Verdrängt und vergessen
Joachim PerelsDer Philosoph und Publizist Theodor Lessing
»Prof. Lessing ermordet. Revolveranschlag in Marienbad. Schuss durchs Fenster.« Mit dieser Überschrift erschien am 31. August 1933 das »Prager Tageblatt«. Der exponierte hannoversche Jude und bekannte sozialdemokratische Schriftsteller und Philosoph wurde eines der frühen Opfer jenes rechtszerstörerischen Prozesses, den die Regierung Hitler von der Machtübernahme an systematisch organisierte. Noch im Exil stellte Lessing für die Nazis eine Gefahr dar. Mit dem Gesicht nach Deutschland nahm er in vielen Artikeln die neue Schreckenszeit ins Visier.
Ein 1933 in Prag gedruckter Artikel liest sich wie ein Resümee seines Denkens. Fichte und Kant sind seine Gewährsleute, die, gegen eine autoritäre Ordnung gesellschaftlicher Unmündigkeit, den Gedanken der Menschenwürde aller begründen. Den von den Nazis propagierten Kampf der Völker ums Dasein nennt Lessing ein »Bullen-Ideal, wo Macht auch schon Recht […] ist.«1 Für ihn gilt, gegenwartsnah, ein Satz von Kant: »Das Ziel der Geschichte ist die Verwirklichung des idealen Staats […]. Dieser ist keineswegs das durch Sprache, Volkssitte und Überlieferung gekennzeichnete Konkretum. Es ist der Bereich der […] Vernunft. Das will sagen: Die Ermöglichung des Neben-Einander auch ganz verschiedener Völker, Sprachen und Sitten.«
Theodor Lessing, geboren 1872, war ein Kulturphilosoph, der auf vielen gesellschaftlichen Feldern präsent war. Alles andere als ein spezialistischer Brotgelehrter war er ein universeller, von Schopenhauer und Nietzsche, aber auch von der Arbeiterbewegung beeinflusster Geist, dessen »auf die Verwirklichung von Utopie« zielende Kritik der bürgerlichen Gesellschaft die unterschiedlichsten Formen annahm. Im Zentrum seines Denkens stand eine »Philosophie der Not«, geleitet von der Maxime: »Mindere die Not«, denn »Macht, brutale Macht [...] ist die einzige Triebgewalt der Geschichte.«
Im Ersten Weltkrieg schreibt Lessing, nach einer kurzen Bejahung des militärischen Kampfes Deutschlands, ein geschichtsphilosophisches Buch mit dem Titel »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (1919)« – ein »Aufschrei wider Zeit, Vaterland und Weltkrieg.« Der Legitimation des großen Mordens durch die wilhelminische Geschichtswissenschaft setzt Lessing die unverstellte Anschauung entgegen, die die Zerstörung jeglichen Sinns durch die wechselseitige Erzeugung unendlicher Not jedermann sichtbar macht.
In der Tradition der Arbeiterbildung
Auf die Überwindung des Obrigkeitsstaats, der die sozialen Antagonismen, nicht nur durch das Drei-Klassenwahlrecht in Preußen, für unveränderlich erklärte, reagiert Lessing, gemeinsam mit seiner Frau Ada Lessing Begründer der Volkshochschule Hannover, mit einem Programm, das den bildungsfern gehaltenen Schichten eine emanzipatorische Perspektive eröffnet. In der Tradition der Arbeiterbildung schreibt er: »Männer [...] und Frauen, verbraucht müde, von mindestens achtstündiger schwerer Körperarbeit [sind] dennoch bemüht, sich fortzubilden, dennoch bewegter Seele und somit himmelweit überlegen der todgeweihten Gesellschaft der ›Gebildeten‹.« Diese Überlegenheit gründet in dem Einsatz für eine Gesellschaft, in der das Wissen als »Vorrecht für Bevorzugte« überwunden und die gesellschaftliche Anwendung des Wissens zu einer »Lebensökonomie« aller geworden ist.
Auf einem anderen Feld
In vergleichbarer Weise rückt Lessing auf einem anderen Feld die Differenz zwischen der rechtlichen Gleichheit und gegenläufigen Herrschaftsinteressen mit subtiler Schärfe in den Blick – nämlich in seinem Buch »Haarmann« (1924), ein Klassiker kritischer Prozessanalyse, die auf einer eingehenden Beobachtung des Gerichtsverfahrens beruht. Lessing legt nicht nur den Finger auf das Skandalon, dass ein Kumpan des Massenmörders Haarmann fälschlicherweise als Täter eingestuft und zum Tode verurteilt wurde, er zeigt auch, wie Wechselbeziehungen zwischen Polizei und kriminellem Milieu die unparteiische, von der Strafprozessordnung gebotene Erhellung des Geschehens behindern.
Lessings Judentum schließlich, das in vielen seiner Schriften zum Ausdruck kommt, schärfte seinen Blick für die Zukurzgekommenen und Verfolgten. Er war in der zionistischen Bewegung engagiert und hielt sich doch von einer philosemitischen Überhöhung seines Volkes fern. Er schrieb: »Wir sollten uns abgewöhnen, als Juden verletzt zusammenzuzucken, wenn irgendwer ein hartes, verdammendes Urteil über Jüdisches fällt und in falschem Solidaritätsgefühl zu glauben, dass unsere Art verunglimpft werde, wenn irgendwo auf dem Erdenrund einem jüdischem Menschen Makel anhaftet.« Lessing dachte, im Postulat einer Aufhebung des jüdischen Sonderstatus, den Gedanken der Gleichberechtigung der Juden zu Ende. Mit der rechtlich ermöglichten Überwindung ihrer gesellschaftlichen Ausgrenzung kann sich die Existenzform der Juden von Grund auf ändern: »Wären wir, was wir sein sollen: wahre, würdige Menschen, so gäbe es keine Judenfrage.«
Einer der meistgehassten Anwälte der demokratischen Republik
Neben seiner philosophischen Arbeit spielte Lessing in den politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik eine herausragende Rolle, durch eine Fülle von Veröffentlichungen, vor allem in Zeitungen und Zeitschriften. – vom »Dortmunder Generalanzeiger« über das »Prager Tageblatt«, die hannoversche SPD-Zeitung »Volkswille«, das »Tagebuch« Leopold Schwarzschilds bis zur »Justiz« des Republikanischen Richterbunds.
Er war einer der meistgehassten Anwälte der demokratischen Republik. Seine Interventionen treffen die reaktionären Kräfte, die die neue politische Ordnung, mit Zustimmung des Reichsgerichts, als »Judenrepublik« diffamieren, an ihren empfindlichsten Stellen.
Hans Mayer, wie Lessing Sozialist und jüdischer Emigrant aus Deutschland, der in der Schweiz überlebte und dort den Begriff des Mitleids für die Wahrnehmung der barbarischen Folgen des Hitler-Regimes ins Zentrum rückte, charakterisierte 1969 in einem Vortrag in der Volkshochschule Hannover – Mayer war an der dortigen Technischen Hochschule Professor für Literaturwissenschaft – Theodor Lessing mit den folgenden Worten: »Sonderbar ist, dass er, von heute aus gesehen, fast immer Recht hatte, […] dafür von seinen Zeitgenossen stets herzlich kopfschüttelnd ausgelacht zu werden pflegte […]. Dieser noble und sensible Mensch litt unter der Rüpelei des Alltagslebens.« Mayer fährt fort: »Lessing […] ist nicht daran zugrunde gegangen, dass er unzeitgemäß war, den Mächtigen missfiel. […] Zugrunde gegangen ist er an einer Verschwörung« der zur Macht gelangten Nazis.2
Bei aller Sympathie für Lessing sieht Mayer bei ihm einen Widerstreit zwischen philosophischem Pessimismus, der die Möglichkeit der Schaffung einer humanen Weltordnung ausschließt, und der Aufklärung, die ebendies für geschichtlich möglich hält.
Tatsächlich neigte Lessing gelegentlich dazu, politische Begriffe, weil er offenbar ihre Deckung durch die Realität für ungewiss hält, so aufzulösen, dass sie Formen der Beliebigkeit annehmen. So meint Lessing beispielsweise, dass Sozialismus auf der Basis einer autoritären Ordnung möglich sei. Er schreibt: »Es ließe sich […] denken, dass eine monarchische, oligarchische Partei das gesamte Programm der Sozialdemokratie übernimmt«. Mit dieser Auffassung negierte der Sozialdemokrat Lessing das Heidelberger Programm der SPD von 1925, für das der Sozialismus identisch ist mit der demokratischen Verfügung über den gesellschaftlichen Produktionsprozess. Wenn die Fremdbestimmung der Arbeitenden durch oligarchische, gar monarchische Machtstrukturen zum möglichen Inhalt des Sozialismus erklärt wird, wird der Sozialismus mit dessen Gegenteil verwechselt.
Freilich ändern diese gelegentlichen theoretischen Randunschärfen Lessings nichts an seiner Bedeutung als Gegenfigur zu der breiten gegenrevolutionären Bewegung der Weimarer Republik, die mit steigendem Erfolg die Prinzipien der Demokratie und der rechtlichen Gleichheit bekämpfte.
Angesichts seiner großen Bedeutung in der Weimarer Republik ist es umso tragischer, dass Lessing nach dem Ende der Nazi-Diktatur lange Jahre ein weitgehend Unbekannter war. Ebendies hatten seine nationalsozialistischen Feinde intendiert, als sie seine Schriften verbrannten und sogar sein Grab auf dem jüdischen Friedhof in Marienbad beseitigten.
Die große Verdrängung
Die Tilgung der Erinnerung an Theodor Lessing ist ein Teil der großen Verdrängung, die für die frühe Bundesrepublik charakteristisch ist. Sie drückte sich in einem vorkritischen Bild der NS-Diktatur aus. Das Regime galt als ein normaler Staat, dessen Funktionsträger in der Justiz, im Militär und in den Universitäten vom Terror der nationalsozialistischen Spitze unberührt geblieben seien.
Wenn aber die Verfolgungspraxis der Diktatur lediglich ein Randphänomen war, geraten auch die Opfer an den Rand der Aufmerksamkeit. Im Jahr 1956, in dem der Bundesgerichtshof den SS-Richter, der Dietrich Bonhoeffer in den Tod schickte, freisprach, wird in einem Beitrag in der Festschrift zur 125-Jahr-Feier der Technischen Hochschule Hannover die politisch motivierte Ausgrenzung Lessings regelrecht verdrängt. Lessings »Lehrauftrag wurde«, heißt es in dem Beitrag der Festschrift, »im Sommersemester 1933 gestrichen«. Die politische Stoßrichtung der Entfernung Lessings von der Technischen Hochschule löste sich auf diese Weise in ein Nichts auf. Das war kein Zufall. Der Verfasser des Artikels von 1956, Wilhelm Böhm, Privatdozent an der Hannoverschen Hochschule für Kulturphilosophie und deutsche Literatur, hatte sich 1933 dem örtlichen »Kampfausschuss« als Helfer bei der Vorbereitung der Bücherverbrennungen angeboten und dafür, wie er schrieb, schon »einen Arm voll Bücher herausgelegt«.
Die Abwehr, der Hass und die tödliche Verfolgung, denen Lessing ausgesetzt war, hingen mit dessen republikanischer Gesinnung zusammen, die sich in seinen vielfältigen Publikationen mit starker öffentlicher Wirkung niederschlug.
Lessings bekannteste Kritik richtete sich in einem 1925 im »Prager Tageblatt« veröffentlichten Artikel gegen den Kandidaten des Obrigkeitsstaats für das Amt des Reichspräsidenten, Paul von Hindenburg, Ehrendoktor der Technischen Hochschule Hannover. Lessing lenkte den Blick auf die geistige Ausstattung des zukünftigen ersten Mannes der parlamentarischen Demokratie. Der Artikel endete mit den Sätzen: »Leider zeigt die Geschichte, dass hinter einer Zero – soll heißen einer intellektuell schwachen Figur – immer ein Nero verborgen steht.« Diese Bemerkung, die dazu führte, dass Lessing nach einer völkischen Großkampagne seine Lehrtätigkeit an der Technischen Hochschule noch im selben Jahr aufgeben musste, erwies sich in der Endphase der Weimarer Republik als geschichtlich überaus zutreffend. Ignorant in staatsrechtlichen Fragen, bereitete Hindenburg unter Missachtung der Weimarer Verfassung den Weg für die Herrschaft des Nero Hitler.
Um nur ein Beispiel seiner Durchbrechungen der Weimarer Verfassung zu nennen: Mit der am 20. Juli 1932 exekutierten Notverordnung ordnete Hindenburg die staatsstreichartige, durch die Verfassung nicht zu rechtfertigende Absetzung der geschäftsführenden, von Vertretern der Sozialdemokratie, des Zentrums und der Deutschen Demokratischen Partei gebildeten preußischen Regierung an. Damit wurde die wichtigste Bastion der Weimarer Demokratie geschleift, deren Polizei in der vordersten Front der Auseinandersetzung mit der NSDAP stand und nun durch einen antirepublikanischen Reichskommissar ihr Gewicht verlor.3 Somit war Hindenburg in Verfassungsfragen tatsächlich ein Zero.
Gegen Antisemitismus und Militarismus
Lessing stellte sich der einflussreichsten Ideologie der Feinde der demokratische Republik engagiert und ohne jede Furcht entgegen: dem Antisemitismus, der an den Universitäten, in der Justiz und den protestantischen Kirchen, vor allem aber in der Propaganda der NSDAP eine machtvolle Wirkung entfaltete.
Joseph Goebbels denunzierte Lessing 1930 in einer Rede in Leipzig. Er projiziert darin auf den verhassten Juden Lessing, den bekannten Autor von »Der jüdische Selbsthass« (1930), eine Äußerung, die dieser nie gemacht hat, die aber geeignet ist, ihn aus der Gesellschaft hinauszudefinieren. Wahrheitswidrig behauptete Goebbels, Lessing habe den Reichpräsidenten mit dem Massenmörder Fritz Haarmann verglichen.
Die eigenen Erfahrungen mit dem Antisemitismus, deren Kern darin besteht, den Juden das anzulasten, was man selbst ihnen antun will, fasste Lessing ein Jahr vor der Machtübernahme der Nazis in die Worte: »Sie möchten die Juden ausrotten wie Schlangen und Raubtiere, wozu sie aus ihnen natürlich Schlangen und Raubtiere machen müssen.« Exakt antizipiert Lessing bereits 1932 die im Antisemitismus angelegte Möglichkeit der Vernichtung der Juden, wenn er weiter schreibt: »Am einfachsten [...] wäre es, die 12 oder 14 Millionen Juden totzuschlagen.«
Die nicht weniger wichtige Ideologie militärischer Machtstaatlichkeit, die die antirepublikanischen Organisationen und ihre intellektuellen Adepten massenwirksam propagierten, überführte Lessing ihrer grenzenlosen Verachtung des Lebens der vielen Einzelnen. Lessing bringt den Tötungszwang im Krieg auf einen konkreten Begriff: »Die große Masse des Volkes ist immer nur das Schlachtopfer, das einzusetzende ›Menschenmaterial‹ [...]. Der unbekannte Soldat stirbt. Den Ruhm erntet der Feldherr, jener der das Herz hat, Unbekannte zu opfern. Wer nennt die Namen der geopferten Proletarier. Sie sinken alle dahin und werden vergessen.«
Mit Hindenburgs Machtübertragung an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 werden jene politischen Tendenzen, die Lessing so entschieden bekämpft hatte, zur Staatsdoktrin: die Zerstörung der demokratischen Rechtsordnung, der Antisemitismus und die Verherrlichung militärischer Machtentfaltung.
Der angekündigte Mord
Nun war das Lebens Theodor Lessings unmittelbar bedroht, mehr noch als, trotz aller Anfeindungen, in der Weimarer Republik. Der, wie Lessings Biograph Rainer Marwedel formuliert4 , »Parteihellseher« der NSDAP, Erik Jan Hanussen, der große Massen hinter sich versammelte und in der Berliner Scala frenetisch beklatscht wurde, kündigte bereits Ende 1932 den Tod Lessings an. Dies war nichts anderes als ein kaschierter Mordaufruf, der durch das völkische Schicksal vollstreckt werden würde. Schon Anfang Januar 1933 attackierten drei SA-Männer Lessing in der Straßenbahn mit den Worten, dass Hitler alle Juden hängen werde.; in Hannover gebe es einen gewissen Lessing, der Jude sei, man müsse ihn »unverzüglich entfernen«.5
Nach der Machtübernahme der Nazis veränderte sich Lessings Situation grundlegend. Am 28. Februar 1933 wurde mit der Reichstagsbrandverordnung die eigentliche »Verfassungsurkunde« (Ernst Fraenkel) des Dritten Reiches in Kraft gesetzt.6 Sie beseitigte das System der politischen und persönlichen Freiheitsrechte und übertrug der Diktaturregierung schrankenlose Vollmachten. Neben der Suspendierung der Garantie der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, dem Schutz vor Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen und der Garantie des Brief-, Post- und Fernsprechgeheimnisses wurde die »Beschränkung der persönlichen Freiheit [...] außerhalb der sonst hierfür geltenden Grenzen [für] zulässig« erklärt. Dies war machttechnisch besonders gravierend, weil auf diese Ermächtigung die Aufhebung der persönlichen Freiheit und die Einweisung in die Konzentrationslager gestützt wurde. Auch das an die persönliche Freiheit gebundene Recht auf Leben, das im Strafgesetzbuch mit den Bestimmungen über Totschlag und Mord seine konkrete Ausformung findet, war nun nicht mehr vor der Staatsgewalt geschützt.
Am 7. Mai 1933 verkündete der neue Reichskanzler Adolf Hitler mit unverblümter Deutlichkeit die Ziele der schrankenlosen, souveränen Diktatur, die die nationalsozialistischen Parteitruppen, die SA und die SS, zu Hilfspolizisten mit staatlichen Befugnissen machte. Er forderte die SA auf, die »Novemberverbrecher [...] zu verfolgen bis in die letzten Schlupfwinkel hinein« und »dieses Gift restlos aus unserem Volkskörper« zu entfernen. Und der preußische Ministerpräsident Göring erklärte drei Tage nach Inkraftsetzung der Reichstagsbrandverordnung gegenüber der SA: »Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts.«
Opfer des mit der Brandverordnung freigesetzten, staatlich angeleiteten Terrors waren bis zum Oktober 1933 500 bis 600 Menschen, die alle zu Tode gebracht wurden. 100.000 freie Bürgerinnen und Bürger wurden vom NS-Staat in Konzentrationslager verbracht, vor allem Juden und Vertreter der Arbeiterbewegung. Kurt Schumacher, Vorsitzender der württembergischen SPD, antwortete auf die zynische Frage des KZ-Aufsehers, warum er sich im Konzentrationslager befinde, mit dem Satz: »Weil ich zur besiegten Partei gehöre.«
Die Juden aber waren die ersten Mordopfer. Im Nazi-Liederbuch steht der Vers: »So stehen die Sturmkolonnen / Zum Rassenkampf bereit, / Erst wenn die Juden bluten, / Erst dann sind wir befreit«. In ausländischen und deutschen Zeitungen wird kontinuierlich über die Angriffe der SA auf die Existenz und das Leben der Juden berichtet. In der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« vom 12. April 1933 – Theodor Lessing war knapp 14 Tage im Exil – heißt es: »Der jüdische Rechtsanwalt Dr. Weiner in Chemnitz wurde in der Nacht zum Dienstag von mehreren Männern, die SA-Binden und braune Mützen trugen, in seiner Wohnung aufgesucht und gewaltsam in einem Kraftwagen fortgeführt. Am Morgen fand man [...] bei Mittweida Dr. Weiner mit einem Kopfschuss tot auf.«
»Sprachmund« der Eingesperrten
Lessing war sich der Gefahr, der er in Marienbad ausgesetzt war, wohl be-wusst. Er sagte: »Sollte ein Fanatiker mich niederschlagen, so bete ich nur, dass es schnell gehen möge.« Dennoch nahm er die Möglichkeit nicht wahr, nach Palästina, China oder England zu gehen. Der Grund war, dass er der »Sprachmund« derer sein wollte, die in Deutschland in Gefängnissen und Lagern eingesperrt waren.
Die Ermordung Lessings – dem nur fünf Tage zuvor, am 25. August 1933, noch die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden war – in Marienbad setzte die Tötung politischer Gegner als Mittel der Herrschaftssicherung nun sogar im Ausland fort. Ausgeführt wurde der Mord durch zwei SA-Leute. Nach einem Bericht kam der Befehl, den »Volksschädling Lessing beiseite zu schaffen« von SA-Chef Ernst Röhm, der die gewaltförmige Durchsetzung der Diktatur zentral koordinierte. Hatte der tschechoslowakische Staatspräsident, Thomas Masaryk, Lessing einen besonderen Schutz zukommen lassen, so negierten die Häscher des Naziregimes nicht nur die zivilisatorische Grundnorm des Rechts auf Leben, sondern auch die völkerrechtlich gesicherte territoriale Integrität der Tschechoslowakei.
In dem Mord an Lessing wird bereits die später vor allem von Carl Schmitt entwickelte, imperialistische Großraumdoktrin des NS-Regimes praktiziert, derzufolge Deutschland über seine territorialen Grenzen hinaus die Bestimmungsmacht über den europäischen Großraum besitzt. Damit wurde die Beseitigung der Rechtsordnung eines souveränen Staates durch das faschistische Deutschland, welche den späteren Vernichtungskrieg bestimmte, von Anbeginn zu rechtfertigen versucht.
Ein geschichtsphilosophischer Satz eines jüdischen Zeitgenossen lässt sich auf Theodor Lessing münzen. Ernst Bloch, der die NS-Herrschaft im Exil überlebte und in derselben Zeitschrift wie Lessing, nämlich der »Neuen Weltbühne« in Prag publizierte, schrieb: »Wir blicken hier keineswegs zurück. Sondern uns selber mischen wir lebendig ein [...]. Die Toten kommen wieder, ihr Tun will mit uns nochmals werden.«
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus:
Blätter für deutsche und internationale Politik 11/08
www.blaetter.de
- 1Zitate im Text aus Theodor Lessing, Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte. Essays und Feuilletons, hg. von Rainer Marwedel, Darmstadt 1986; Theodor Lessing, Wortmeldungen eines Unerschrockenen. Publizistik aus drei Jahrzehnten, hg. von Hans Stern, Leipzig 1987
- 2Hans Mayer, Theodor Lessing. Bericht über ein politisches Trauma (1969), in: ders., Der Repräsentant und der Märtyrer. Konstellationen der Literatur, Frankfurt a. M. 1971.
- 3Otto Kirchheimer, Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts (1932), in: ders., Funktionen des Staates und der Verfassung. 10 Analysen, Frankfurt a. M. 1972.
- 4Rainer Marwedel, Theodor Lessing,1872–1933. Eine Biographie, Darmstadt 1987.
- 5Vgl. allgemein auch Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland 1933, hg. vom Comite des Delegations Juives (193), Berlin 1983 [1934].
- 6Vgl. auch Dieter Deiseroth, Die Legalitäts-Legende, Vom Reichstagsbrand zum NS-Regime, in: »Blätter«, 2/2008, S. 91–102.