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Faschismustheorien: Zum Stand der wissenschaftlichen Debatte

Jens Renner
Einleitung

Über die vom Marxismus inspirierten Faschismustheorien, an denen Teile der westdeutschen Neuen Linken noch bis in die 1980er Jahre festhielten, ist zu Recht viel Kritisches gesagt und geschrieben worden. Die gravierenden Unterschiede zwischen den faschistischen Diktaturen in Italien und Deutschland wurden von den meisten deutschen Linken erst in den 1990er Jahren wahrgenommen – und teilweise zu Gegensätzen vergrößert.

Bild: de.wikipedia.org/HaTe/CC

Mittelteil des faschistischen Mussolini-Reliefs am ehemaligen Haus des Faschismus in Bozen (Südtirol). Benito Mussolini hoch zu Ross und mit faschistischem Gruß.

Insbesondere die Singularität des deutschen Völkermordes an den europäischen Jüdinnen und Juden ließ den italienischen Faschismus in einem vergleichsweise milden Licht erscheinen. Der bis dahin gebräuchliche Begriff »deutscher Faschismus« kam in der radikalen Linken aus der Mode, faschismustheoretische Überlegungen wurden mit Hinweis auf Georgi Dimitroffs reduktionistische Formel – der Faschismus sei »die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« – schnell als Nonsens abgetan. Dieser ideologische Pendelschlag ist zwar psychologisch nachvollziehbar, steht aber dem Gewinn besserer Einsichten im Wege.

Kampfbegriff

Für konservative Wissenschaftler, insbesondere in Deutschland, sind Faschismustheorien ohnehin abwegig; Faschismus halten sie für einen linken Kampfbegriff oder – in Übereinstimmung mit Ernst Nolte – für das Phänomen einer vergangenen Epoche. Seit der »Wiedervereinigung« gilt ihr Interesse dem Vergleich der »beiden deutschen Diktaturen« und der Verbreitung einer kaum modernisierten »Totalitarismustheorie«, die in der Berliner Republik den Rang einer Staatsdoktrin erworben hat. Dagegen hat seit Ende der 1990er Jahre u.a. der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann vehement Einspruch erhoben. Seine lesenswerte Abrechnung mit den bisherigen Totalitarismustheorien1 endet allerdings mit der Forderung, nunmehr eine »neue Totalitarismustheorie« zu entwerfen.

Da er selbst sich dazu aber »nicht berufen« fühlte, wandte er sich wieder den Faschismustheorien zu; 2002 erschien der von ihm und Werner Loh herausgegebene Sammelband »›Faschismus‹ kontrovers«2 , in dem um die Sinnhaftigkeit eines »generischen Faschismusbegriffs« gestritten wurde. Während die Mehrheit der DiskutantInnen  sich für einen Gattungsbegriff Faschismus aussprach, verteidigten andere mehr oder weniger aggressiv das Totalitarismus-Konzept; in den Beiträgen von Werner Röhr, Reinhard Kühnl und Karin Priester, die die soziale Funktion des Faschismus betonen, wird zudem deutlich, dass einige marxistisch inspirierte Faschismuskonzeptionen besser sind als ihr Ruf. Wippermanns Plädoyer, die bestehenden »Globaltheorien« zu verwerfen und durch eine Kombination verschiedener »Theorien mittlerer Reichweite« zu ersetzen, wurde zwar insgesamt positiv aufgenommen – umgesetzt wurde sie bislang nicht.

In der deutschen Geschichtswissenschaft dominierten lange Zeit Einzelstudien über den Nationalsozialismus, in denen wichtige Aspekte zusammengetragen wurden. Die vergleichende Faschismusforschung – notwendige Voraussetzung für Theoriebildung –fristete dagegen jahrelang ein Schattendasein. Positiv aus dem Rahmen des Üblichen fällt Sven Reichardts 2002 veröffentlichte umfangreiche Studie »Faschistische Kampfbünde«3 , die »Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA« zum Thema hat. Zu Recht hält Reichardt die Unterschiede für weniger bedeutsam als die Gemeinsamkeiten.

Den faschistischen Kampfbund, in Italien wie in Deutschland, sieht er als »zunehmend geschlossenes System einer Subkultur der Gewalt«, einer Gewalt, die sich primär gegen den Kommunismus und die Arbeiterbewegung richtet und zum »Inhalt des faschistischen Lebensstils« wird; gerade die gewalttätige Demonstration der eigenen Stärke gegen die Arbeiterbewegung macht die Faschisten für die herrschenden Eliten interessant und wird mit offener Förderung belohnt. Durch einen »sozialfürsorgerischen Militarismus« werden die faschistischen Kleingruppen mit dem Führer an der Spitze für ihre Mitglieder zur Ersatzfamilie, das Versammlungslokal zum Aufmarschgebiet für gewalttätige Aktionen. Zum faschistischen »Habitus« gehören auch demonstrative Kompromisslosigkeit, Vitalität, Jugendkult, Kameradschaft und Virilität. Reichardts Studie endet mit fünf idealtypischen Merkmalen des Bewegungsfaschismus: Gewalttätigkeit; eine »informelle, aber gleichwohl effektive Organisationsstruktur«; Jugendkult; Führerprinzip; die Zielvorstellung »von einer nicht an soziale Interessen gebundenen Art von entökonomisierter Volksgemeinschaft«.

Anstöße zur Debatte

Anstöße für die faschismustheoretische Debatte kamen in den vergangenen Jahren vor allem aus Großbritannien und den USA. Namentlich der Oxforder Historiker Roger Griffin  sorgte mit seinen Thesen für eine Kontroverse, die immer noch andauert. Seine immer wieder zitierte Formel lautet: »Faschismus ist eine Gattung politischer Ideologie, deren mythischer Kern in seinen verschiedenen Permutationen eine palingenetische Form von populistischem Ultranationalismus ist.« Mit anderen, verständlicheren Worten: Laut Griffin ist es die »nationale Wiedergeburt«, die sich alle Faschisten zum Ziel gesetzt hätten: Ihr »palingenetischer Ultra-Nationalismus« (palingenesis = Wiedergeburt) richtet sich gegen Verweichlichung und Dekadenz; als Gegenmittel dient  die »Reinigung des Volkskörpers« von Feinden und »Schmarotzern«. Zum speziellen Fall des deutschen Faschismus erinnert Griffin an Ian Kershaws Formulierung, der Nazismus sei »sowohl einzigartig als faschistisch« (both unique and fascist). In einem Interview aus dem Jahre 2004 hat Griffin seine »Ein-Satz-Definition« zugleich relativiert und verteidigt. Sie habe einen »heuristischen« (erkenntnisfördernden) Wert, »insofern sie den ideologischen Kern des Faschismus identifiziert als den utopischen Antrieb, das Problem der Dekadenz zu lösen durch die radikale Erneuerung der Nation, verstanden als organisches Ganzes.«4

Anders als Griffin behauptet, gibt es über das von ihm formulierte  »faschistische Minimum« keinen »neuen Konsens«. Das zeigt die internationale Debatte, die 2003/2004 in der Zeitschrift »Erwägen Wissen Ethik« geführt und 2006 in einem von Roger Griffin, Werner Loh und Andreas Umland herausgegebenen Sammelband dokumentiert wurde.5 So bezeichnen u.a. Klaus Holz und Jan Weyand Griffins These, »der Mythos einer nationalen Wiedergeburt sei spezifisch für faschistische Ideologien«, als »empirisch falsch« und belegen das am Beispiel des Antisemiten und Nationalisten (nicht Faschisten!) Heinrich von Treitschke, der im »Berliner Antisemitismusstreit« von 1879 seine Vision einer »Wiedergeburt der deutschen Volkes« zur Agitation gegen das »neujüdische Wesen« nutzte, das die deutsche Identität untergrabe. Holz/Weyand warnen generell vor der »definitorischen Verabsolutierung einzelner Merkmale« des Faschismus, und Sven Reichardt spricht sich dafür aus, das Gemeinsame nicht nur in der Ideologie zu suchen, sondern »die faschistische Ideologie im Zusammenhang mit der Frage nach der strukturierenden Kraft des Handelns« zu untersuchen.

Ein fassbares Ergebnis brachte die Debatte nicht. Selbst die Bedeutung des Themas wird sehr unterschiedlich bewertet. Während Walter Laqueur in seinem Nachwort eher von einem Rückgang des wissenschaftlichen Interesses am Faschismus ausgeht – weil der Faschismus, zumindest in Europa, seine Zeit hinter sich habe – erwartet Wolfgang Wippermann vermehrte Wissensproduktion: »Die Faschismusdiskussion ist also noch keineswegs vorbei. Vielleicht fängt sie sogar erst richtig an.« Roger Griffin, der Initiator der Debatte, zieht sich angesichts massiver Kritik darauf zurück, es gebe einen »neuen ›neuen Konsens‹« – nicht in der Sache, wohl aber in der Bereitschaft »to promote a healthy Erwägungskultur in this area of the human science«. Womit der von der Zeitschrift »Erwägen Wissen Ethik« programmatisch verkündete Stil wissenschaftlicher Auseinandersetzung gemeint ist. Darin hat auch die Polemik ihren Platz, hebt wiederum Wippermann hervor.

Dass auch ein inhaltlicher Konsens in Form einer Synthese unterschiedlicher Ansätze möglich scheint, geht aus Sven Reichardts Artikel »Neue Wege der vergleichenden Faschismusforschung hervor«, mit dem Mittelweg 36, die Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, ihren Themenschwerpunkt im Februar/März-Heft 2007 einleitet.6 Im Rückblick auf die vergangenen eineinhalb Jahrzehnte unterscheidet Reichardt vier Faschismusmodelle: Roger Griffins »Bestimmung des Faschismus als Ideologie«; Roger Eatwells »Bestimmung des Faschismus als Matrix des Dritten Weges«; Robert O. Paxtons »Stufenmodell des Faschismus«; Michael Manns »sozialgeschichtliche Bestimmung des Faschismus«. Den neuen Definitionsversuchen gemeinsam sei, dass sie nicht mehr an einem »statischen Merkmalskatalog« orientiert, sondern »prozessual ausgerichtet« seien. Eine von Griffin ausgehende »Innovation« sieht Reichardt darin, »die Selbstbeschreibung und Selbstrepräsentation der Faschisten ernst zu nehmen und in die Faschismusdefinition selbst aufzunehmen«. Michael Mann habe dagegen »die gleichermaßen aus Konsens und Gewalt zusammengefügte Herrschaftsstruktur des Faschismus herausgearbeitet.« Was noch fehle und – »neben der geschlechtergeschichtlichen Dimension« – zu den »wichtigsten Desideraten der neuen Faschismustheorie« zu zählen sei, ist laut Reichardt »eine überzeugende Integration von Rassismus, ethnischer Säuberung und Genozid in ein übergreifend-vergleichendes Faschismusmodell«.

Paxtons Stufenmodell

Unter den von Reichardt genannten neueren Erklärungsversuchen ragt Robert O. Paxtons Stufenmodell heraus. Paxton (geboren 1932) ist emeritierter Professor für Geschichte an der Columbia University New York. In seinem 2004 erschienenen Buch »The Anatomy of Fascism« fasst er wesentliche Erkenntnisse seines Forscherlebens zusammen. Auf dem Cover der deutschen Ausgabe von 2006 steht eine Art Leitsatz: »Die politische Gefahr des Faschismus ist keineswegs überwunden. Auf einer ersten Stufe existiert er auch heute in allen größeren Demokratien.«7 Auf diese erste Stufe, das Entstehen einer faschistischen Bewegung, folgt die zweite, in der es der Bewegung gelingt oder auch nicht, »Wurzeln zu schlagen« und sich für die dritte Stufe, die Übernahme der Macht, zu empfehlen.

»Wie es den Faschisten gelang, Teile ihrer antibürgerlichen Rhetorik und eine ganze Menge ihrer ,revolutionären’ Aura zu bewahren und zugleich praktische politische Allianzen mit dem Establishment einzugehen, ist eines der Mysterien ihres Erfolges«, schreibt Paxton. Indem er Italien, Deutschland und Frankreich vergleicht, zeigt er, dass der Erfolg der Faschisten nicht nur von ihren Fähigkeiten zu flexibler »Realpolitik« abhing, sondern von den Entscheidungen ihrer potenziellen bürgerlichen Bündnispartner. Das gilt nicht nur für die Phase der Machtübertragung, sondern auch für die vierte Stufe, die Festigung des Faschismus an der Macht. Weit davon entfernt, die Verantwortung der Kapitalisten für die Etablierung des Faschismus in Italien und Deutschland zu relativieren, widerspricht Paxton doch frühen marxistischen Deutungen, die von der revolutionären Bewegung bedrohte Bourgeoisie sei geradezu gezwungen gewesen, »zum Faschismus zu greifen«, um den Kapitalismus zu retten.

Am wenigsten überzeugend ist Paxtons Darstellung der fünften und letzten Stufe, überschrieben »Radikalisierung oder Entropie?« Das gilt insbesondere für seinen »Versuch einer Erklärung für den Holocaust«. Zwar hält er – in Übereinstimmung mit der »intentionalistischen« Interpretation – »eine Art mündlichen Befehls« Hitlers für plausibel, zugleich aber macht er der »funktionalistischen« Deutung, der Völkermord sei das Ergebnis »kumulativer Radikalisierung« gewesen, unnötige Zugeständnisse. Zu gute halten kann mag Paxton, dass bei der Niederschrift seines Buches die bislang überzeugendste Erklärung für den Holocaust noch nicht vorlag: Saul Friedländers umfangreiches Werk »Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945« (München 2006). Darin kommt Friedländer zu dem Schluss, dass die Entscheidung für den Völkermord »erstmals im Oktober (1941) oder sogar noch früher erwogen worden sein« mag, dass sie aber endgültig erst getroffen worden sei, und zwar von oben, »als die Vereinigen Staaten in den Krieg eingetreten waren, die sowjetischen Truppen Gegenangriffe führten und der gefürchtete ›Weltkrieg‹, im Osten und im Westen, Wirklichkeit wurde.«

Während Friedländer sich in der Frage des Zeitpunkts der Entschlussbildung zu Recht nicht genau festlegt, lässt er in der noch umfassenderen Frage nach den Motiven des Mordprogramms keinen Zweifel. Der antijüdische Fanatismus der Nazis, der zunehmend auch die Massen der »Volksgenossen« erfasste, war kein Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck – eine Weltanschauung, nach der es im Weltkrieg um Sieg oder Untergang ging. Nur eine Seite konnte überleben – das deutsche Volk oder das »Weltjudentum«, das in gleicher Weise den Bolschewismus und die Plutokratie zu Werkzeugen seiner Welteroberungspläne gemacht hatte.

So bestätigt auch Paxtons Stufenmodell des Faschismus, was im Grunde auf der Hand liegt: Dass man mit einer allgemeinen Faschismustheorie die Singularität des deutschen Menschheitsverbrechens nicht erfassen kann. Das spricht allerdings keineswegs gegen diese Theorie, sondern nur gegen die Erwartung, in ihr eine die Welt erklärende Formel zu finden.

Dieser Versuchung kann auch Paxton nicht ganz widerstehen, wenn er am Schluss seines Buches eine »operationalisierbare Kurzdefinition« formuliert: »Faschismus kann definiert werden als eine Form des politischen Verhaltens, das gekennzeichnet ist durch eine obsessive Beschäftigung mit Niedergang, Demütigung oder Opferrolle einer Gemeinschaft und durch kompensatorische Kulte der Einheit, Stärke und Reinheit, wobei eine massenbasierte Partei von entschlossenen nationalistischen Aktivisten in unbequemer, aber effektiver Zusammenarbeit mit traditionellen Eliten demokratische Freiheiten aufgibt und mittels einer als erlösend verklärten Gewalt und ohne ethische oder gesetzliche Beschränkungen Ziele der inneren Säuberung und äußeren Expansion verfolgt.«

Ob diese Definition besonders hilfreich ist, mag bezweifelt werden. Paxton selbst räumt ein, dass der Faschismus dadurch »nicht besser erfasst wird als eine Person durch einen Schnappschuss.« Es ist weniger Paxtons Definition als sein Diskussionsstil, der einen Konsens möglich erscheinen lässt. Der Wille, Faschismus verstehen zu lernen, um seine Ausbreitung zu verhindern, bedeutet für Paxton auch, anderen ebenso parteilichen Ansätzen, auch marxistischen, mit Respekt zu begegnen. Davon können gerade deutsche Linke einiges lernen.

Jens Renner ist Redakteur der Zeitung analyse & kritik

Literatur
· Sternhell, Zeev / Sznajder, Mario / Asheri, Maia (1999): Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini. Hamburger Edition, Hamburg
· Sternhell, Zeev (2002): Faschistische Ideologie. Eine Einführung. Verbrecher Verlag, Berlin

  • 1Wolfgang Wippermann: Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute. Darmstadt 1997
  • 2Werner Loh und Wolfgang Wippermann: Faschismus kontrovers. Stuttgart 2002
  • 3Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA. Köln 2002
  • 4Der umstrittene Begriff des Faschismus. Interview mit Roger Griffin. In DISS-Journal 13/2004
  • 5Roger Griffin/ Werner Loh/Andreas Umland: Fascism Past an Present, West an East. An International Debate on Concepts and Cases in the Comparative Study of the Extreme Right. Stuttgart 2006
  • 6Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung Februar/März 2007, S. 9-99
  • 7Robert O. Paxton: Anatomie des Faschismus. München 2006