Resilienz im Angesicht der Nekrophilie
Thomas Meyer-Falk (Gastbeitrag)In unserem „Call for Paper“ zu „Rechte Machtübernahme: Was tun?“ zitierten wir „The Clash“ mit der Frage „When they kick at your front door. How you gonna come“? Auch wenn klar ist, dass es den einen Masterplan für die Anleitung zum Widerstand nicht geben wird, sich konkret mit den eigenen Optionen und den Erfahrungen anderer in ähnlichen Situationen auseinanderzusetzen, wenn die politischen Verhältnisse sich drehen, ist ratsam. Thomas – als ehemaliger politischer Langzeitgefangener– antwortet auf die Frage: Wie kann man einer feindlichen Politik, Verwaltung und Justiz trotzen und wenn ja, wie lange?
Thomas lebte fast drei Jahrzehnte hinter Gittern, sieben Jahre im Normalvollzug, zehn Jahre isoliert, zehn Jahre verwahrt. (breakdownthewalls.site36.net)
Die Leidenschaft, das was lebendig ist, in etwas Unlebendiges umzuverwandeln, zu zerstören um der Zerstörung willen. Die Leidenschaft, lebendige Zusammenhänge zu zerstückeln. Es sind diese Phänomenbereiche, die Erich Fromm1 als Nekrophilie2 im charakterologischen Sinne bezeichnete.
Menschen, die andere auf eine bürokratische Weise behandeln, als ob es sich um tote Gegenstände handelt. Sie werden beherrscht von der Angst vor schnellen gesellschaftlichen Veränderungen. „Die Zerstörung“, sagt Fromm „ist die Kreativität des Hoffnungslosen (...) sie ist die Rache, die das ungelebte Leben an sich selbst nimmt“.3 Wohingegen der biophile4 Mensch lieber aufbaut, mehr „sein“ möchte, als zu „haben“. Die Fähigkeit besitzt sich zu wundern, lieber etwas Neues erlebt, als Altes bestätigt zu finden. Das Abenteuer zu leben ist einem solchen Menschen lieber, als Sicherheit. Diesen Menschen geht es darum, Wachstum zu fördern, gleichwie ob es sich um einen (anderen) Menschen, eine Pflanze, eine Idee oder eine soziale Gruppe handelt.
Ich selbst habe viele Jahre meines Lebens5 an und in paradigmatisch „nekrophilen Orten“ gelebt, denn so wie es die Charakterologie im Sinne von Fromm gibt, können wir auch Orte entsprechend bezeichnen. Schon immer waren Gefängnisse solche Räume und die dort Lebenden waren und sind unmittelbar Menschen ausgesetzt, ja ausgeliefert, die über eine ausgeprägt nekrophile Charakterstruktur verfügen. Andere Menschen könnten dort auch kaum arbeiten. Jeden Tag, jede Nacht nackt und verletzlich wie an einem Abgrund stehend: den Boden unter sich wankend fühlend, schwindelig werdend im Angesicht der Tiefe und Dunkelheit, direkt vor mir, nur einen winzigen Schritt entfernt. Selbst springend, oder hinterrücks gestoßen werdend? Dies über Jahre, am Ende über rund 27 Jahre zu (er-)leben, beschädigt.
Dabei besteht die Wahrheit und Furchtbarkeit der Angst gerade darin, dass man nicht vor etwas Fremden zurückschaudert, das man vermeiden, vor dem man fliehen könnte, sondern letztlich immer und unausweichlich vor sich selbst.
"With your hands on your head or the trigger of your gun?"
Darüber eigene Klarheit zu gewinnen, für sich selbst, aber auch in der (politischen) Gruppe, erscheint mir zunehmend wichtiger. Die Wahl, ob wir die Hände über den Kopf erheben, oder den Finger an den Abzug legen, ob wir uns auf dem Gehsteig anschießen lassen oder in der Todeszelle warten6, wenn sie uns die Türe eintreten, treffen wir immer auch vor diesem Hintergrund der Angst. In der Angst geht es weniger um ein wovor, als um das worum: Worum ängstigen wir uns?! Die Furcht ist es, die auf ein „wovor“ gerichtet ist. Ob es nun die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen sind, in Bundesländern mit hohen Wahlerfolgen für rechte und extrem rechte Parteien, das Zusammenleben mit Menschen, die entsprechende Weltanschauungen vor sich hertragen, oder aber ein Leben in einem Gefängnis: Eine Gemeinsamkeit scheint mir der nekrophile Wesenszug der betreffenden Personen zu sein. In einer solchen, durchaus feindselig zu nennenden Umgebung zu überleben, sich weder korrumpieren zu lassen, noch zu zerbrechen, scheint mir eine Frage der Resilienz zu sein.
Nicht Glück noch Zufall sind entscheidend, sondern selbst in eine aktiv handelnde Rolle zu gelangen. Dabei umfassen die Handlungsmöglichkeiten mehr als das sich Ergeben, der Finger am Abzug der Pistole oder das passive Zuwarten auf den Tod. Neben der Angst sowie der Furcht, ist noch die Hoffnung zu nennen, denn sie es, die uns über den Abgrund trägt.
Furcht und Hoffnung haben gemeinsam, in der Ungewissheit über die Zukunft zu wurzeln und eben auf die Zukunft gerichtet zu sein. Während die Furcht das Misslingen im Blick hat, schaut die Hoffnung auf das Gelingen. Im (Alt-)Griechischen kommt in dem Wort ἐλπίς (elpis) zu tragen, wie eng Furcht und Hoffnung zusammenhängen, denn je nach Kontext wird ἐλπίς mit Furcht oder aber mit Hoffnung übersetzt.
Meine Haftzeit habe ich überstanden durch intensiven Austausch mit anderen Menschen, meist per Brief, und trotz der inhaltlichen Überwachung der Briefe durch die staatlichen Repressionsorgane, ergaben sich fruchtbringende Diskussionen und es entstanden Beziehungen die Jahre hielten, mitunter Jahrzehnte und dann auch noch nach der Haftentlassung weitergeführt werden.
Die ersten Jahre in Haft waren in meinem Fall geprägt vom Finger am verbalen „Abzug“: und dafür gab es dann auch noch ordentliche Zusatzstrafen, am Ende summierten sich allein diese auf fünf Jahre und drei Monate (wegen des Vorwurfs diverser Beleidigungen und Bedrohungen). Aber stillschweigend die Hände zu heben und passiv auf das Morgen zu warten, das konnte ich mir nicht vorstellen. Trotz Kritik an diesem Vorgehen, denn ich nahm die weiteren Gerichtsprozesse sehenden Auges in Kauf, fühlte ich mich solidarisch eingebunden.
Dieses Eingewobensein in soziale und solidarische Beziehungen ist ein weiterer wichtiger Faktor, unabhängig davon, in welchem sozialen Raum wir uns befinden: auf dem Dorf, in der Stadt oder in einem Gefängnis. Menschen vor Ort sind besonders wichtig, aber selbst ein Eingebundensein, das auf vertraute Menschen aufbaut, die räumlich entfernt sind, ist schon hilfreich, trägt uns mit über den Abgrund.
Nun treten sie uns die Türen ein - egal ob uniformierte Cops, Gefängnisschließer oder die Neonazis von der Straße. Was hilft da der Gedanke der Nekrophilie, oder der von der „Resilienz“? Abseits von der konkreten Notwehr in einer akuten Notsituation geht es meines Erachtens mittel- und insbesondere langfristig sehr wohl um solche Begriffe, bzw. ein entsprechendes Verständnis der eigenen Situation und der uns umschließenden (sozialen) Umwelt.
Politische Phänomene neu zu durchdenken, im Anschluss vielleicht neue Wege zu entwickeln, dabei selbst Stand zu halten und nicht zu zerbrechen.
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Erich Fromm war ein deutsch-US-amerikanischer Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe. Bereits seit Ende der 1920er Jahre vertrat er einen humanistischen, demokratischen Sozialismus. Seine Beiträge zur Psychoanalyse, zur Religionspsychologie und zur Gesellschaftskritik haben ihn als einflussreichen Denker des 20. Jahrhunderts etabliert.
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Ein Begriff der Charakterorientierung in der analytischen Sozialpsychologie von Erich Fromm.
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„Anatomie der menschlichen Destruktivität“. Vgl. „Rache des ungelebten Lebens“, DER SPIEGEL 9/1975.
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Der Begriff steht bei Fromm terminologisch für „Liebe zum Leben“ oder „Liebe zu Lebendigem“.
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Vgl. Thomas Meyer-Falk nach Jahren aus Sicherungsverwahrung entlassen, Matthias Monroy, 1. September 2023, nd-aktuell.de
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„Guns of Brixton“ von The Clash (1979, London Calling). Vgl. lyrics.com/lyric/28440747/The+Clash/Guns+of+Brixton