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»reclaim and remember«

Jörg Meier und Maike Zimmermann (Gastbeitrag)
Einleitung

20 Jahre rassistischer Brandanschlag in Mölln

»Was mein Ziel ist? Mein Ziel ist, dass die Opfer sprechen, sie sollten die Haupt­rolle spielen«, sagt Ibrahim Arslan vor dem Kinosaal in Lübeck, und er hustet wieder. Seit dem Brandanschlag hat er den Husten. Am Anfang habe sein Vater Faruk gedacht, er huste »aus Trotz«, erzählt er in dem Film »Nach dem Brand«. Bei unzähligen Ärzten sei er gewesen, am Ende bei einem Psychologen, der ihm gesagt habe, der Husten sei psychosomatisch. Stun­den hat er in der Küche des brennenden Hauses in der Mühlenstraße 9 in Mölln ausgeharrt. In der Nacht auf den 23. November 1992 hatten zwei Neonazis das Haus angezündet. Seine Großmutter, die 51-jährige Bahide Arslan, die den damals Siebenjährigen in Decken gewickelt in die Küche gebracht hatte, starb, mit ihr Ibrahims zehnjährige Schwester Yeliz Arslan und seine 14-jährige Cousine Ayse Yilmaz, die den Sommer über aus der Türkei zu Besuch in Deutschland war.

Den Möllner Herbstmarkt gibt es seit ca. 450 Jahren. Rund 40 Neonazi-skin­heads sind am Abend des 31. Oktobers 1992 dort, es kommt zu Auseinandersetzungen mit linken Jugendlichen. Für einige Neonazis endet der Abend im Krankenhaus. Am Tag hatte es eine Demonstration gegeben. »Hoyerswer­da, Ros­tock, Mölln? Ohne uns!« stand auf einem der Transparente, unterzeichnet von der Antifa Jugendfront Mölln (AJF). 400 Menschen waren auf der Straße, 30 Neonazis standen am Rand, es wurde gepöbelt und geschubst. »Das war für uns ein Indiz dafür, wie sicher sich die Nazis im öffentlichen Raum fühlen«, sagt Thors­ten. 18 Jahre war er damals alt – einer der Älteren. Die AJF hatte sich einige Monate zuvor gegründet.

Seit 30 Jahren wohnt Lore Meimberg in der Nähe von Mölln. Sie und ihr Mann Bernd sind in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) aktiv. »Es zeichnete sich ja ab, dass was passiert. Wir haben beobachtet, dass die Stimmung immer weiter nach rechts ging.« Was Lore und Bernd beobachten, müssen Thorsten und die anderen von der AJF zuweilen direkt erfahren. Immer wieder kommt es in dieser Zeit in Mölln zu Schlägereien zwischen Neonaziskinheads und Antifas.

Die Hamburger Rechtsanwältin Katrin Kirstein vertritt die Familie und ist Teil des Freundeskreises um die Arslans. Im Jahr 2003 fuhren sie erstmals gemeinsam zum Jahrestag der Brandanschläge nach Mölln. »Wir sind keine Unterstützerinnen«, darauf besteht Katrin Kirstein. »Wir sind verbunden über die gemeinsame politische Arbeit, und wenn ich sehe, wie mit den Arslans umgegangen wurde, dann betrifft das auch mich.« Oft wurde die Familie nicht zu den Vorbereitungen eingeladen, einmal kam der damals amtierende Bürgermeister im Jogginganzug zum Gedenken. Ibrahim Arslan hatte das in einem »Stern«-Interview kritisiert, was den SPD-Bürgermeister Jan Wiegels dazu veranlasst hat, einen Leserbrief zu schreiben. Er habe seine Amtsvorgänger gefragt, ob das stimme, sagt Wiegels, der seit gut zwei Jahren Bürgermeis­ter in der Kleinstadt mit ih­ren 18.500 EinwohnerInnen ist. Beide hätten gesagt: »Frei erfunden.« So pietätlos wäre keiner. Doch den Jogginganzug haben nicht nur die Arslans gesehen. Aber die haben gegenüber dem »Stern« darauf verzichtet, das zu bezeugen. »Das ist genau das Problem, dass der Familie nicht geglaubt wird.«

»Zum Herbstmarkt kommen auch die älteren Neonazis raus, man trifft sich mit den Jüngeren und betrinkt sich gemeinsam«, erzählt der 21-jährige Ben­jamin von der Antifa Herzogtum-Lauenburg (AHL). Zwischen den Buden hängen an einigen Häuserwänden kleine Plakate. Mit Kreppband festgeklebt. »Der Till heckt mit dem Nasreddin.« Der Hodscha Nasreddin, erklärt Jan Wiegels, ist in gewissem Sinn ein Pendant zum Möllner Narr Till Eulenspiegel. Zieht man das Kreppband ab, kommt weniger Erfreuliches zum Vorschein: »Nationaler Sozialismus jetzt«. Viele dieser Sprühereien finden sich an einem sonnigen Herbsttag 2012 in der Innenstadt. Jan Wiegels ist verärgert. »Das können wir nur als bewusste Provokation im Vorfeld des 20. Jahrestages der Brandanschläge verstehen«, sagt er. Der Sozialdemokrat lehnt die Neonazis zutiefst ab, aber er fürchtet auch um das Ansehen der Stadt. Er ist der Bürgermeister.

»Braunes Mölln«, so nannte man die Stadt zur Zeit des Nationalsozialismus. Vor 20 Jahren gab es hier die aktivste Neonaziszene im Landkreis Herzogtum-Lauenburg. Auch die beiden Täter kamen von hier, der damals 19-jährige Lars Christiansen und Michael Peters, damals 25 Jahre, aus dem nahe gelegenen Gudow. Beide sind bekannte Neonazis in der Region, Peters war Vizevorsitzender der NPD im Kreis Herzogtum-Lauenburg. Und beide waren sie drei Monate vor den Möllner Morden in Rostock-Lichtenhagen dabei. »Heute sieht man sie nicht mehr, aber sie sind immer noch da«, meint der 27-jährige Erik von der AHL zum Thema Neonazis in Mölln. Auch das hängt mit den Brandanschlägen zusammen. Die älteren Neonazis wurden damals von der türkischen Migrantenszene aufgeschreckt, sagt Thorsten. Die Neonazis wurden »zur Rede gestellt«, erzählt man uns.

Probleme gab es in den letzten Jahren vor allem in Ratzeburg. Anfang 2012 sprühten Neonazis Morddrohungen gegenüber Bürgermeister Rainer Voß, Pröbstin Frauke Eiben und Michael Schröder, Vorsitzender der Linksfraktion im Lauenburger Kreistag. »Schröder töten« stand an seiner Hauswand, »Linke Sau stirb« auf seinem Auto. »Das war das dritte Mal, dass mein Auto betroffen war«, sagt er, und: »Ich war schon immer Antifaschist, einschüchtern lasse ich mich nicht.« Das Thema Antifaschismus liegt Erik und Benjamin am Herzen, das merkt man. Bei Michael Schröder, bei Bernd und Lore Meimberg ist das nicht anders. Und trotzdem geben sie auf eine Frage alle die gleiche Antwort: »Nein, Kontakt zu den türkischen Familien hatten wir eigentlich nicht.«

Bevor die Familie und ihre FreundInnen zum Jahrestag der Anschläge nach Mölln fahren, treffen sie sich bei Arslans zu Hause. Jedes Jahr wieder bedeutet es einen unglaublichen Kraft­akt, nach Mölln zu fahren. In diesem Jahr spricht Faruk Arslan erstmals direkt nach dem Bürgermeister – vor dem türkischen Botschafter und dem schleswig-holsteinischen Landtagspräsidenten.

Doch die Gedenkfeier im Möllner Quellenhof verläuft anders als geplant. Nach dem offiziellen Teil, den Ministerpräsident Torsten Albig mit den Worten »Damals brannten nicht nur die Häuser, damals brannten auch unsere Herzen« beendet, übergibt Ibrahim Arlsan Jan Wiegels auf einer Pressekonferenz eine neue Tafel für das Brandhaus, auf der erstmals zu lesen ist, dass es sich um einen rassistischen Anschlag handelt.

Nun steht unter anderem die Gedenkrede von Ibrahim auf dem Programm – kein Grund für  Albig und Landtagspräsident Klaus Schlie, der Veranstaltung weiter beizuwohnen. Sie reden von Alltagsrassismus und davon, dass man Zivilcourage zeigen muss, dass alle zusammenstehen müssen gegen rechte Gewalt. Und dann wollen sie nach Hause. Im Eingang stellt sich ihnen Ibrahims Onkel Ahmet Arslan in den Weg. Es wird diskutiert, die hohen Politiker, mit ihrer eigenen Respektlosigkeit konfrontiert, drehen schließlich um und gehen zurück in den Saal.

Als Ibrahim auf die Bühne geht, wird er von Selvet Yilmaz, dem Bruder der ermordeten Ayse Yilmaz, und Ahmet Arlsan begleitet. Beide nehmen sich das Recht zu sprechen und verstecken nicht ihre Wut darüber, dass sie sich jahrzehntelang im Stich gelassen gefühlt haben. »Wenn ich hier rede, dann habe ich mir das selbst erkämpft«, sagt Ibrahim Arlsan schließ­lich. »Und das ist reclaim and rember«.