnen – mit oder ohne Papiere. Der allgemeine Tenor unterstützt die Ausbürgerung als disziplinarischen Akt und als einen Denkzettel für die zukünftige Integration: »Entscheide dich allein für Deutschland – und du darfst bleiben, vielleicht.« Anstatt die Verletzungen der Anti-Diskriminierungsrichtlinien der EU zu unterlassen, bürgert Deutschland seit dem Jahr 2000 lieber seine Mitbürgerinnen und Mitbürger aus. Irgendwas hat Deutschland wieder einmal falsch verstanden! Um an die Daten der auszubürgernden Deutschen zu gelangen, wird parallel außen- wie innenpolitischer Druck aufgebaut. Zum einen drängt Innenminister Otto Schily seinen türkischen Amtskollegen, die Einbürgerungsdaten herauszugeben und legt die potentielle EU-Mitgliedschaft in die Waagschale. Zum anderen wurden im April 2005 vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen Deutsche mit türkischem Hintergrund durch ein explizites Anschreiben, inklusive einer Strafandrohung, aufgefordert, sich in der Passfrage zu offenbaren. »Im Zweifel für die Pass-Freiheit« scheint hier nicht zu gelten. Kurz vor der Wahl wird befürchtet, dass ein Teil der BürgerInnen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Aber für wen könnte man in dieser Frage votieren? Blick zurück: 1999 sammelte die hessische CDU Unterschriften in einer rassistischen Kampagne gegen den Doppelpass, um Stimmen zu sammeln und Stimmung zu machen für die bevorstehende Landtagswahl. Aus dieser speziellen Kampagne entfachte sich eine bundesweite Diskussion um Leitkultur und Integration. Am Tag nach der Wahl, aus der die CDU siegreich hervorging, wurde der Doppelpass für MigrantInnen aus dem Gesetzesentwurf gewischt. Ein voller Erfolg für die Demokratie der Mehrheitsgesellschaft.
Stand-by-Deutsche: Staatsbürgerrechte auf Abruf und ohne Gewähr
Das Ergebnis dieses Ringens um politische Rechte und mono-nationale Zugehörigkeit ist eine neue Art von Staatsbürgertum: Wir begrüßen die »Stand-By-Deutschen«! Ihnen wird die deutsche Staatsbürgerschaft gewährt, jedoch nur unter Auflagen. So wächst beispielsweise eine Generation von »stand-by-deutschen« Kindern heran, die sich bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres entscheiden müssen, ob sie ihr Aufenthaltserlebnis in Deutschland als Deutsche oder als ›Ausländer‹ fortführen und gestalten wollen. Gleichzeitig müssen alle neuen Ex-Deutschen, neben der Beantragung einer Niederlassungserlaubnis und der Arbeitsgenehmigung, in ihrem Antrag auf Staatsbürgerschaft erneut beweisen, wie ernst sie es meinen: Sprachnachweis, Integrationspunkte, der ganze Schmu von vorn. Es gibt im neuen Zuwanderungsbegrenzungsgesetz die Gnade der erleichterten Wiedererlangung von Aufenthaltstiteln für ausgebürgerte Ex-Deutsche, jedoch ist die Erleichterung prekär. Nun kann noch einmal geprüft werden: Haben Sie seit dem Jahr 2000 schon mal »Hass gepredigt«? »Terror unterstützt«? In irgendeiner unbequemen Weise eine politische oder kriminelle Karriere eingeschlagen? Sozialhilfe empfangen? Hartz IV genossen? Doch auch die Übrigen müssen sich wieder in die Unannehmlichkeiten und Schikanen des Ausländerrechts begeben. Aufgezwungene Sprachkurse mit Sanktionsdrohung, Sozialhilfekürzung bis Aufenthaltsannullierung. Damit werden unsere Brüder und Schwestern, gezwungen, hunderte von Stunden Deutsch und Integration nachzuweisen – in einem Land in dem sie bereits seit über 50 Jahren leben und arbeiten. Das Staatsangehörigkeitsgesetz und das neue Zuwanderungsbegrenzungsgesetz berücksichtigen keine von den versprochenen Verbesserungen und die längst überfällige rechtliche Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland. Sie stellen einen Remix des alten Ausländergesetzes dar und sind mitnichten ein »historischer Einschnitt«, wie die BefürworterInnen behaupten. Es ist die neue Festschreibung des alten, des schlechten Zustands. Gleichzeitig wird die Forderung nach Integration in die deutsche Gesellschaft immer lauter, härter und unnachgiebiger. Integration bedeutet vor allem Entkollektivierung von Rechten: Hierarchisierung, Assimilationszwang, Domestizierung und soziale Unterordnung der MigrantInnen. Sie war immer schon eine Reaktion auf und eine Drohung gegen Kämpfe der MigrantInnen um mehr Rechte. Politische und soziale Rechte werden nicht etwa selbstverständlich gewährt, sondern zu Privilegien stilisiert. Nur diejenigen, die unbeirrt und konsequent im Sinne der Maßgaben durch den Parcours der Integration hindurchgehen, sollen die Güte der deutschen Gesellschaft erfahren dürfen. Die Bestrebungen der MigrantInnen sich zu integrieren, können deshalb nur als Sisyphos-Tätigkeit bezeichnet werden. Alle Rechte für formale Gleichstellung oder die Garantie des gleichberechtigten Zugangs zu sozialen, ökonomischen und politischen Ressourcen wurden bis heute nicht gewährt. Die Aneignung von vorenthaltenen Rechten ist aber eine traditionelle grenzüberschreitende Spezialität der migrantischen Communities. Wenn es nicht anders geht, dann eben klandestin. Das selbstermächtigte Zubereiten des zweiten Passes ist eine solche Variante.
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www.kanak-attak.de