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(Drohende) Haftstrafen für linke Aktivist*innen

A. Sommerfeld (Bundesvorstand der Roten Hilfe e.V.) (Gastbeitrag)
Einleitung

Die Zahl der politischen Gefangenen in der Bundesrepublik steigt kontinuierlich an, und es scheint immer mehr zur Normalität zu werden, dass linke Aktivist*innen hinter Gittern landen. Trafen Inhaftierungen in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich Mitglieder von migrantischen, in erster Linie kurdischen und türkischen Organisationen und Parteien, sind nun auch wieder andere linke Bewegungen im Visier – insbesondere Antifastrukturen. Damit einher geht auch die Notwendigkeit, sich wieder verstärkt mit der Möglichkeit von Knaststrafen im eigenen Umfeld auseinanderzusetzen – zur eigenen Vorbereitung, aber auch in praktischer Solidarität mit den Betroffenen.

Foto: PM Cheung

Tatsächlich setzen die staatlichen Repressionsorgane derzeit wieder vermehrt auf Verhaftungen und Gefängnisstrafen in der Hoffnung, linke Bewegungen einzuschüchtern. Am 19. Juli 2021 hatte der Stuttgarter Findus, der wegen seines jahrelangen Engagements gegen rechte Umtriebe und wegen seiner Beteiligung an antifaschistischen Demonstrationen zu zweieinhalb Jahren verurteilt worden war, seinen Haftantritt. Die Solidaritäts-Kampagne „Antifa heißt zusammenstehen“, die zusammen mit der "Roten Hilfe Stuttgart" bereits den Prozess begleitet hat, unterstützt den Genossen nun im Gefängnis.

Am 15. September 2021 musste der Nürnberger Aktivist Jan ins Gefängnis. Mit der Ablehnung der Revision wurde im August 2021 das skandalöse „Jamnitzer Platz“-Urteil von Februar 2021 rechtskräftig: Obwohl Jan am besagten Tag gar nicht vor Ort war, hatte ihn das Landgericht Nürnberg wegen Beteiligung an spontanen Protesten gegen Gentrifizierung und Repression zu vierzehn Monaten Gefängnis verurteilt – wegen Anschreiens der Polizei. Sowohl rund um den Prozess als auch zum Haftantritt gab es verschiedene Solidaritäts-Aktionen und Kundgebungen.

Zusätzlich sind mit den beiden Antifaschist*innen Dy und Lina sowie der Klima-Aktivistin Ella drei bekannte Genoss*innen bereits seit November 2020 – also seit vielen Monaten – in Haft. Dem Stuttgarter Dy wird vorgeworfen, an einer körperlichen Auseinandersetzung mit Mitgliedern der rechten Schein-Gewerkschaft „Zentrum Automobil“ am 16. Mai 2020 beteiligt gewesen zu sein, weshalb er gemeinsam mit seinem Genossen Jo im aktuell laufenden „Wasen-Prozess“ angeklagt ist. Jo war bereits im Rahmen einer Großrazzia gegen Antifaschist*innen in Baden-Württemberg am 2. Juli 2020 verhaftet worden und erst nach mehr als einem halben Jahr aus dem Untersuchungsgefängnis freigekommen. Ohnehin hatte der Repressionsapparat den Vorfall im Mai 2020 zum Anlass genommen, um mit der „Ermittlungsgruppe Arena“ die antifaschistischen Strukturen im Südwesten, vor allem aber in Stuttgart mit einer massiven Repressionswelle zu überziehen. Gegen diesen staatlichen Frontalangriff  hat sich die Solidaritätskampagne „Antifaschismus bleibt notwendig“ gegründet, die zusammen mit der "Roten Hilfe Stuttgart" die Betroffenen unterstützt und den Prozess begleitet.1

Am 8. September 2021 begann vor dem Oberlandesgericht Dresden der Prozess gegen die Leipzigerin Lina und drei Genossen, gegen die (zusammen mit vielen anderen Aktivist*innen in Sachsen und Thüringen) nach Paragraph 129 („kriminelle Vereinigung“) ermittelt wird. Mit diesem Gummiparagraphen, der einmal mehr zur flächendeckenden Kriminalisierung und Durchleuchtung antifaschistischer Strukturen aufgefahren wird, will der Staat das entschiedene Eintreten gegen Neonazistrukturen unterbinden und schreckt dabei auch nicht vor langer Untersuchungshaft zurück.

Nachdem das Landeskriminalamt Sachsen in den vergangenen zehn Jahren mehrfach eine Schlappe erlitten hat, indem es mit der „Allzweckwaffe“ Paragraph 129 zwar unendliche Datenberge und Repressionsmaßnahmen, aber keinerlei Verurteilungen verbuchen konnte, versuchen die Behörden nun, an Lina ein perfekt vorbereitetes Exempel zu statuieren. Dabei kennt die „Soko Linx“ keine Grenzen: Von einer grotesken Medieninszenierung einschließlich eines spektakulären Hubschrauberflugs nach der Verhaftung über die illegale Weitergabe von Ermittlungsergebnissen an die Presse bis hin zum Informationsaustausch mit Neonazis werden alle Register gezogen. Dass die neue Konstruktion einer „Vereinigung an der Schwelle zum Terrorismus“ gezimmert wurde, um der Bundesanwaltschaft die Federführung übertragen zu können, passt in dieses Muster.

Schon vor dem Prozessauftakt war somit klar, dass ein lehrbuchhaftes Beispiel der politischen Justiz zu erwarten ist. Mit dem „Solidaritätsbündnis Antifa Ost“ hat sich eine breite Kampagne rund um diese Paragraphen 129-Verfahren gebildet, die in Zusammenarbeit mit den lokalen "Rote-Hilfe"-Gruppen mit zahlreichen Kundgebungen, einer bundesweiten Demonstration am 18. September 2021 in Leipzig, und intensiver Öffentlichkeitsarbeit den Betroffenen zeigt, dass sie nicht allein sind. Eine weitere bundesweite Demonstration, die sich unter anderem gegen die Kriminalisierung linker Strukturen richtet, soll unter dem Motto „Alle zusammen – autonom, widerständig, unversöhnlich!“ am 23. Oktober 2021 in Leipzig stattinden.

Doch auch andere linke Bewegungen sind von vermehrten Gefängnisdrohungen betroffen, unter anderem die Klimakämpfe. In einem besonders grotesken Prozess wurde die Klimaaktivistin Ella verurteilt, die ab November 2020 wegen der Proteste gegen die Baumrodungen im Dannenröder Wald in Untersuchungshaft war. Laut der staatlichen Vorwürfe soll sie sich bei einer lebensbedrohlichen Räumungssituation durch Beinbewegungen dagegen gewehrt haben, von Polizeibeamt*innen aus 15 Metern Höhe ungesichert in die Tiefe gerissen zu werden, und wurde deshalb am 23. Juni 2021 zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt, so dass sie weiterhin in Haft ist. Nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom September 2021 wurde der Abriss der Baumhäuser im Hambacher Forst inzwischen für rechtswidrig erklärt. Im Zuge der Räumung im Herbst 2018 verunglückte ein Journalist tödlich und zahlreiche Aktivist*innen wurden bei Abstürzen durch Polizeieinwirkung verletzt oder saßen wegen angeblicher Widerstandshandlungen gegen die Staatsgewalt in Untersuchungshaft, teils über mehrere Monate.

Auch gegen die kurdische Bewegung ging der Staat in den letzten Monaten wieder mit Freiheitsentziehungen vor: Am 7. Mai 2021 wurden die beiden kurdischen Politiker Mirza und Abdullah in Nürnberg und Heilbronn verhaftet, am 11. Mai 2021 wurde als dritter Mazlum in Esslingen in Untersuchungshaft genommen. Alle drei werden nach dem Gummiparagraphen 129b als angebliche Mitglieder der als „terroristisch“ diffamierten kurdischen Arbeiter*innenpartei PKK verfolgt – ein Kotau der Bundesrepublik vor dem diktatorischen Erdoğan-Regime. Wie in diesen Verfahren üblich werden den drei Betroffenen keine individuellen Straftaten vorgeworfen, sondern lediglich legale politische Arbeit wie die Organisierung von Veranstaltungen. Mit diesen Verhaftungen erhöhte sich die Zahl der politisch engagierten Kurden, die in der BRD mit dem Vorwurf der PKK-Mitgliedschaft nach Paragraph 129b im Gefängnis festgehalten werden, auf zehn.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass immer häufiger Aktivist*innen über viele Monate in Untersuchungshaft genommen werden und die Gerichte bereits bei geringen Anlässen, die den Missmut der Repressionsorgane erregen, extrem hohe Gefängnisstrafen verhängen. Auf diese Entwicklung müssen antifaschistische Strukturen, die ganz besonders im Fadenkreuz der Behörden stehen, reagieren und einen Umgang damit entwickeln. Vor allem muss das Bewusstsein gestärkt werden, dass politische Gefangene nicht Aktivist*innen aus anderen Bewegungen oder in weit entfernten Staaten sind, mit denen wir eine abstrakt wirkende Solidarität bekunden, sondern dass morgen durchaus unsere engsten Genoss*innen oder wir selbst dazugehören können.

Selbstverständlich ist es unerlässlich, den Repressionsbehörden kein Einfallstor zu bieten und die politische Praxis entsprechend zu planen. Zusätzlich muss aber das Drohgebilde Knast entmystifiziert werden – durch inhaltliche Auseinandersetzung mit der Haftrealität, durch (zumindest teilweise) ermutigenden Austausch mit hafterfahrenen Aktivist*innen, durch gemeinsame Diskussionen in den Strukturen.

Gleichzeitig muss auch die ganz praktische und aktive Unterstützung für die Betroffenen verstärkt werden, wie es gerade schon in vielen Städten passiert, in denen Antifaschist*innen in Haft oder vor Gericht sind. All diese regionalen Solidaritätsstrukturen versucht die "Rote Hilfe e.V." in der Kampagne „Wir sind alle Antifa – wir sind alle LinX“ zu verbinden, die einen Überblick über Repression gegen antifa- schistische Strukturen geben und die Vernetzung stärken soll.

  • 1Nachtrag: Der Antifaschist Dy saß seit dem 4. November 2020 in Stuttgart-Stammheim in Untersuchungshaft. Anfang Februar 2021 wurde Dy in die JVA Tübingen verlegt. Der Antifaschist Jo saß zwischen Juli 2020 und Januar 2021 insgesamt sechs Monate in der JVA Stuttgart-Stammheim in U-Haft. Sein Haftbefehl wurde im Rahmen einer Haftprüfung zwischenzeitlich aufgehoben. Am 13. Oktober 2021 endete nach 21. Verhandlungstagen der Prozess gegen die beiden mit einer Verurteilung. 5 Jahre und 6 Monate, sowie 4 Jahre und 6 Monate – das ist das Ergebnis des sechsmonatigen Prozesses gegen die Antifaschisten Jo und Dy.