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Das eigene Schicksal selbst bestimmen

Franziska Bruder

Einem bislang kaum bis gar nicht beachteten Aspekt im Rahmen der Forschungen zum Holocaust und jüdischem Widerstand widmet sich Franziska Bruder mit ihrer Monographie zu Fluchten aus den Deportationszügen der „Aktion Reinhardt“, den Transporten in die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka. Dort wurden zwischen März 1942 und Oktober 1943 bis zu 1,8 Millionen überwiegend polnischer Jüd_innen und 50.000 Roma systematisch ermordet.

Die Fluchten aus den Zügen fanden unter großer Lebensgefahr statt. Neben der generellen Geschwindigkeit der Züge und dem Risiko beim Sprung als solchen zu sterben, waren auch Wachmannschaften auf bzw. in Extra-Waggons postiert, die auf die Flüchtenden schossen. Zudem patrouillierten entlang der Strecke deutsche Polizeieinheiten, die Jagd auf die Entflohenen machten. Die erfolgreiche Flucht aus den Zügen war zudem immer erst auch der erste Schritt im Kampf ums weitere Überleben, das durch Verrat durch Einheimische, Hunger, Kälte und vielen andere Gefahren bedroht war.

Bruder wertete für ihre Untersuchung verschiedene Quellen aus, primär 135 Zeugnisse von Springer_innen selbst, die ihre zentrale Quellengrundlage bildeten. Diese fand sie u.a. in gesammelten Berichten des polnischen „Jüdisch Historischen Instituts“ direkt nach dem Krieg, in Zeugenaussagen zu Ermittlungen gegen NS-Verbrecher aus den 1960er Jahren sowie in den gesammelten autobiographischen Texten im Archiv von Yad Vashem.

Obwohl viele dieser Quellen bereits seit Jahren vorliegen, blieb die Flucht aus den Zügen bislang eine weitgehend unbeachtete Leerstelle der Forschung. Bruder führt dies u.a. darauf zurück, dass aus der Perspektive der Überlebenden „die grauenvollen und tödlichen Bedingungen in den Waggons (...) vielfach schambesetzt“ waren, aber auch, dass sich bisherige Untersuchungen zum Holocaust „vor allem auf das Davor und Danach, also auf die exzessiven Morde“ konzentriert hatten. Zudem fragt sie, „ob aufgrund eines zu engen Widerstandsbegriffes die Fluchten aus den Deportationszügen in ihrer Bedeutung verkannt wurden“. Bruder selbst resümiert dazu, „diese Arbeit stützt empirisch die Perspektive, das Springen als Widerstandsakt zu betrachten“ sei, dessen Würdigung bislang ausstehe. Nicht ohne Grund beginnt ihr Buch vermutlich deshalb mit einem Zitat der Gruppe Akiba vom August 1943: „Jede Flucht aus den Händen der Folterknechte stellt aktuell eine kämpferische Handlung dar.“

Ihr Buch gliedert sich grob in drei Teile, den Voraussetzungen bzw. Bedingungen für die Flucht, die Fluchten selbst, gegliedert in den Strecken zum jeweiligen Vernichtungslager mit ausgewählten Biografien von Spinger_innen und abschließend Überlegungen zu quantitativen und qualitativen Aspekten sowie den Überlebensstrategien nach der Flucht.

Bruder stellt bei ihrer Untersuchung unter anderem Fest, dass sich auf den Strecken in die Vernichtungslager Belzec und Treblinka ähnliche Entwicklungen beobachten lassen. Waren es in der Anfangsphase vor allem individuelle und vereinzelte Fluchten, überwiegend von Anhänger_innen jüdischer Widerstandsorganisationen, kam es später zu einer größeren Anzahl bis hin zu Massenfluchten aus den Deportationszügen. Auffällig ist dabei, dass vor allem Jüd_innen aus den Ghettos und Lagern sprangen, die sich in räumlicher Nähe zu den Vernichtungslagern befanden. Das weist auf einen zentralen Aspekt hin, das Wissen um das Ziel der Züge und die geplante Vernichtung: So wurden „in den Ghettos die Informationen konkreter, da die meisten Springerinnen und Springer nach der Flucht dorthin zurückkehrten und ihre Erfahrungen weitergaben.“ Auch die veränderte soziale Zusammensetzung war relevant. Waren zunächst vor allem Ältere und Kranke deportiert worden, waren die später Betroffenen viel mehr überhaupt körperlich in der Lage zu flüchten. Zudem wird deutlich, dass die Stärke der Widerstandsgruppen in den Ghettos ausschlaggebend für das Ausmaß war.

Der Autorin ist mit „Das eigene Schicksal selbst bestimmen“ nicht nur gelungen, eine Forschungslücke zu füllen, sondern sie hat auch ein sehr lesenswertes Buch geschrieben, das nicht lediglich wissenschaftliche Fakten trocken vermittelt, sondern durch eine angenehme - und trotzdem angemessene  - Sprache und Schreibweise auffällt.

Franziska Bruder
"Das eigene Schicksal selbst bestimmen - Fluchten von Juden aus den Deportationszügen in die Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt«"

552 Seiten; gebunden; 29,80 Euro
ISBN 978-3-89771-826-5