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Geschichtsrevisionismus in Estland

Einleitung

Am 31. Juli 2010 war es wieder soweit. Wie jedes Jahr trafen sich im Örtchen Vaivara bei Sinimäe im Nord-Osten Estlands die Veteranen der 20. Grenadier- Division der Waffen-SS, um an die Kämpfe im Jahre 1944 gegen die Rote Armee zu erinnern. Diese Treffen finden seit der Unabhängigkeit Estlands, also seit nunmehr zwanzig Jahren, statt. Doch anstatt kleiner zu werden, da die Veteranen langsam aussterben, nehmen immer mehr junge Sympathisanten nicht nur aus Estland, sondern auch aus dem Ausland daran teil. 

Foto: Sergei Stepanov

Organisiert wird die Veranstaltung vom »Verein der Freunde der Estnischen Legion«, der in seiner Satzung unter anderem die »würdige Anerkennung« des Kampfes der Veteranen der Waffen-SS (Estnische Legion) gegen die »sowjetische Besatzung« sowie »ihre Unterstützung mit Worten und Taten« als Ziele benennt. Die »würdige Anerkennung« meint dabei die Forderung, die Kämpfer der Estnischen Legion auf Staatsebene als Freiheitskämpfer anzuerkennen und sie mit den höchsten Staatsabzeichen auszuzeichnen.

Die »Unterstützung mit Worten und Taten« soll durch die Teilnahme an deren Veranstaltungen, die Unterrichtung der Jugend über diesen Teil der Geschichte Estlands sowie den Besuch von historischen Orten und der alten Kriegshelden gewährleistet werden. An den Treffen der Veteranen der Waffen-SS nehmen regelmäßig Mitglieder des estnischen Parlaments teil. Noch bis vor einigen Jahren ließ der Verteidigungsminister an die Veteranen ein Grußwort richten. Auch wird der »Verein der Freunde der estnischen Legion« aus dem Etat des Verteidigungsministeriums finanziell unterstützt. Die Veteranen gelten als Kämpfer für die Freiheit Estlands. Die Kriegsverbrechen, die von ihnen nachweislich verübt wurden, werden in der offiziellen Geschichtsschreibung vollständig übergangen. So wird Geschichtsverfälschung und ein Verschließen der Augen vor rechten Stimmungen in der Gesellschaft bis in die höchsten Staatskreise befördert.

Seit einiger Zeit werden die Treffen von Protesten seitens der antifaschistischen Kräfte begleitet. Die estnische Polizei und der Verfassungsschutz KAPO versuchen, den Protestierenden möglichst viele Unannehmlichkeiten zu bereiten. So wurde der Bus mit Antifas aus Lettland und Litauen wegen angeblicher technischer Defekte an der estnischen Grenze gestoppt und mehreren Mitgliedern des ›Lettischen Antifaschistischen Komitees‹ wurde die Einreise untersagt. Ebenso durften die Mitglieder des ›Finnischen Antifaschistischen Komitees‹ nicht einreisen.

Ein weiterer Grund für die Hoffähigkeit der rechten Stimmungen ist die breit problematisierte Anwesenheit der russischsprachigen Minderheit in Estland, die bis zu 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Einige sind Nachkommen von Russen, die schon immer in Estland lebten, doch die Mehrheit kam als Arbeiter, als Estland noch Teil der Sowjetunion war. Viele von ihnen sind staatenlos oder besitzen die russische Staatsbürgerschaft. Der Großteil konnte sich nicht in den neuen Staat integrieren, so dass Estland zwei Parallelgesellschaften aufweist. Dies macht die Ausgrenzung sehr einfach. Die Russen und ihre Nachkommen, manche schon in der dritten Generation, werden immer noch als Fremde und als »Okkupanten« beschimpft und diskriminiert. Die Sprachkommission überprüft regelmäßig die estnischen Sprachkenntnisse, nicht nur bei Staatsbediensteten, sondern auch bei Verkäufern und Taxifahrern und kann sogar Firmenbesitzer anweisen, Mitarbeiter mit schlechten Sprachkenntnissen nicht weiter zu beschäftigen. Russische Schulen werden vermehrt geschlossen. Vor allem eine höhere Weiterbildung bleibt den Absolventen dieser Schulen in Estland häufig versperrt. Die russischsprachige Minderheit weist alle Anzeichen der Diskriminierung auf. Ihre Verdienstmöglichkeiten sind wesentlich geringer und auch die Arbeitslosigkeit unter ihnen ist höher als unter den Esten. Kein höherer Regierungsposten wird von einem Vertreter der Minderheit besetzt.

Nach der Erlangung der Unabhängigkeit hat sich in Estland eine konservativ-neoliberale Wirtschafts- und Sozialordnung etabliert, deren Ideen quer durch alle politischen Parteien proklamiert werden, so dass keine Alternativen aufgezeigt werden können. Es gibt keine linke Kraft, die im Parlament oder in der außerparlamentarischen Opposition aktiv ist. Alle Versuche, eine solche Partei zu etablieren, werden als »Hand Moskaus« diffamiert, von der KAPO erfolgreich unterwandert und die fehlenden finanziellen Mittel machen einen erfolgreichen Wahlkampf unmöglich. Zudem werden die linksgerichteten Organisationen häufig von Mitgliedern der russischsprachigen Gemeinde gegründet, welche die estnische Wählerschaft nicht erreicht. Bei Parlamentswahlen sind hingegen nur estnische Staatsbürger wahlberechtigt. Daneben gibt es rechtspopulistische Parteien wie die IRL (Isamaa/Res Publica – Heimat/Republik) als Junior-Koalitionspartner (19 von 101 Parlamentssitzen) in der Regierung. Der Vorsitzende der Partei, der ehemalige Ministerpräsident und Historiker Mart Laar hat vieles zum heutigen Geschichtsverständnis der Esten beigetragen. Sein Buch »Die estnische Legion in Wort und Bild« wurde letztes Jahr von der deutschen Polizei bei dem finnischen Neonazi Risto Tejnonnen wegen des Verdachts des Verstoßes gegen §86a StGB als nazistisches Propagandamaterial beschlagnahmt.

Ein Schlüsselereignis in der Beziehung der beiden Gemeinden fand im April 2007 statt. In der sogenannten ›Bronzenen Nacht‹ wurde ein Denkmal des sowjetischen Soldaten aus dem Zentrum von Tallinn auf einen Militärfriedhof verlegt. Die russischsprachige Gemeinde war kategorisch dagegen, da an diesem Denkmal immer die Feiern zum 9. Mai stattfanden. Eine organisierte Protestaktion wurde nicht genehmigt, die unorganisierte Demonstration wuchs nach massiver Gewaltanwendung durch die Polizei zu Krawallen an, was für estnische Verhältnisse ein Novum darstellte. Im Zuge dieser Auseinandersetzung wurden viele Protestierende in eine Lagerhalle verbracht, wo sie teilweise schwer misshandelt wurden. In der ersten Nacht gab es einen Toten, den russischen Staatsbürger Dimitrij Ganin, wahrscheinlich von estnischen Neonazis ermordet. Die Ermittlungen der Polizei waren eher halbherzig, so dass die Mörder nie angeklagt wurden. Obwohl diese Ereignisse drei Jahre zurückliegen, stellen sie immer noch eine klaffende Wunde in den Beziehungen zwischen Russen und Esten dar.

Doch gibt es auch positive Nachrichten für Estland. Gegen das Veteranentreffen gab es dieses Jahr zahlreiche Proteste aus dem Ausland. Antifaschistische und jüdische Organisationen in Russland, USA, Holland, Finnland, Israel und anderen Ländern haben ihren Protest gegen die Veranstaltung laut verkündet. Die Gegendemonstration war gut organisiert, zahlreich besucht und verlief trotz der Störungen durch die Polizei erfolgreich. Bereits das hat Wirkung gezeigt. Nahmen in den letzten Jahren noch Menschen aus Belgien, Dänemark und Holland am Veteranentreffen teil, so kamen die einzigen ausländischen Besucher in diesem Jahr aus Lettland. Es bleibt die Hoffnung, dass in den nächsten Jahren durch massiven Druck von außen und eine sich entwickelnde politische Kultur im Inneren, linke Ideen und antifaschistische Bewegungen in Estland Fuß fassen werden.

Der Autor ist freier Journalist und betreibt die Internetseite: www.kloty.blogspot.com