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Alles Extremismus?

Hans-Christian Petersen
Einleitung

Die rechte Gewalt in Russland und der Staat

Solidaritätskundgebung für die Sozialen Bewegungen in Russland im Februar 2009 vor der Russischen Botschaft in Berlin

Vor wenigen Wochen erhielt die 2002 gegründete »Bewegung gegen illegale Immigration« (Dvizenie protiv nelegal’noj immigracii, DPNI), die bei der Organisation der »Russischen Märsche« (siehe AIB 90: »Hitlergruß vor dem Kreml«) sowie dem Aufbau lokaler Kampfgruppen eine führende Rolle innehat, Post von der Moskauer Staatsanwaltschaft. Mitglieder der DPNI hatten, wenn auch weitgehend erfolglos, versucht, die aufgeladene Stimmung auf dem Manegenplatz am 11. Dezember letzten Jahres für ihre Zwecke zu vereinnahmen. In dem Schreiben des Staatsanwalts wird der DPNI jetzt vorgeworfen, dass »ihre Ziele und Aktivitäten auf die Durchführung extremistischer Tätigkeiten gerichtet seien«. Ob dies zu einem Verbot der DPNI führen wird, liegt in der Entscheidung der Gerichte und bleibt abzuwarten.

Was auf den ersten Blick aussehen mag wie ein erfreulich konsequentes Vorgehen des russischen Staates gegen eine zentrale Organisation der russischen Rechten, ist zugleich symptomatisch für den offiziellen Umgang mit dem seit Jahren aggressiver werdenden Rassismus im Land. Vor allem dem Begriff des »Extremismus« kommt hierbei eine Schlüsselfunktion zu. Warum er Teil des Problems und nicht der Lösung ist, soll im Folgenden dargelegt werden.

Ein Gesetz gegen »Extremismus«…

Im Juli 2002 trat auf Initiative der russischen Regierung ein Gesetz »Über die Bekämpfung extremistischer Aktivitäten« in Kraft. Das Gesetz, das seit seiner Verabschiedung mehrere Ergänzungen erfuhr, bei denen stets die Eingriffsmöglichkeiten des Staates erweitert wurden, dient offiziell der Bekämpfung der nationalistischen Gewalt im Land. Interessant ist angesichts dessen die Reihenfolge der Tatbestände, die zu Beginn des Gesetzes als »extremistisch« definiert werden: An erster Stelle stehen die »gewaltsame Änderung der Grundlagen der Verfassungsstruktur und die Verletzung der Integrität der Russländischen Föderation«, gefolgt von der »Untergrabung der Sicherheit der Russländischen Föderation« und der »Eroberung oder Aneignung der Machtbefugnisse«.

Erst an sechster Stelle wird die »Aufstachelung zur rassischen, nationalen oder religiösen Feindschaft sowie zur sozialen Feindschaft, in Verbindung mit Gewalt oder dem Aufruf zur Gewalt« genannt. Davon abgesehen, dass sich die Formulierung »Aufstachelung zur sozialen Feindschaft« wohl kaum primär gegen die zahlreichen Gewalttaten rechter Gruppierungen wendet, sondern viel eher gegen linke Organisationen oder Personen in Anschlag gebracht werden kann, lässt sich an der Hierarchie der als »extremistisch« eingestuften Tatbestände ablesen, welche Prioritäten der Verabschiedung des Gesetzes zugrunde lagen: Zwar folgen noch mehrere Artikel, die sich explizit auf neonazistische Aktivitäten beziehen, etwa das Verbot der Verbreitung von Schriften der NSDAP und der früheren faschistischen Partei Italiens unter Mussolini – die zuerst genannten Punkte beziehen sich jedoch alle auf den Staat und sein Machtmonopol, die durch das Gesetz geschützt werden sollen. »Extremismus« wird somit nicht zuvorderst über seinen Inhalt definiert, sondern als alles das, was sich gegen die bestehende Ordnung richtet. Dies kann auch die Bekämpfung des Neonazismus beinhalten, muss sich aber keineswegs hierauf beschränken.  

… und seine Konsequenzen

Die Entwicklung seit der Verabschiedung des Gesetzes könnte auf den ersten Blick dazu verleiten, es als Fortschritt zu betrachten. So gibt es in den letzten Jahren ein verstärktes Vorgehen gegen neonazistische Gruppen wie die »Slavische Union« oder »NS/WP«, die als »extremistisch« verboten wurden. Zudem ist die Zahl der Opfer rechter Gewalt 2009 erstmals rückläufig gewesen – das unabhängige Analyse- und Informationszentrum »Sova« nennt mindestens 71 Menschen, die von Neonazis ermordet  und mindestens 333, die lebensgefährlich verletzt wurden. Hierzu ist allerdings zu sagen, dass die tatsächliche Zahl an Opfern deutlich höher liegen dürfte, es von staatlicher Seite jedoch keinerlei Statistiken hierüber gibt. Zudem ist der relative Rückgang kein Grund zur Beruhigung – er ist nicht zuletzt das Ergebnis einer sich ändernden Strategie, der zufolge sich die rechten Gruppen zunehmend Anschläge auf staatliche Einrichtungen sowie auf Antifaschist_innen und Gewerkschafter_innen verüben, die deutlich mehr logistische Planung erfordern als ›spontane‹ Menschenjagden. Das Sova-Zentrum bezeichnet dies als »neonazistischen Terrorismus«, der auf die Destabilisierung der staatlichen Ordnung zielt.   

Hinzu kommt die grundlegende Erklärungsschwäche, die der Extremismus-Begriff mit sich bringt. Diese wird deutlich, wenn man in Russland den Fernseher einschaltet und sich die Berichterstattung über die rechte Gewalt anschaut: Am Ende bleibt die Botschaft, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Jugendbanden gekommen sei, wobei zumeist die Wörter »Extremismus« und »Hooliganismus« fallen. Warum es dazu gekommen ist, bleibt unklar und wird maximal durch ein paar kurze Sequenzen von Antifa-Transparenten deutlich, auf denen durchgestrichene Hakenkreuze zu sehen sind. Die neonazistischen Weltanschauung der Täter_innen wird ausgeblendet, ebenso wie der Umstand, dass gerade ›Schwarze‹ oder Antifas angegriffen werden – die Gewalt wird entkontextualisiert und damit entpolitisiert.

Ebenfalls verschleiert wird der Zusammenhang zwischen »Extremismus« und gesellschaftlichem Umfeld. Alle seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion durchgeführten Umfragen belegen, dass es in Russland seit langem eine konstant hohe Zustimmung von rund der Hälfte der Bevölkerung zu Aussagen wie »Russland den Russen!« gibt.  Dies ist in Verbindung mit dem staatlich geförderten ›Patriotismus‹ der Nährboden, auf dem die radikalen Rechten agieren und der ihnen nicht ganz zu Unrecht das Gefühl vermittelt, der ausführende Arm der Interessen gewichtiger Teile der Bevölkerung zu sein.

Gleichzeitig ist seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zu beobachten, dass es nicht nur gegen neonazistische Gruppierungen angewendet wird, sondern sich immer mehr zu einem Instrument zur Unterdrückung jeglicher gesellschaftlicher Opposition entwickelt. Das Spektrum der Betroffenen reicht von den liberalen Oppositionsparteien über die letzten verbliebenen unabhängigen Zeitungen wie die »Novaja Gazeta« bis zur Antifa. So konnte der Dokumentationsfilm »Rossija 88« über eine gleichnahmige Nazigruppe bis zum vergangenen Jahr nicht in russischen Kinos gezeigt werden, da vor einem Gericht in Samara ein Verfahren mit dem Ziel der Indizierung als »extremistisch« lief. Und im letzten Jahr hat sich die auch im Westen bekannte antifaschistische Hardcore-Band »What We Feel« als Reaktion auf die beständigen Repressionen staatlicher Stellen bei ihren Konzerten aufgelöst. Auf diese Weise werden diejenigen, die in einem lebensgefährlichen Umfeld aktiv gegen die rechte Gewalt vorgehen, kriminalisiert und in die Illegalität gedrängt.

Selbstorganisation statt Staatsfetischismus

Jedes Verbot schwächt den Aktionsradius einer Gruppe zumindest für eine gewisse Zeit, und in diesem Sinne ist es sicherlich zu begrüßen, dass zumindest einigen Organisationen der russischen Rechten infolge des Extremismusgesetzes Schranken gesetzt wurden. Auch wenn sie in aller Regel trotzdem weiter existieren oder sich unter anderem Namen neu formieren, so erhöht es doch den Druck und kann den alltäglichen Terror zumindest ein bisschen eindämmen.

Diese positiven Effekte könnte der Staat aber auch auf andere Weise erreichen – durch ein konsequentes Vorgehen gegen klar definierte neonazistische Aktivitäten. Indem man sich jedoch des Extremismus-Begriffs bedient, hat man ein Instrument gefunden, das gegen jede beliebige Opposition eingesetzt werden kann. Die Definitionsmacht darüber, was als »extremistisch« anzusehen ist, liegt beim Staat und entzieht sich der gesellschaftlichen Kontrolle. »Extremismus« ist somit immer abhängig von einer sich selbst definierenden ›Mitte‹ und dient zugleich dazu, die Übergänge und Zusammenhänge zwischen dem ›Rand‹ und der ›Mitte‹ auszublenden. Das gegenwärtige Russland mit seiner weit verbreiteten xenophoben Grundhaltung ist hierfür leider ein treffendes Beispiel. Das Ergebnis ist, dass  die rechte Gewalt vielleicht das zentrale Problem der russischen Gesellschaft ist, sie jedoch nicht beim Namen genannt wird und ihre Dimensionen im Unklaren bleiben.

Die Ablehnung des Extremismusbegriffs ist »nicht nur eine semantische Spielerei«, wie Sarah Uhlmann von der »Initiative gegen jeden Extremismusbegriff« in der »Jungle World« zutreffend formuliert hat. Es geht um ein Verständnis von Antifaschismus, das seine Aufmerksamkeit nicht allein auf die überzeugten neuen und alten Nazis richtet, sondern diese immer auch im gesellschaftlichen Kontext verortet. Und es geht zugleich um die Ablehnung eines staatsfixierten Gesellschaftsverständnisses, das sich auf das Einfordern entsprechender Verbotsverfahren ›von oben‹ beschränkt. Das russische Beispiel zeigt ebenso wie die zahlreichen einschlägigen Initiativen der Familienministerin Kristina Schröder, wohin dies führen kann. Angesichts dessen ist es allemal sinnvoller, Selbstorganisation und Gegenkulturen gegen den rechten Mainstream ›von unten‹ zu stärken. Denjenigen, die dies in Russland vor Ort tun, sollte unsere Solidarität und Unterstützung gelten. Sie haben diese bitter nötig.


Hans-Christian Petersen ist Osteuropahistoriker an der Universität Mainz. Gemeinsam mit Samuel Salzborn hat er den Band »Antisemitism in Eastern Europe – History and Present in Comparison« (Peter Lang Verlag, 2010) herausgegeben.