Skip to main content

„Wir lassen euch nicht lebend raus“

Ulrich Heyden, Moskau (Gastbeitrag)
Einleitung

Für ukrainische Regierungsgegner ist es eine ausgemachte Sache, dass mit dem Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa die Bewegung für Föderalisierung in der Süd-Ukraine eingeschüchtert werden sollte. 

Foto: Oksana Solopowa, Internet-Portal timer.od.ua

Das Gewerkschaftshaus nach dem Brand

48 Menschen starben am 2. Mai 2014 in Odessa 200 wurden verletzt, so die offiziellen Zahlen. Von den 48 Toten starben sechs bei einer Straßenschlacht am Nachmittag zwischen Fußball-Ultras, Maidan-Anhängern und Rechtem Sektor (Пра́вий се́ктор) auf der einen und Regierungsgegnern auf der anderen Seite.

Als Prawyj Sektor (Rechter Sektor) bezeichnet sich eine rechte und paramilitärische Gruppe, die im November 2013 während des Euromaidan als ein Zusammenschluss von mehreren nationalistischen und rechten Splittergruppen gegründet wurde. Als ihr Sprecher trat Dmytro Anatolijowytsch Jarosch (Дмитро́ Анатолійович Я́рош) auf.

Seit dem 2. Mai ermitteln vier Ausschüsse von Journalisten, Abgeordneten und Sicherheitsstrukturen, was in der Stadt an dem Tag passierte. Die Sicherheitskräfte verhörten 340 Menschen, fertigten 80 Untersuchungsberichte an und ermittelten 40 Verdächtige.

Doch die Hoffnung, dass die Öffentlichkeit jemals die Wahrheit über die Täter und die Hintermänner erfährt, ist gering.

Menschenjagd im Gewerkschaftshaus

Was sich beim Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa am Abend des 2. Mai 2014 abspielte, lässt sich anhand von Videos und Aussagen von Augenzeugen nur erahnen. Der Haupteingang des Gewerkschaftshauses, in das sich Regierungsgegner geflüchtet hatten, wur­de von Anhängern des Rechten Sektors blockiert. Gleichzeitig drangen Rechtsradikale über Seiteneingänge in das Gebäude ein und gingen auf Menschenjagd. Sechs Tote aus dem Gewerkschaftshaus hatten Schuss­wunden. Der älteste Tote war 70, der jüngste 17 Jahre alt. Viele Tote waren nur an Kopf und Oberkörper verbrannt.

Die Qualen, welche die im Gewerkschaftshaus Eingeschlossenen aushalten mussten, waren entsetzlich. Vor dem Gebäude johlte die Menge, „wir lassen euch nicht lebend raus“. Viele Eingeschlossene sprangen aus den Fenstern. Zehn Menschen kamen dabei zu Tode. Viele derjenigen, die den Sprung überlebten, wurden —  unten angekommen — von den Rechten getreten und mit Knüppeln geschlagen.

Aus einer oberen Etage des Gewerkschaftshauses waren während des Angriffs Schreie einer Frau zu hören. Später fand man eine Frau, tot, hintenüber auf einem Tisch liegend. Rechtsradikale waren nach Aussagen des Augenzeugen Wadim1   auch auf das Dach des Gebäudes gelangt, von wo sie Molotow-Cocktails nach unten warfen. Gleichzeitig flogen Molotow-Cocktails von unten gegen das Gebäude.

32 Menschen im Gewerkschaftshaus starben an Rauchvergiftung.  Experten vermuten, dass von den Angreifern auch Gas eingesetzt wurde. Von ukrainischen Ermittlern wurden angeblich Spuren von Chloroform im Müll gefunden. Von dem russischen Experten Aleksej Bannikow wurde vermutet, dass der Chemiekampfstoff Chlorpikrin gegen die im Gewerkschaftshaus Eingeschlossenen eingesetzt wurde. Die Vermutungen über den Einsatz von Gas haben sich aber bisher nicht erhärtet. 

Unmittelbar nach dem Brand im Gewerkschaftshaus berichteten verschiedene Augenzeugen und Überlebende der Katas-trophe, dass die Zahl der Toten in Wirklichkeit viel höher sei. Nach Meinung des Mitglieds des Gebietsrates von Odessa, Wadim Sawenko, sind bei dem Brand im Gewerkschaftshaus 116 Menschen gestorben. Das Internetportal „Otkat“ berichtet, dass nach dem 2. Mai 2014 insgesamt 45 Bürger von Odessa vermisst werden. Nach Aussage des Augenzeugen Wadim1 befanden sich viele Leichen im Keller des Gewerkschaftshauses, welche in der Nacht weggeschafft worden sein sollen.

Investigativer Journalismus ist im Fall Odessa nicht gefragt

Der ukrainische Übergangspräsident Olexandr Turtschynow erklärte unmittelbar nach dem Brand, hinter diesem steckten prorussische Kreise. Das ukrainische Innen­ministerium sprach von „krimineller Brandstiftung“.

In den deutschen Medien spielte der Brand im Gewerkschaftshaus nur eine Randrolle. Tenor der meisten Kommentare und Berichte war, dass beide Seiten — Maidan-Anhänger und Regierungsgegner — an dem Brand Schuld hätten. Dabei hatten bekannte deutsche Korrespondenten unmittelbar nach dem Brand noch klar Stellung bezogen. „Die meisten starben, als das von prorussischen Separatisten besetzte Gebäude mit Molotow-Cocktails in Brand gesetzt wurde“, schrieb Benjamin Bidder auf Spiegel Online.2  Ähnlich äußerste sich die ARD-Korrespondentin Golineh Atai am 2. Mai im ARD-Brennpunkt.  Unter Berufung auf Augenzeugen berichtete sie, „die pro-ukrainischen Demonstranten hätten die pro-Russen-Anhänger in ein Gebäude getrieben und dieses Gebäude angezündet.“3

Untätige Polizei

Für die Regierungskritiker im Südosten der Ukraine ist es ausgemachte Sache, dass die Regierung in Kiew hinter dem Brand steckt. Die größte Schuld der Regierung und ihrer Vertreter in Odessa liegt darin, dass die Feuerwehr und die Polizei erst am Gewerkschaftshaus auftauchten, als die Flammen schon aus den Fenstern des Gewerkschaftshauses schlugen.

Maidan-Anhänger, Aktivisten des Rechten Sektors und Fußball-Ultras kamen am Nachmittag des 2. Mai hasserfüllt von der Straßenschlacht im Stadtzentrum zum Zeltlager der Regierungsgegner vor dem Gewerkschaftshaus gerannt. Sie konnten zunächst ungestört das Zeltlager abbrennen und dann das Gewerkschaftshaus mit Molotow-Cocktails in Brand stecken.

Mysteriös ist auch, warum die Polizei, als am Nachmittag des 2. Mai mit Knüppeln bewaffnete Fußball-Ultras, örtliche Maidan-Anhänger sowie aus Kiew und der West-Ukraine angereiste Maidan-Hundertschaften im Zentrum von Odessa einen Marsch „für eine einige Ukraine“ veranstalteten, personell nur äußerst schwach vertreten war. Die Ordnungskräfte schritten auch nicht ein, als von Maidan-Anhängern und einer kleineren Gruppe Gegendemonstranten Schusswaffen (mit Gummigeschossen aber auch scharfer Munition) eingesetzt wurden. Sechs Menschen wurden bei der Straßenschlacht erschossen. Drei der Getöteten gehörten zum Lager der Regierungsgegner.4 Die meisten starben durch Schrotkugeln.

Höchst merkwürdig ist auch, dass zum Zeitpunkt des pro-Ukraine-Marsches am frühen Nachmittag eine wichtige Besprechung der gesamten Polizei-Führung der Stadt angesetzt und alle Telefone abgeschaltet waren, wie der stellvertretende Polizei-Chef, Dmitri Futschedschi in einem Interview mit dem russischen Fernsehsender Perwi berichtete.5

Die Hintermänner

Als einer der Hintermänner des Brandes wird in russischsprachigen Medien der Chef des ukrainischen Sicherheitsrates, Andrij Wolodymyrowytsch Parubij (Андрій Володимирович Парубій), genannt. Parubij, der 1991 zusammen mit Oleh Tjahnybok (Олег Тягнибок) den Swoboda-Vorläufer „Sozial Nationale Partei der Ukraine“ gegründet hatte, verteilte nur wenige Tage vor der Tragödie in Odessa an aus Kiew angereiste Maidan-Hundertschaften moderne, schusssichere Westen aus Tschechien.

Als weiterer Hintermann wird in russischsprachigen Medien der zweitreichste Mann der Ukraine, der Besitzer der „Privatbank“ und Gouverneur von Dnjepropetrowsk, Igor Kolomoiski, genannt. Der Oligarch hat für die Ergreifung von Separatisten und Föderalisten, wie den Präsidentschaftskandidaten Oleg Zarew, hohe Kopf­geld-Summen in Aussicht gestellt.

Nach einem abgehörten Telefongespräch soll Kolomoiski Mitglieder seiner privaten Sicherheits-Truppe nach Odessa geschickt haben. Mit den Unruhen in Odessa wollte der Oligarch angeblich den amtierenden Gouverneur diskreditieren, einen Mann seines Vertrauens, Igor Paliz, ins Amt hieven und damit — wie in Dnjepropetrowsk — Ordnung schaffen. Tatsächlich wurde Paliz nach dem Brand Gouverneur von Odessa.

Nach den bisher vorliegenden Informationen spricht vieles dafür, dass es sich bei dem Brand in Odessa um eine geplante Strafaktion gegen die regierungskritische Bewegung in der Ukraine handelte. Im März gab es in Odessa noch Groß-Demonstrationen mit bis zu 30.000 Teilnehmern für die Föderalisierung der Ukraine und ein Referendum. Doch seit dem Brand im Gewerkschaftshaus ist es in der Stadt still geworden. Mehrere Oppositionelle halten sich versteckt oder sind, wie der Vorsitzende der Partei Rodina, Igor Markow, nach Russland geflüchtet.

Provokateure heizten offenbar Straßenschlacht an

Foto-Dokumente von der Straßenschlacht in Odessa bestärken den Verdacht, dass Provokateure im Einsatz waren. Teilweise standen diese Männer direkt hinter den Polizeireihen und schossen in die Menge. In russischsprachigen Medien tauchte die These auf, dass Provokateure  in Absprache mit Teilen der Polizei  Provokationen verübten, um die Demonstration aufzuheizen.6 Der Hass der Maidan-Anhänger gegen die „Koloradi“ (Separatisten) sei deshalb besonders groß gewesen.

Mysteriös ist auch die Rolle des inzwischen abberufenen und untergetauchten stellvertretenden Polizeichefs von Odessa, Dmitri Futschedschi. Wie auf Fotos zu sehen ist, hielt er noch vor dem Brand im Gewerkschaftshaus unter freiem Himmel Besprechungen mit angeblichen Demonstranten ab, die, ebenso wie einzelne Polizisten, rote Armbänder trugen. Außerdem schritt Futschedschi nicht ein, als neben ihm ein maskierter Demonstrant mit einer Pistole schoss.