Ungarn: Eine Geschichte über den alltäglichen Faschismus
Dieser Artikel von Karl Pfeifer ist in der internationalen antifaschistischen Zeitschrift »Searchlight« aus Großbritannien für Antifa-Net erschienen.Die christlich-liberale Budapester Wochenzeitung Hetek kommentierte vor einigen Wochen drei jüngere Ereignisse, die zeigen, dass Ungarn es nicht geschafft hat, die antisemitischen und rassistischen Geister zu vertreiben.
Das erste Ereignis war eine Nazidemonstration am Helden-Platz in Budapest, die durch die Polizei geschützt wurde. Jeder, der am 11. Februar die Monet-Austellung am Helden-Platz besucht hatte, musste entsetzt sein über die Ansammlung von Menschen in Naziuniformen, die Szálasi, dem Führer der verhassten Pfeilkreuz-Faschisten, huldigten und den Staat Israel als Staat der Ratten bezeichneten.
Diese Gruppe, die ungarische Nazi-Fahnen trug, gehörte zum ungarischen Ableger der internationalen Nazi-Skinhead Bewegung Blood & Honour (B&H). B&H wurde in Ungarn im Februar 2001 offiziell als Kultur-Verein registriert und im Mai 2002 als gemeinnütziger Verein eingetragen.
Am 11. Februar mobilisierte B&H 600 Personen um den Ungarn zu gedenken, die mit den Nazis kollaborierten, um Budapest gegen die Befreier der Roten Armee zu verteidigen. Dieses war nicht die erste derartige Demonstration. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum die derzeitige sozialistisch-liberale Regierung dieses nicht verhindern konnte. Es ist allgemein bekannt, dass das Büro für Nationale Sicherheit, verantwortlich für die innere Sicherheit Ungarns, B&H als die gefährlichste Neonazi-Gruppe betrachtet und ihre Mitglieder überwacht.
Anfang 2003 legte der Budapester Staatsanwalt Widerspruch gegen die Vereins-Eintragung von B&H ein, aber das Gericht, das den Fall verhandelte, kam zu keinem Urteil. So lag die Angelegenheit weiter in Händen der Polizei, welche die Nazidemonstration am Helden-Platz nicht nur erlaubte, sondern auch beschützte. Letztlich führte das dazu, dass der Jahrestag der Befreiung Budapests von der Nazibesetzung durch B&H-Nazis gekennzeichnet wurde, die antisemitische Verunglimpfungen brüllten und die heldenhaften Verteidiger Budapests priesen. Sie meinten damit ungarische und deutsche Faschisten, unter denen sich auch der wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilte Faschistenführer Ferenc Szálasi befand.
Ein Artikel in der rechten Wochenzeitung »Magyar Demokrata« beschreibt die faschistischen Verteidiger Budapests gegen »rote Banden« (die Rote Armee) als die Nachfolger der lobenswerten Tradition derer, die gegen die türkischen Besatzer im 16. Jahrhundert kämpften. In anderen Artikeln wird behauptet, dass die heldenhafte Verteidigung des belagerten Budapests der westlichen Kultur gute Dienste erwiesen habe, da diese offensichtlich das Vorrücken der Roten Armee bis Paris verhinderte.
Die Art westlicher Werte, die die Faschisten vertraten, ist offensichtlich der zweite Grund für Heteks Besorgnis, nämlich die Enthüllung, dass ein hoher Prozentsatz von Geschichtsstudenten, darunter viele zukünftige Lehrer, vorurteilsbehaftetet gegen Juden, Zigeuner und Ausländer sind. Diese rassistischen Vorurteile wurden in einer Studie der prominenten Soziologin Mária Vásárhelyi aufgedeckt und in der Budapester Wochenzeitung Élet és Irodalom publiziert. Die Studie basiert auf 500 Interviews, von denen 37% in kirchlichen Hochschulen und 63% an staatlichen Universitäten geführt wurden. Ein Drittel davon in ländlichen Regionen und zwei Drittel in Budapest.
Diese Werte sind erschreckend. 21% der interviewten Studenten glauben, dass Juden die Nationen, die sie akzeptieren, destabilisieren und schwächen, 22% würden es vorziehen, wenn Juden nur in Israel lebten, 23% glauben, dass die Juden als Ganzes für Antisemitismus verantwortlich sind und 24% denken, dass sich Juden nicht in die ungarische Gesellschaft integrieren wollen. Fast ein Drittel zeigte antisemitische Haltungen, 29% waren unschlüssig und nur 39% hatten eine durchweg demokratische Einstellung. An der katholischen Pázmány Péter Universität in Budapest zeigten 42% eine antisemitische Haltung und weitere 41% waren sich unschlüssig über ihre Haltung gegenüber Juden. Nur einer von sechs Studenten konnte dem durchweg demokratischen Lager zugeordnet werden.
Die Resultate der Studie über antiziganistische Einstellungen waren sogar noch alarmierender. Zwei Drittel der Interviewten betrachten die »Mehrheit der Zigeuner als nicht tolerierbare Menschen«. Fast die Hälfte glaubt, dass »Zigeuner« nichts tun, um sich in die Gesellschaft einzugliedern und fast die gleiche Anzahl glaubt, dass die »wachsende Zigeunerbevölkerung eine Gefahr für die Gesellschaft« darstelle. Mehr als ein Drittel meint, das »Zigeuner« dazu gezwungen werden sollten, so wie »normale« Leute zu leben. Die selbe Zahl denkt, dass die »kriminelle Veranlagung« der »Zigeuner« genetisch bedingt ist und 20% erheben offen ihre Stimme, dafür »Zigeuner« zu separieren.
Das dritte von Hetek herausgestellte Ereignis war die Entscheidung, eine Statue zu Ehren von Pál Teleki, dem Initiator der antisemitischen Diskriminierungsgesetze während seiner Ministerpräsidentenzeit vor und während des zweiten Weltkriegs, zu errichten. Es ist nur dem Mut einer kleinen Gruppe von Menschen zu verdanken, dass die Einweihung der Statue verschoben wurde. Fast eine halbe Million ungarischer Juden wurden während des Holocausts mit der aktiven Unterstützung der ungarischen Führung in Konzentrationslager verschleppt. Sechzig Jahre später stimmte ein Budapester Ausschuss, unterstützt vom Bürgermeister Gábor Demszky, dafür, Teleki zu ehren, wenn auch Demszky seine Unterstützung nach Protesten von jüdischen Organisationen und liberalen Bürgern wieder zurückgezogen hat.
György Száraz, ein Journalist und Literaturkritiker, bekannt für seine historischen Beobachtungen und ehrlichen Einschätzungen über Antisemitismus und dessen Bedeutung für den Holocaust, beschreibt Teleki wie folgt: »Er war einer der Väter rassistischer Diskriminierung, des Nationalismus und Irredentismus1 . Als Ministerpräsident führte er körperliche Züchtigung als Bestrafung ein, verhängte Sanktionen gegen die Arbeiterklasse und half später bei der Ausrichtung Ungarns hin zu Italien und Deutschland. Er entwarf Gesetze gegen Juden und fuhr sogar mit dieser selbstmörderischen Politik fort, als er selber die wachsende Gefahr erkannte.«
Teleki brachte seine rassistische Haltung bereits 1914 zum Ausdruck. Zwischen 1920 und 1921 entwarf er als Ministerpräsident das Numerus-Clausus-Gesetz, welches den Zugang von Juden zu höherer Bildung drastisch beschränkte.
Ab 1939 war Teleki erneut Ministerpräsident bis zu seinem Selbstmord vor dem Naziangriff auf Jugoslawien. 1939 verkündete er das Zweite Gesetz gegen Juden, welches diese als »Bürger zweiter Klasse« einordnete und bereitete das rassistische Dritte Gesetz vor. Verglichem mit diesem erscheinen seine kriminellen Aktivitäten fast bedeutungslos: Er hatte an einem Raubüberfall auf die Ungarische Botschaft in Wien als Mitglied einer antikommunistischen Gruppe teilgenommen und wurde verdächtigt, 1925 an der Herstellung gefälschter französischer Francs beteiligt gewesen zu sein.
Vor kurzem organisierte die Miklós-Horthy-Gesellschaft eine ökomenische Gedenkmesse in Budapests katholischer Basilika für Horthy, der vor 47 Jahren starb und unter dessen Führung alles in seiner Macht stehende getan wurde, um Juden zu separieren und diese zu deportieren, oft in vorauseilendem Gehorsam zu deutschen Aufforderungen.
Warum diese reaktionäre Ansammlung ruritanische Uniformen anzieht und Horthy verehrt, ist kein Geheimnis. Diese rechtsgerichtete Opposition bezeichnet sich selbst als repräsentativ für die christliche Mittelklasse und so ist es nicht verwunderlich, dass sie sich Pál Teleki und den Calvinisten Miklós Horthy, der Ungarn ins Verderben führte, als Vorbilder aussuchen.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa suchten und fanden andere ehemals kommunistische Länder ihre »vorkommunistischen Wurzeln« im antifaschistischen Erbe der Zeit des zweiten Weltkrieges. Ungarn war hierzu nicht in der Lage, da es nie eine ehrliche antifaschistische Bewegung hatte. Stattdessen betrachten sie die Sympathie für den Kommunismus als Makel.
Mitglieder der ungarischen Rechten, die behaupten, für die christliche Mittelklasse zu sprechen, beziehen sich daher zurück auf das einzige andere politische Erbe, das sie kennen: Die ideologischen und politischen Grundlagen der Zeit zwischen den Weltkriegen, den Faschismus und den Antisemitismus.
y Searchlight
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- 1Irredentismus: panitalienische Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts., die alle Gebiete mit italienischsprachiger Bevölkerung, auch in Österreich-Ungarn, an Italien anschliessen wollte