»Aufstand gegen den Tod«
Der Warschauer Ghettoaufstand im April 1943 gibt Zeugnis vom Mut der Verzweiflung des Kampfes gegen die Vernichtung durch die deutschen Besatzer. Fast einen Monat währte der ungleiche Kampf von Ghettobewohnern mit Brandsätzen, Handgranaten und defekten Gewehren gegen die schwerbewaffnete SS-Einheit unter SS-Gruppenführer Jürgen Stroop. Als dieser die Auflösung des Ghettos nach Berlin meldet, gibt es noch immer Widerstand.
In diesem Jahr wurde der 60. Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes mit Gedenkveranstaltungen, wissenschaftlichen Kolloquien und einer Reihe neuer Publikationen begangen. Hanna Krall, polnisch-jüdische Autorin sucht mit ihrem Buch »Dem Herrgott zuvorkommen« eine literarische Annäherung an den Aufstand.
Das Warschauer Ghetto vor dem Aufstand
Nach der Abriegelung des Ghettos im Jahr 1940 leben ca. 500.000 Menschen auf engstem Raum, manchmal mehr als sieben Personen in einem Zimmer zusammen. So gut wie möglich wird das öffentliche Leben, sowie Bildung, Versorgung und wirtschaftliche Interaktion mit der »arischen Seite« Warschaus unter dem Kontrollregime der deutschen Besatzer konstituiert. Es erscheinen illegale Zeitungen, vielfältige politische Parteien nehmen ihre Arbeit wieder auf.
Die Mehrzahl der Bewohner ist jedoch mit der Sicherung des nackten Überlebens beschäftigt. Für elementarste Lebensmittel müssen auf dem polnischen Schwarzmarkt enorme materielle Werte eingesetzt werden. Der Schmuggel ist gefährlich und von einem Geflecht aus SS, jüdischer Polizei und Kriminellen abhängig. Uneigennützige Unterstützung der polnischen Seite haben die Ghettobewohner aufgrund des verbreiteten Antisemitismus der Polen nicht zu erwarten. Als im Juli 1942 die Deportationen nach Treblinka beginnen, haben sich die Lebensbedingungen im Ghetto massiv verschlechtert. Es mangelt an Lebensmitteln, medizinischer Versorgung und funktionsfähigen sanitären Einrichtungen.
Zudem erhöhen die deutschen Besatzer durch ständige Razzien den Druck auf die Ghettobewohner. Bei den ersten Deportationen kommt es bereits zu einem Schusswechsel zwischen jüdischen Ghettokämpfern und deutscher SS. Die Kämpfer hatten sich freiwillig zur Deportation am Sammelplatz eingefunden und schlugen auf ein Signal hin los. Dieser bewaffnete Widerstand bleibt nicht ohne ermutigende Wirkung. Bei nachfolgenden Aufforderungen der SS sich zur Deportation zu sammeln, verstecken sich viele Juden, die Deportationsmaschinerie gerät ins Stocken.
Der Aufstand
Obwohl sich die Lage der Ghettobewohner durch die Deportationen zuspitzt, können sich die heterogenen politischen Untergrundgruppen im Ghetto zunächst nicht auf ein gemeinsames bewaffnetes Vorgehen gegen die Deutschen einigen. Grund hierfür sind sowohl die verschiedenen Einschätzungen der deutschen Zwangsmaßnahmen, als auch die politische Verfasstheit und altersmäßige Zusammensetzung der Untergrundorganisationen. Einige Gruppen lehnen mit Rücksicht auf Kranke, Alte und Kinder und die in ihrer Mehrheit unbewaffnete, politisch nicht organisierte Bevölkerung den bewaffneten Kampf ab.
Sie setzen stattdessen auf die Strategie zivilen Ungehorsams und auf die Aushandlung von Ausnahmeregelungen mit den deutschen Verfolgungsbehörden. Vor allem zionistisch-sozialistische Jugendorganisationen wie Haschomer Hazair drängten auf den Beginn des bewaffneten Kampfes. In ihren Reihen waren vielfach junge Juden organisiert, die ihre Angehörigen bei Deportationen bereits verloren hatten. Ein weiteres Hindernis für den Beginn des Kampfes war mangelnde Zahl und Qualität der Waffen. Sie mussten der Armia Krajowa in monatelangen Verhandlungen abgestrotzt, teuer bezahlt und ins Ghetto geschmuggelt werden.
Die Krajowa trat den jüdischen Kämpfern mit antisemitischen Ressentiments, und mit militärischer Missachtung gegenüber. Schließlich lieferte sie ganze zehn Pistolen. Dennoch wurde Ende Juli 1942 die Zydowska Organizacja Bojowa (ZOB) als bewaffnete Organisation gegründet und koordinierte die militärischen Vorbereitungen für einen Aufstand. Die Deportationen im Januar 1943 beschleunigten diese Vorbereitungen. Den Kämpfern war die militärische Aussichtslosigkeit ihrer Aktionen gegen die SS klar. Ihnen ging es um die Verteidigung ihrer Würde und Identität. Im Frühjahr wussten die Untergrundorganisationen von einer bevorstehenden Deportation. Am 19. April 1943, am Vorabend des Pessachfestes begann der Aufstand.
Das Buch
In den letzten Jahrzehnten sind einige Memoiren von überlebenden Ghettokämpfern erschienen. Unter anderem auch die Erinnerungen des Arztes Marek Edelmann. Das Gedächtnis des Ghettos bildete das Emmanuel Ringelblum-Archiv zu Warschau, in welchem zeitgenössische Dokumente und literarische Zeugnisse aus dem Ghetto aufbewahrt werden. Emmanuel Ringelblum hatte das Archiv während seiner Zeit im Ghetto illegal angelegt und die Archivalien an verschiedenen Stellen im Ghetto vergraben. Dem Wiederauffinden des Archivs Anfang der 50er Jahre verdanken Wissenschaft und Literatur wichtige Informationen über den Ghettoalltag.
Hanna Krall, Jahrgang 1937 lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Polen. Im Mittelpunkt ihres literarischen Schaffens steht die Geschichte der polnischen Juden im 20. Jahrhundert. Krall bekam nach 1990 mehrere internationale literarische Auszeichnungen, ihr Werk erscheint im Frankfurter Verlag Neue Kritik. Dem Warschauer Ghettoaufstand nähert sie sich literarisch mittels einer Montagetechnik aus Interview und Roman in ihrem Buch »Dem Herrgott zuvorkommen«. Angelpunkt des Buches ist die Biographie Edelmanns, der zunächst als Herzchirurg im Lodz unserer Tage portraitiert wird, den Krall hernach jedoch in intensiven Interviewpassagen in seine Vergangenheit als Kommandeur der ZOB zurückführt.
Krall lässt Edelmanns Weggefährten und Mitkämpfer lebendig werden. Die Trauer um den Verlust von Familie, Freunden und eine ganze kulturelle Lebenswelt bekommt Stimme und Sprache in den detaillierten Erzählungen Edelmanns. Keine Regung des Lebens im Ghetto erscheint Krall zu gering. Edelmann öffnet in seinen Antworten dem Leser ein Kaleidoskop des Ghettos und seiner Menschen. Obwohl im besten Sinne selbst ein Held, findet sich bei Edelmann kein Pathos, keine Überzeichnung.
Der Arzt ist um Sachlichkeit bemüht, doch nie kühl in seinen Erinnerungen an Menschen und ihren Schicksalsweg. An einer Stelle fragt Krall Edelmann, warum er Arzt geworden sei. Die Antwort: »Ich muss weitermachen. Mit dem, was ich im Ghetto getan hatte. Für vierzigtausend Menschen [...] haben wir damals einen Entschluss gefasst: Sie sollten nicht freiwillig in den Tod gehen. Als Arzt konnte ich wenigstens für ein Menschenleben verantwortlich sein, darum habe ich diesen Beruf gewählt.« Hanna Kralls Buch zeichnet sich durch eine auf den ersten Blick schlichte, jedoch beim Lesen tiefgehende poetische Gestaltungskraft und Sprache aus. Ein Erinnerungsbuch für die Zukunft.
Literatur:
Hanna Krall: Dem Herrgott zuvor kommen; Roman Verlag Neue Kritik; Frankfurt/Main 1992
Kurzman, David: Der Aufstand – die letzten Tage des Warschauer Ghettos; München 1979
Gutman, Israel: The Jews of Warsaw 1939-1943; USA 1982
Lustiger, Arno: Zum Kampf auf Leben und Tod; dtv; München 1998
Gutman, Israel (Hrsg. u.a.): Enzyklopädie des Holocaust; Bd. III; Argon Verlag, Berlin.
Rotem, Simha; Kazik. Erinnerungen eines Ghettokämpfers; Verlag Schwarze Risse, Berlin.