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Der Fall der Röszke 11

Kampagne: free the röszke 11
Einleitung

Nach Monaten, teils auch nach Jahren der Flucht zerschellt ihre verbliebene Hoffnung an der Grenze Ungarns. Für viele Geflüchtete stellt der militärisch gesicherte Zaun eine unüberwindbare, vor allem aber geografisch kaum vermeidbare Barriere dar, seitdem die ungarische Regierung vor einem Jahr entgegen bestehender Verträge die Grenze schloss.

Ein Schauprozess gegen Geflüchtete

Als hunderte Menschen am 16. September 2015 feststellen mussten, dass ein Weiterkommen auf einmal nicht mehr möglich war und gleichzeitig eine Erklärung von Seiten der Autoritäten ausblieb, entflammte an verschiedenen Orten spontaner Protest, darunter auch am serbisch-ungarischen Grenzübergang Röszke. Fami­lien mit Kindern, junge Erwachsene, alte Menschen warten am Grenzübergang, wäh­­rend sich die Stimmung in den ersten Reihen, von Unverständnis und Fassungslosigkeit geprägt, aufheizt. Nach der ersten Welle von Tränen­gas, laut Stellungnahme der ungarischen Polizei durch Flaschenwürfe provoziert, ziehen sich die Grenztruppen zunächst zurück und der Grenzübergang steht weit offen, was den etwa 200 Menschen die vermeintliche Hoffnung gibt, doch weiterreisen zu dürfen: „Thank you, Hungary!“. Dann schnappt die Falle zu und die zuvor in Stellung gebrachten Sondereinheiten stürmen die sogenannte „Todeszone“, auf der die panische Masse versucht umzukehren: links und rechts eingezäunt, dazwischen rohe Brutalität. Folge des Protests gegen die Einkesselung waren über hundert Verletzte, darunter auch 15 Polizist_innen.

Mehr als ein Jahr später wird Ahmad H., der letzte von elf Angeklagten zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Seine einzige Hoffnung ist nun, dass seine Anwälte in Revision gehen können. Die ungarische Staatsanwaltschaft wirft ihm Terrorismus vor und forderte eine lebenslange Haftstrafe, mindestens jedoch zwanzig Jahre Haft. Begründung dafür sei seine Rolle als „Aufrührer“ eines Aufstandes. Als Beweise dienen diffuse, sich widersprechende Aussagen verschiedener Beamt_innen und ein Video, das Ahmad H. mit einem Megaphon zeigt. Seine letzten Worte im Prozess: „Es tut mir sehr leid, wenn ich das Gesetz gebrochen habe. Aber ich fühle mich nicht schuldig. Ich bin kein Terrorist.

Ahmad H., der 2006 nach Zypern auswanderte und dort eine Familie hat, bekommt im Sommer 2015 einen Anruf: Seine Eltern in Syrien begeben sich auf die Flucht. Daraufhin trifft er die Entscheidung, mit ihnen die Balkanroute zu gehen. Von der lebensgefährlichen Überfahrt nach Lesbos kommt Ahmad H.s Familie über die — zu dieser Zeit noch passierbare — Grenze Mazedoniens nach Serbien. Am serbisch-ungarischen Grenzort Röszke wird ihnen der Weg jedoch gewaltsam versperrt. Aufgrund seiner Sprachkenntnisse in Englisch, Griechisch und Arabisch kommt Ahmad H. in der kritischen Situation in eine Sprecherrolle. In der aufgewühlten Menge versucht er über ein Megaphon zu vermitteln.

In den Prozessvideos ist zu sehen, wie die Menschenmasse, eingekeilt zwischen Stacheldraht und Schlagstöcken, Schutz vor der Gewalt sucht. Insgesamt elf Menschen werden von den ungarischen Einsatzkräften festgenommen. Es sind vor allem jene, die aufgrund ihres hohen Alters und/oder körperlicher Einschränkungen keine Chance haben zu entkommen. Eine 64-jährige, halb erblindete Frau mit Diabetes und ein Mensch im Rollstuhl sind Beispiele dafür, wie wahllos die Verhaftungen geschahen. Doch deutet dies bereits auf die zukünftige Entwicklung hin: Es ist der Auftakt zu einem Schauprozess. Zehn Angeklagte werden im Herbst dieses Jahres aufgrund „illegaler Einwanderung“ in einem kollektiven Gerichtsverfahren zu ein bis drei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt. Immerhin konnten inzwischen sieben von ihnen ihre Flucht nach Westeuropa fortsetzen. Das Trauerspiel endet jedoch auch nicht dort: Aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung und einer drohenden „Dublin-Abschiebung“ nach Ungarn beschließt Faisal F., der junge Iraker im Rollstuhl, „freiwillig“ in den Irak zurück zu reisen. Ahmad H.s Verhandlung ist die letzte.

Während seiner Verhandlung werden Videos von den angeblichen Taten Ahmad H.'s gezeigt. Tonlos und verschwommen sollen sie seine Rädelsführerschaft beweisen, während andere Sequenzen belegen sollen, dass er Polizist_innen angegriffen habe, was zwei Objekte unerkennbarer Substanz mit undefinierbarer Flugbahn zeigen sollen. Ahmads Kommentare werden von der Richterin abgewürgt und die zwei maskierten Polizisten der Anti-Terror-Einheit spannen die Leinen zu seinen Armen und Beinen etwas straffer. Die einzigen geladenen Zeug_innen sind Polizist_innen, die Zeug_innenliste des Verteidigers bleibt ungehört. Auch die über 25 Journalist_innen und Aktivist_innen, die in Röszke bei den Protesten anwesend waren, bekommen keine Chance Ahmad H. zu entlasten. Seine Aussagen werden dagegen zu seinen Ungunsten verfälscht übersetzt. So wird beispielsweise „Wir werden zur Grenze gehen um diese zu überqueren“ zu „Wir werden zur Grenze gehen und sie gewalttätig durchbrechen, was es auch kosten mag“. Hinzu kommen weitreichende Verknüpfungen um den Vorwurf des Terrorismus zu untermauern. So muss sich Ahmad H. für seine Glaubenszugehörigkeit verteidigen, als ihm Verbindungen zu islamistischen Terrorgruppen vorgeworfen werden. Eine Mekkareise und weitere Aufenthalte in Saudi Arabien und Indien sollen als Beleg für seine „islamistische Zugehörigkeit“ dienen.

Beide Prozesse, einer gegen die zehn anderen Angeklagten und der zweite gegen Ahmad H., sind geprägt durch selektiertes Beweismaterial, feste Vorüberzeugungen zur Schuld der Angeklagten, sich widersprechende Aussagen und Lügen. Das scheint auf die politische Linie Ungarns hinzudeuten. Zu diesem Zeitpunkt ist es bereits ein Erfolg, überhaupt Details aus den Verhandlungen zu erfahren. Aktivist_innen, worunter prinzi­piell alle Besucher_innen ohne offizielle Einladung oder Presseausweis fallen, werden wie auch die meisten Reporter_innen durch zivile Polizeieinheiten am Einlass gehindert. Die beinahe 100 Demons­tran­t_innen, die mit internationaler Unterstützung die Prozesse vor dem Gerichtsgebäude begleiten, sehen sich massiver Beschattung und Polizeiwillkür ausgesetzt. Abgesehen von kleineren Solidaritäts-Kundgebungen scheint der Unterstützer_innenkreis allein zu bleiben. Ihre Anklage an die Justiz, welche sich weder an eigene Rechtsstandards hält, noch sich darum bemüht, den Schein zu wahren, wird in ihrer Tragweite größtenteils nicht verstanden und stößt in den meisten Fällen auf die Reproduktion eines, durch die ungarische Regierung offen und von vielen Stellen unterstützten negativen Bildes von Geflüchteten. Nicht erst unter der Regierung von Viktor Mihály Orbán wurden Minderheiten, vor allem flüchtende Menschen zur gesellschaftlichen Zielscheibe instrumentalisiert und stigmatisiert. Die momentane Zuspitzung stellt dabei in ihrer direkten Gewalt ein Vorbild für extrem rechte Bewegungen in Europa dar. Von Bürgermeistern wie Laszlo Toroczk, die zur Jagd auf Geflüchtete aufrufen, bis hin zu einer Justiz, welche Ahmad als Vorzeigefall der Migration — als Terroristen — inszeniert. Das Exempel ist statuiert. Eine alte Frage tut sich erneut und offen vor aller Augen auf: Wer richtet die Richter? Vor allem dann, wenn das „Volk“ wegschaut.

Doch es regt sich Protest. Für den 3. Dezember 2016 sind Kundgebungen in Budapest angemeldet worden und internationale Medien haben das Thema aufgegriffen. Der Prozess gegen die Röszke 11 zeigt, wie notwendig unsere Solidarität ist. Zumindest konnte die gewonnene Aufmerksamkeit genug Druck erzeugen, um die von der Staatsanwaltschaft geforderte lebenslange Haftstrafe für Ahmad auf 10 Jahre zu reduzieren. Leider nur ein kleiner Erfolg. Wenn all jene Institutionen ihrem irrsinnigen Vertrauensvorschuss und der von uns auf sie übertragenen Verantwortung nicht gerecht werden und diese nur zur Stärkung der eigenen Macht ausnutzen, stellen das Engagement der politischen Aktivist_innen, ihr Durchhaltevermögen und ihre Kreativität oft die einzige Möglichkeit dar, um für eine öffentliche Wahrnehmung zu sorgen. Eine Verantwortung, welche in der Regel von Seiten der Presse übersehen wird. Erst die Verurteilung selbst brachte den vergeblich erwarteten Aufschrei kritischer Zeitungen mit sich. Für Ahmad H. hoffentlich nicht zu spät.

Mehr Informationen unter:

roszke11.wordpress.com
freetheroszke11.weebly.com
noborderserbia.wordpress.com
moving-europe.org
ineumanity.noblogs.org