»Das muss sich auswachsen«. Mit Sarrazin gegen muslimische Unterschichten
Die deutschen Eliten öffnen sich für rassistische Politik à la Sarrazin – und die Republik rückt nach rechts.
Manchmal kommt Horst Seehofer den Tatsachen bedenklich nahe. Da ist er heftig kritisiert worden, weil er gegenüber dem »Focus« geäußert hat, Deutschland brauche »keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen«. Ist der Ministerpräsident Bayerns und Parteivorsitzende der CSU denn etwa ein Politiker der mit dumpfen »Ausländer raus!«-Parolen rechtsaußen im Sumpf zu angeln versucht? Ein rechtsradikaler Hetzer womöglich sogar? »Wenn das, was ich sage, rechtsradikal ist«, ruft Seehofer beim CSU-Parteitag Ende Oktober in München in die Menge, »dann sind zwei Drittel der Bevölkerung rechtsradikal«. Wirklich? Zwei Drittel?
Laute Töne am rechten Rand sind in den großen Parteien en vogue, seit der einstige Bundesbanker Thilo Sarrazin (SPD) mit Hilfe eines Verlages aus dem Hause Bertelsmann fleißig vermeintliche Tabus gebrochen hat. »Multikulti ist tot!«, ließ sich Seehofer vernehmen. Die multikulturelle Gesellschaft sei »gescheitert, absolut gescheitert«, wurde Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zitiert. »Ich möchte keine Massenzuwanderung, etwa aus der Türkei, die diese Gesellschaft nicht verträgt«, tönte der Ministerpräsident Hessens, Volker Bouffier (CDU). Es müsse eine »Migrationsdebatte ohne Scheuklappen« geführt werden, so der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU). Der CSU-Vorstand forderte gleich obendrein ein »Bekenntnis zur deutschen Leitkultur«. Bekannte Publizisten sorgten für Begleitfeuer. »Thilo Sarrazins Buch«, jubelte Ralph Giordano, »ist ein Stoß mitten ins Herz der bundesdeutschen Political Correctness, ein Frontalangriff auf Deutschlands Multikulturalisten, xenophile Einäugige und Pauschalumarmer«.
Keine Frage: Äußerungen, wie man sie bislang vorwiegend von ganz rechtsaußen kannte, haben im Rahmen der sogenannten Sarrazin-Debatte Eingang in den politischen und publizistischen Mainstream gefunden. In der – nur zu berechtigten – Aufregung über den grassierenden Rassismus wird jedoch das politische Konzept gerne übersehen, das Sarrazin in seiner Schrift propagiert – und das mit seinem Rassismus aufs Engste verknüpft ist. Den promovierten Ökonom, der bereits in den 1970er und 1980er Jahren einflussreiche Positionen in Bundesministerien innehatte, treibt vor allem eine Sorge an: die Sorge darum, dass der deutsche Nationalstaat stark und mächtig bleibt.
Das wird Sarrazin zufolge nur dann möglich sein, wenn die Basis des heutigen deutschen Einflusses in aller Welt, eine kraftvoll exportierende Industrie auf technologisch modernstem Niveau, auf Dauer erhalten bleibt. Dafür aber sind beispielsweise bestens gebildete Ingenieure nötig, meint Sarrazin, intelligente Manager, kluge Strategen: Bildungseliten brauche das Land.
Mit kaltem Herrschaftsblick macht er sich auf die Suche nach den künftigen Bildungseliten – und stellt fest: Unterschichten steigen in Deutschland kaum in diese auf. Grund ist die sehr geringe Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems, heißt es in seriösen Analysen. Grund sei vielmehr die Erblichkeit von Intelligenz, behauptet Sarrazin. Die Elitenförderung unter Deutschstämmigen gehört elementar zu seinem Programm. Gute Intelligenznoten erteilt er darüber hinaus Menschen aus Asien, stellt jedoch mit Bedauern fest: »Nach Deutschland drängen die hochbegabten Inder und Chinesen leider nicht«.
»Türken und Araber« aber, die seit den 1960er Jahren in die Bundesrepublik geholt wurden, um Unterschichtarbeiten auszuüben, hält Sarrazin für weitaus weniger intelligent als die deutsche Bevölkerung – und dies sei erblich bedingt. »Eine große Zahl an Arabern und Türken«, schimpfte er schon 2009, »hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel«, und es werde sich »vermutlich auch keine Perspektive entwickeln«. Dieser Bevölkerungsteil »muss sich auswachsen«, forderte er damals. In seinem Buch entwickelt er Vorschläge, wie das geschehen kann: mit Kürzungen bei den Sozialleistungen, mit starkem Druck auf islamisch geprägte Milieus, der seine Objekte zur Auswanderung treibt – und mit einem rigiden Einwanderungsstopp.
Sarrazin bietet ein durch und durch rassistisches Konzept, wie Deutschland seine ökonomisch nicht benötigten Unterschichten loswerden könne. Durchsetzbar dürfte es hierzulande ohne Probleme sein. Dies hat zuletzt eine neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gezeigt. Aus ihr geht hervor, dass ungebrochen gut ein Viertel der deutschen Bevölkerung als »ausländerfeindlich« klassifiziert werden muss. Mehr als 30 Prozent vertreten der Studie zufolge die Ansicht, man solle bei knappen Arbeitsplätzen »Ausländer wieder in ihre Heimat schicken«.
So richtig rund geht es zur Zeit, wenn es gegen Muslime geht. Der Aussage »Ich kann es gut verstehen, dass manchen Leuten Araber unangenehm sind«, stimmen insgesamt 55,4 Prozent der Deutschen zu. Die Aussage »Für Muslime in Deutschland sollte die Religionsausübung erheblich eingeschränkt werden« billigen mittlerweile 58,4 Prozent der Bevölkerung. Repressalien gegen Muslime können demnach auf eine recht solide Zustimmung unter den Deutschen bauen.
Werden Seehofer und Merkel, wenn sie »Multikulti« für »gescheitert« erklären, schlicht und einfach von der Bevölkerungsmehrheit getrieben? Wohl kaum. Ein aktueller Beleg dafür, dass die deutsche Regierung sich von Mehrheiten nicht irritieren lässt, wenn sie konkrete Ziele verfolgt, ist der Krieg in Afghanistan. Die Ablehnung dieses Krieges ist schon seit Jahren hoch, ohne dass dies ernsthafte Konsequenzen für die Berliner Politik gehabt hätte. Hat sich mit dem bevorstehenden Abzug nicht letztlich doch die Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) erklärte diesen Gedanken schon Anfang Juli für absurd.
Ursache für die Abzugspläne sei das »Auseinanderklaffen politischer Ziele und militärischer Möglichkeiten«; die Annahme, »die Militärs seien wegen einer wankenden Heimatfront gescheitert«, sei hingegen eine »Legende«, urteilte das Blatt. »Letztlich haben die westlichen Gesellschaften die menschlichen Kosten dieses Krieges wie seine finanziellen Folgen ohne militante Auflehnung ertragen«. Warum also sollte sich die Regierung rassistischen Mehrheiten in der Bevölkerung beugen, wenn sie kein eigenes politisches Interesse an solchen Positionen hätte?
Tatsächlich gibt es ein solches Interesse; Sarrazin hat es beschrieben, Teile der politischen Eliten haben sich an die Realisierung gemacht. »Integrationsverweigerer« müsse man »härter anpacken«, verlangte CSU-Chef Seehofer im Oktober: »Wer ein Arbeitsplatzangebot oder eine notwendige Qualifizierung ablehnt, dem müssen die Sozialleistungen gekürzt oder – in Wiederholungsfällen – komplett gestrichen werden«. »Sanktionsmöglichkeiten bei hartnäckiger Integrationsverweigerung« müssten »konsequent angewandt werden«, hatte CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe bereits Anfang September gefordert. »Deutschland ist kein Weltsozialamt«, heißt es im »Integrations- und Zuwanderungskonzept für Deutschland« der hessischen FDP; bestehende »Sanktionsmöglichkeiten bei fehlender Integrationsbereitschaft« müssten »ausgebaut und das bestehende Vollzugsdefizit abgestellt werden«. Die Vorbereitung konkreter Schritte gegen »Integrationsverweigerer« hat längst begonnen. Freilich ist Sarrazins Konzept nicht unumstritten – deshalb wurde er ja schließlich aus der Bundesbank entfernt –, aber seine Anhänger machen in rasantem Tempo Boden gut.
Sarrazins Anhänger sitzen dabei nicht nur in der »Mitte der Gesellschaft«, sondern vor allem auch dort, wo Sarrazin selbst herkommt: in den Herrschaftseliten. Hans-Olaf Henkel etwa klagte schon 2009, vieles von dem, was Sarrazin behaupte, treffe zu – aber in der Bundesrepublik würden »gewisse Wahrheiten nicht ausgesprochen, und wenn sie ausgesprochen werden, dann wird sich nicht mit den Punkten auseinandergesetzt«. Henkel, langjähriger IBM-Manager, war von 1995 bis 2000 Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und anschließend fünf Jahre lang Vorsitzender der renommierten Leibniz-Gemeinschaft; er gehört bis heute den Aufsichtsräten mehrerer Großkonzerne an. »Da wird wieder einmal in typischer Art und Weise auf den Überbringer der schlechten Nachricht eingeprügelt«, schimpfte Henkel, als im September 2010 die Debatte um Sarrazin neu entbrannte. Nach seiner Meinung erkundigt hatte sich die rechte Wochenzeitung »Junge Freiheit« (JF).
Gut nachvollziehen konnte man die Elitendebatte um Sarrazin im Herbst in den Leitartikeln der FAZ. Zwar sprach sich ein Teil der Redaktion deutlich gegen seine Thesen aus – aber eben nur ein Teil. »Viel von dem, was Sarrazin gesagt hat, stimmt«, schrieb ein Kommentator der anderen Fraktion. Man erhalte außergewöhnlich viele Leserbriefe zum Thema, berichtete das Blatt, das in den oberen Etagen der deutschen Gesellschaft gern gelesen wird. »Aus den meisten der vielen Briefe (...) spricht Empörung – selten über Sarrazin, in großer Mehrheit aber über die Kritik an ihm.« »Alles kleine Nazis?«, fragte die FAZ provokant: »Es schreibt vielmehr die politische Mitte, die es satthat, als fremdenfeindlich beschimpft zu werden, nur weil sie nicht länger mit den Dogmen eines gescheiterten Multikulturalismus traktiert werden will, für den jeder geschächtete Hammel eine kulturelle Bereicherung ist.«
Die Unterstützung für Sarrazin im Establishment ist breit. Immerhin ist sein Werk in einem Verlag aus dem Bertelsmann-Imperium erschienen; wenn man dem Autor glauben darf, hat der Verlag ihn sogar aus eigenem Antrieb gebeten, das Buch zu schreiben. »Sarrazins Behauptung, dass es besondere, kulturelle Eigenschaften von Volksgruppen gibt, kann heute niemand mehr mit Sachkenntnis bestreiten«, sprang der ehemalige SPD-Bundesbildungsminister Klaus von Dohnanyi Sarrazin bei. »Im Schatten unserer Geschichte und eines oft allzu einseitigen Bildes unserer Selbst scheuen wir uns vor Debatten und Worten, die bei anderen Völkern gang und gäbe sind«, fügte der Sozialdemokrat an, dessen Clan man getrost zu den bundesrepublikanischen Eliten zählen darf. Er fuhr fort – in einem prominent platzierten Kommentar in der Süddeutschen Zeitung: »Also bitte keine Feigheit mehr vor Worten wie Rasse, Juden, Muslime. Es gibt sie. Man darf über sie nachdenken, man darf sie benutzen.« Wenig später durfte die JF eine viertelseitige Anzeige in der Süddeutschen Zeitung schalten. Eigentlich war das nur konsequent.
Alles in allem erinnert die Sarrazin-Debatte an die »Das Boot ist voll«-Kampagne zu Beginn der 1990er Jahre: Die Medien quollen, damals gespeist von einem Konsens der deutschen Eliten, von rassistischer Stimmungsmache gegen die »Asylantenflut« über. Das Ergebnis der Kampagne war höchst konkret: 1993 wurde das alte bundesdeutsche Asylrecht faktisch abgeschafft. Deutschland machte sich auf den Weg, zur globalen Macht zu werden; Flüchtlinge, die Kosten verursachten und keinen direkten ökonomischen Nutzen brachten, waren unerwünscht. Heute, da die Bundesrepublik sich im globalen Konkurrenzkampf durchsetzen will, steht nach Auffassung von Teilen der Eliten ein weiterer Schritt an. Er richtet sich gegen ökonomisch nicht benötigte Unterschichten; eine Art Programmentwurf zum Thema hat Thilo Sarrazin verfasst. Wie zu Beginn der 1990er Jahre geht es dabei nicht primär um rassistische Rhetorik und rassistische Debatten, sondern um höchst konkrete rassistische Politik.
Die Elitendebatte um Sarrazin lässt sich nicht isoliert betrachten. Ein Beispiel dafür, welche Gedanken man sich in den oberen Etagen der Republik sonst noch macht, bietet Oberst Erich Vad. Vad ist nach Beschäftigungen in Bundeswehr, Auswärtigem Amt und Verteidigungsministerium 2006 als Referatsleiter ins Bundeskanzleramt gewechselt. Der Oberst, heute höchster Militärberater der Kanzlerin, ist Anhänger des »Kronjuristen« der Nazis, Carl Schmitt. Im Jahr 2003 konnte man seine Gedanken über Schmitts »Aktualität« in der Zeitschrift »Sezession« aus dem extrem rechten »Institut für Staatspolitik« lesen.
»Europa« müsse, »um auf Dauer zu bestehen, einen adäquaten Machtanspruch erheben«, schrieb Vad. Dem stehe »die Handlungsunfähigkeit einer nachbürgerlichen politischen Klasse« entgegen, »deren Weltbild sich primär aus reeducation, aus den erstarrten Ritualen der Vergangenheitsbewältigung und Achtundsechziger-Mythologie speist«. Schmitts Philosophie, die freilich »im Gegensatz zur idealistischen Utopie einer weltweiten Entfaltung der Menschenrechte, eines friedlichen Ausgleichs der Kulturen und Zivilisationen sowie freizügiger, offener und multikultureller Gesellschaften« stehe, könne Abhilfe schaffen. Vad ist bis heute im Amt.
Apropos »reeducation«: Im Sommer wurde die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach öffentlich kritisiert, weil sie erklärt hatte, Polen habe schon im März 1939 mobilgemacht. Die Idee, Polen deswegen zumindest einen kleinen Teil der Kriegsschuld zuzuschieben, stammt keineswegs von ihr. Nicht nur Rechtsaußen-Autoren wie Gerd Schultze-Rhonhof, immerhin ein Generalmajor der Bundeswehr a.D., vertreten derlei Thesen schon seit langer Zeit. Ähnliches ist inzwischen auch im Umfeld der Berliner Regierungsapparate zu hören. Gelegentlich heißt es dabei zur Erklärung, in Polen selbst werde darüber diskutiert. Tatsächlich denken polnische Publizisten über die Frage nach, ob sich Warschau 1939 nicht diplomatisch besser hätte verteidigen können. Von »Mitschuld« ist dort keinesfalls die Rede.
Die deutschen Eliten debattieren mittlerweile sogar über den Fortbestand der Demokratie. Es werde heute gelegentlich »der Wunsch nach ›ein klein wenig Diktatur‹« geäußert, schrieb Herfried Münkler im Sommer in der Zeitschrift »Internationale Politik«. Münkler, diesem »Wunsch« höchst abgeneigt, aber als Mitglied im Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik bestens mit dem Berliner Establishment vertraut, schrieb ihn dem Bedürfnis nach größerer Durchsetzungsfähigkeit im globalen Konkurrenzkampf zu. Dabei werde, berichtete Münkler, unter anderem über ein Konzept von Carl Schmitt diskutiert, das unter dem Schlagwort »kommissarische Diktatur« die Errichtung einer Art Teilbereichsdiktatur auf Zeit vorsieht. »Wenn heute verschiedentlich von diktatorischen Befugnissen und Maßnahmen die Rede ist, dann zumeist im Sinne dessen, was Schmitt als kommissarische Diktatur bezeichnet hat«, gab Münkler zu Protokoll: »Es gibt bloß kein Verfassungsorgan, das sich auf das Risiko der Einsetzung eines kommissarischen Diktators einlassen will.«
Ein starker deutscher Nationalstaat, im weltweiten Konkurrenzkampf nicht gehindert durch Mätzchen wie »reeducation« oder »Ausgleich der Kulturen«, vom Ballast alleiniger Kriegsschuld zumindest ein bisschen befreit und bei Bedarf offen für diktatorische Praktiken – das ist kein fest umrissenes Ziel, aber ein Diskursfeld, in das der Wunsch nach Entfernung ökonomisch unnützer Unterschichten durchaus passt. Dabei findet dieser Diskurs, dessen Ausgang freilich noch nicht entschieden ist, nicht bei randständigen Milieus der äußersten Rechten statt – nun gut, dort wohl auch –, sondern in einem Teil der deutschen Eliten. Sarrazins Pamphlete geben die Richtung an, in die inzwischen Regierungsapparate praktisch zu arbeiten beginnen. Damit rückt nicht nur die allgemeine gesellschaftliche Stimmung, sondern die ganz reale Republik nach rechts.