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Alte Gewalt - neues Gewand

Einleitung

Berichte über Neonazigewalt finden sich eher selten im Antifaschistischen Infoblatt (AIB). Trotz des Wissens, dass hinter jeder Zeitungs-Randmeldung ein konkretes individuelles Schicksal steckt, ist ein Erkenntnisgewinn für Leser einer bundesweiten antifaschistischen Zeitschrift nicht gegeben. Neonazis sind nun mal gewalttätig, weswegen sie bis weit ins bürgerliche Spektrum moralisch abgelehnt werden. Doch da mit dem Wechsel des eigenen Selbstbildes wie im Artikel »Das Label: Autonome Nationalisten« beschrieben auch ein scheinbarer Wechsel der neonazistischen Gewalt einhergeht, lohnt es sich, das Thema näher zu beleuchten.

1. Mai 1997 in Hannoversch Münden: Bewaffnete Neonazis versuchen nach einem Spontanaufmarsch gegen Linke vorzugehen.

Alte Gewalt

Was man sich unter Neonazigewalt vorstellen kann, hat sich seit den 90er Jahren kaum geändert. Es sind Berichte wie der vom 4. April 2003, als eine Neonazihorde im Westberliner Stadtteil Britz auf einem Baumblütenfest mit Baseballschlägern und Flaschen drei Ausländer attackierte, anschließend über zwanzig Neonazis in der U-Bahn rassistische Lieder der Band Landser sangen, Ausländer aus der U-Bahn heraus mit Flaschen bewarfen und schließlich am Bahnhof Rudow sechs Ausländer angriffen und noch auf die am Boden liegenden eintraten. Als die Polizei dem Gewalttrip ein Ende zu bereiten versuchte, setzte sich die Gruppe aus West- und Ostberliner Neonazis noch zur Wehr. Die Polizei stellte später fest, dass es sich weniger um organisierte Nazis handelte, als vielmehr um peer-group-ähnliche Neonazicliquen, um einige Berliner Jungneonazis. Ähnliches lässt sich für eine elfköpfige Neonazigruppierung aus Berlin-Grünau feststellen, welche eher der sozialen Unterschicht angehörte, sich »Deutsche Schläger Gruppe« (DSG) nannte und beschloss, »Kinderschändern einen Denkzettel zu verpassen«. In weniger als zwei Wochen verübte sie vier Überfälle, die an Brutalität schwer zu überbieten sind.
Am 1. Mai 2005 wurde ein 40-jähriger durch eine 17-jährige Täterin in seine Wohnung gelockt, wo sie ihren Mittätern die Tür öffnete. Diese misshandelten den vermeintlichen Pädophilen unter anderem mit einem Bügeleisen, stahlen Wertgegenstände und ließen das Opfer zwei Tage bewusstlos in seiner Wohnung liegen. Zehn Tage später planten sie einen 30-jährigen »Sextäter« zu bestrafen. Auf dem Weg zu ihm attackierten sie zwei junge Punks mit Schlagringen und Teleskopschlagstöcken. Anschließend wurde das eigentliche Opfer in seiner Wohnung zusammengeschlagen und beraubt. Einen Tag später drangen zwei Mitglieder der Gruppe unter dem Vorwand, Polizisten zu sein, in die Wohnung eines 57-jährigen ein, schlugen ihn mit einen Knüppel zusammen und raubten ihn aus.

Neues Gewand

Demgegenüber steht eine zunehmende Anzahl planvoll begangener Gewalttaten. Im Februar drangen drei maskierte Neonazis im Stadteil Pankow in einen Irish Pub ein, dessen Wirtin zuvor unerwünschtem extrem rechten Klientel Hausverbot erteilt hatte. Mit Äxten zertrümmerten sie das Lokal und sprühten u.a. Hakenkreuze an die Wand. Der 37-jährigen Wirtin gelang die Flucht durch den Hinterausgang. Im April wurde eine unpolitische Musikgruppe in ihrem Pankower Proberaum von vier Neonazis überfallen und mit Reizgas und Teleskopschlagstöcken verletzt. Die eigentlich anvisierte linke Musikgruppe probte an diesem Tag nicht. Bei einer anschließenden PKW-Kontrolle fanden Polizisten im Auto der Täter deren Waffen und Gesichtsmasken. Unter den Festgenommenen befanden sich auch Andy F. und Martin St., die den Autonomen Nationalisten Berlin (ANB) zuzuordnen sind. Beide hatten bereits im November 2003 eine Straßenbahn mittels Pflasterstein attackiert, in welcher sich ein junger Antifaschist befand. Die 2002 gegründete ANB war, beziehungsweise ist, ein Zusammenschluss von Neonazis um Toni B. und Kevin P., der gezielt Antifaschisten ausspähen und einschüchtern will. Andy F. speicherte dazu in seinem Computer Namen von Linken in einer Kartei »Antifa«. Zum Aktivistenkreis der ANB zählte der Berliner Staatsschutz – zumindest Mitte 2004 – denselben Personenkreis wie den der nunmehr verbotenen Kameradschaft Tor, darunter Björn W., Daniel M. und Oliver Oe. Andere auf ähnliche Weise begangene Taten sind bisher juristisch nicht aufgeklärt. So drangen im Juli mehrere vermummte Neonazis morgens in die Anna Seghers-Bibliothek ein, bedrohten die Angestellten und zerstörten eine antifaschistische Ausstellung (Motiv Rechts). An die Wand sprühten sie »C-18«, das Logo der englischen Terrorgruppe Combat 18. Weniger klandestin ist hingegen das offene Bedrohen von linken Veranstaltungen und Treffpunkten in größeren Gruppen. So griffen im April 15 bewaffnete Berliner Neonazis eine antifaschistische Informationsveranstaltung im Stadtteil Köpenick an, im Anschluss »besuchten« sie zwei Jugendclubs, die keine rechte Klientel dulden. Ähnliches versuchte diese Gruppierung bei linken Veranstaltungen wie dem Kulturschock, dem Le monde est á nous oder gar bei der antimilitaristischen Gelöbnix-Demonstration. Zuletzt wurden am 23. Juli zwei alternative Jugendliche in Berlin-Prenzlauer Berg von 15 Neonazis überfallen und verletzt. Die Täter wurden in einer nahegelegenen Diskothek von der Polizei gestellt1. Während die als alt titulierte Gewalt sich also eher zufällig und oft gruppendynamisch gegen Personen richtete, die willkürlich ins Feindbild definiert wurden, ist nunmehr festzustellen, dass als Antifaschisten bekannte Personen planvoll und weit gezielter durch Neonazigruppen attackiert werden.

Premnitz

Angriffe auf jugendliche Punks, Alternative oder Bürger waren und sind auch in brandenburgischen Kleinstädten wie Premnitz keine Ausnahme, sondern eher alltäglich. Als die örtliche Neonaziszene einen »Zeckenclub« als Angriffsziel auserkor, zeigte sich die Öffentlichkeit über deren Vorgehen jedoch erstaunt. Bereits in den frühen Abendstunden des 3. Juni 2005 patroullierten PKWs mit Brandenburger Kennzeichen offenbar zur Feindaufklärung am Club. Später wurden ungefähr dreißig überwiegend jugendliche Neonazis an ihrem Sammelpunkt auf dem Premnitzer Markt gesehen, darunter aber auch ältere Aktivisten der verbotenen Kameradschaft Hauptvolk. Gegen 22.30 Uhr schlich die Gruppe vom Marktplatz kommend am Premnitzer See entlang in Richtung Jugendclub. Dabei wurde sie von einem Angler bemerkt, der – beunruhigt von den vermummten und bewaffneten Gestalten – die Polizei verständigte. Ehe diese einschritt, versuchten die Neonazis mehrmals zum Clubgebäude vorzustoßen. Erst in den frühen Morgenstunden griff die Polizei zu und stellte von 16 Personen die Personalien fest. Nachdem auch Molotowcocktails gefunden wurden, durchsuchten Beamte 18 Wohnungen von Neonazis in Premnitz, Rathenow und Brandenburg/Havel. Gegen achtPersonen wurde Haftbefehl wegen versuchten Mordes erlassen, gegen sechs aber wieder außer Vollzug gesetzt. Die Reaktion des Clubs »in Auswertung der Ereignisse« bestand in folgender Anordnung: »(...) Personen, die permanent verbale oder tätliche Auseinandersetzungen mit anderen Jugendlichen oder Gruppen von Jugendlichen haben und das Jugendzentrum und sein Gelände als Rückzugsraum ansehen werden (...) zur Rechenschaft gezogen, d.h. dass in Härtefällen ein Hausverbot ausgesprochen werden kann. (...)« Sprich, wer Opfer neonazistischer Attacken wird, darf auf keine Hilfe hoffen. Eine Problemverkehrung, die in der brandenburgischen Landeshauptstadt noch zu überbieten ist.

Potsdamer Impressionen

Auch Potsdam wurde im Sommer 2005 zum Schauplatz zunehmender Neonazi-Gewalt. Hintergrund der Eskalation ist eine enge Zusammenarbeit von Neonazis aus Potsdam und Berlin. Als im April eine Serie von Strafprozessen gegen Neonazis begann (Vgl. AIB Nr. 68), sahen sich AntifaschistInnen mit einer Mixtur aus dreißig bis fünzig Freien Nationalisten und Neonazi-Hools konfrontiert, von denen sie an den folgenden Prozesstagen fotografiert und bedroht wurden. Diese Gruppierung ist seitdem für eine Reihe von Überfällen auf AntifaschistInnen, MigrantInnen und alternative Jugendliche in Potsdam verantwortlich. Während des Potsdamer Kulturevents Babelsberger Live-Nacht im Mai diesen Jahres wurden alternative Jugendliche von einem bewaffneten zehnköpfigen Neonazi-Mob durch den Stadtteil gejagt und geschlagen. Im Juni griffen etwa zwanzig Neonazis die BesucherInnen eines HipHop-Festivals an und nach einem antirassistischen Stadionfest wurden in einer Straßenbahn zwei Besucher von etwa 15 Nazis attackiert und verletzt. Anfang Juli fielen, nachdem sie die Notbremse gezogen hatten, etwa 15 Neonazis aus einer Straßenbahn heraus über zwei Potsdamer Linke her, zerschlugen eine Bierflasche auf dem Kopf des Einen, sprangen auf dem Ohnmächtigen herum und verletzten den Zweiten schließlich mit der abgeschlagenen Flasche im Gesicht, wobei sie seine Halsschlagader nur knapp verfehlten. Die TäterInnen gehören einem Personenkreis an, der sich hauptsächlich aus der Anti-Antifa Potsdam und den verbotenen Berliner Kameradschaften Tor und Berliner Alternative Süd Ost (BASO) rekrutiert, die sich infolge des Verbots Potsdam zur Spielwiese auserkoren haben. Dazu kommen eine Reihe noch aus den 1990er Jahren bekannten Neonazischläger, von denen angenommen worden war, dass sie sich nunmehr im kriminellen Milieu betätigten und in politischer Hinsicht nicht mehr von Belang seien. Zusammengehalten wird dieser Haufen scheinbar von dem Willen, Potsdam mittels ordinärer Straßengewalt zu einer »national befreiten Zone« zu machen. Die Gewalttätigkeit der selbsternannten Autonomen Nationalisten, auf die andernorts zugunsten gesellschaftlichen Raumgewinns teilweise verzichtet wird, scheint eine Kompensation für deren politische Bedeutungslosigkeit zu sein. Ihre Gefährlichkeit besteht somit in der unmittelbaren Brutalität gegenüber Einzelnen. Umso unbegreiflicher bleibt die Reaktion der Stadt, welche die Förderung einiger lokaler Initiativen, die mühsam und teilweise erfolgreich gegen die extreme Rechte arbeiten oder den Opfern der Neonazis Betreuung zukommen lassen, zeitgleich in Frage stellt. Von der Ignoranz und Verharmlosung der Neonazis, von der Ursachensuche bei den Opfern bis zur Verwischung und Verkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses, von der Denunziation der Linken bis zur Kriminalisierung antifaschistischen Widerstands tauchen Elemente staatlichen Umgangs mit dem Problem neonazistischer Gewalt wie alte Bekannte aus den frühen 90er Jahren wieder auf. Als das Totschweigen der Neonazigewalt nicht mehr möglich war, nahmen Polizei und Staatsanwaltschaft einen leichtverletzten Neonazi zum Anlass, fünf antifaschistische Jugendliche des versuchten Mordes zu bezichtigen. Es folgte ein Schreckensbild eines sich aufschaukelnden Extremismus, dem nur mit strengster Repression zu begegnen sei. Im Lichte der unzweideutigen Statistik geradezu ein Phantasma. Die Lokalpresse übernahm dieses Konstrukt, wobei der Neonaziterror zum Ergebnis einer von links in Gang gesetzten »Gewaltspirale« stilisiert wurde. Eine der fünf beschuldigten AntifaschistInnen sitzt nach wie vor in Untersuchungshaft, zwei andere sind nur auf Kaution entlassen. Das steht im schreienden Missverhältnis zum Umgang mit den Neonazis, die an dem brutalen Überfall im Juli beteiligt waren. Die Polizei fasste zwar die Täter, deren U-Haft wurde jedoch außer Vollzug gesetzt und sie sind lediglich dem Vorwurf schwerer Körperverletzung ausgesetzt.

Dass man sich wehren muss...

Da die Mär einer sich bedingenden Gewaltspirale zwischen linken und rechten Extremisten solch drastische Folgen haben kann, gilt es, diese überzeugend zu widerlegen. Nicht ohne Grund macht auch die Berliner Kameradschafts-Szene sich diese Sicht zu eigen und verkündet auf Plakaten, welches einen niedergeschlagen jungen Mann mit Irokesenschnitt zeigt, »Gewalt erzeugt Gegengewalt«. Es gilt sich als AntifaschistIn nicht auf das gegenseitige »Aufmuskeln« einzulassen, sondern vielmehr genau zu reflektieren, wer aus welcher Motivation heraus sein politisches Handeln womit begründet. Nationalsozialistische Ideologie und Gewalt sind untrennbar miteinander verbunden, sie beruht auf einer Unterteilung von Individuen in verschiedene Wertigkeiten und der faschistischen Selbstverortung als überlegen und stark. Der Wille, diesen Mythos zu brechen und die Erkenntnis, dass autoritär strukturierte Charaktere sonst nicht zu beeindrucken sind, legitimiert antifaschistische Gegenwehr seit es Faschisten gibt. Und das im Widerspruch zu einer emanzipativen Gesellschaftsvorstellung, welche frei von Gewalt, Unterdrückung und letzendlich der Herrschaft des Menschen über den Menschen ist. Der holländische Autor Harry Mulisch hat das Thema 1982 in seinem Roman »Das Attentat« verarbeitet: Im Gespräch mit einem 13-jährigen Jungen, dessen Eltern aus Rache für ein Attentat auf einen Nazikolloborateur ermordet werden, schildert eine antifaschistische Widerstandskämpferin kurz vor ihrer Hinrichtung das Dilemma des eigenen Hasses der notwendig geworden war, um der faschistische Gewalt zu begegnen: »Wir müssen (...), damit wir sie bekämpfen können, ein bisschen von uns selbst aufgeben (...) sie können einfach sie selbst bleiben, darum sind sie so stark. (...) Wir müssen nur aufpassen, daß wir nicht zu sehr wie sie werden (...) dann hätten sie am Ende doch noch gewonnen ...« Gewaltsames Vorgehen per se zu verdammen, ist zweifelsohne ahistorisch und unpolitisch; es als politischen Inhalt zu verkaufen ist genauso falsch. Antifaschistische Militanz hat ihren Zweck als Gegenwehr zu einer Ideologie, die Auschwitz zu verantworten hat – nicht mehr und nicht weniger. Zwar gilt es, ein Bedrohungsgefühl durch Neonazischläger gemeinsam und offensiv zu überwinden, als Lifestyle oder Attitüde ist sie nicht geeignet. Für die Nazischlägergangs – ob nun organisiert oder unorganisiert – ist Gewalt kein notwendiges Übel, sondern der Inhalt ihrer politischen Ideologie. Die hohe Zahl von durch Neonazigewalt in Deutschland zu Tode gekommener Menschen belegt deren Nichtwertachtung des Lebens. Die Gewalt von Neonazis unterdrückt diejenigen, welche ihrem Weltbild nicht entsprechen. Sie bindet erlebnisorientierte Jungnazis und ermöglicht es, sich innerhalb der Neonazi-Szene zu profilieren. Der Rückgriff auf politische Stilmittel der radikalen Linken versucht dabei deren Legitimität zu übernehmen. Ein Versuch, der nur über die Artikulation der eigenen politischen Inhalte zu verhindern ist. Wer befürchtet, Gewalt von Neonazis gegen Antifaschisten befreie die Neonazis vom politischen Makel ungezielter Gewalt – sprich, dass Menschen ohne jegliches eigenes Zutun Opfer rechter Gewalt werden – verkennt den Kern faschistischer Ideologie. Die faschistische Gewalt verschwindet nicht durch die Abwesenheit antifaschistischer Gegenwehr, sondern umgekehrt. Eine historische Selbstverständlichkeit, die aber ohne ein hohes Maß an Reflektion und inhaltlicher Auseinandersetzung schnell zum letztendlich unpolitischen Selbstzweck werden kann.