Wegsperren oder Sozialisieren?
Dr. Mario Cebulla (Gastbeitrag)Man hat nicht zwingend unrecht, wenn alle anderen anderer Meinung sind. Doch sollte man seine Argumente dann wohl erwägen. Die Regierungskoalition und die Mehrheit der Bundesländer haben dies bei der Frage, ob nach der Föderalismusreform auch das Strafvollzugsrecht aus der Zuständigkeit des Bundes genommen werden sollte, nicht getan.
Künftig werden die Länder jeweils eigene Erwachsenen- und Jugendstrafvollzugsgesetze erlassen. Die einzige Begründung dafür war eine mechanische: Einmal geschnürte Pakete könne man nicht wieder lösen. Das aber ist weder zutreffend noch ist es ein Argument.
Und dabei hatten alle, restlos alle von dem Vorhaben abgeraten: ehemalige Justizministerinnen und Justizminister ebenso wie die Verbände der Vollzugsbediensteten, alle namhaften Professorinnen und Professoren für Strafrecht und Kriminologie, Gewerkschaften, freie Initiativen und Kirchen, die Anwaltsverbände, die Neue Richtervereinigung und der Deutsche Richterbund. Von allen und allem unbeeindruckt änderten die politischen Paketpacker das Grundgesetz und mit ihm letztlich die seit Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes (StVG) am 1. Januar 1977 in der Bundesrepublik geltende Rechtslage. Und jetzt?
Jetzt ist zunächst ein »Wettlauf der Schäbigkeit« zu befürchten, warnt Frieder Dünkel, Professor an der Greifswalder Universität und einer der führenden Kriminologen in Deutschland. Die Länder werden die neuen Handlungsspielräume für weitere Einsparungen im Strafvollzug nutzen. Sparmaßnahmen jedoch, die über die bereits begonnenen Rationalisierungen im Verwaltungsbereich hinausgehen, sind ohne Qualitätseinbußen nicht zu haben. Auch denkt man derzeit in Thüringen und Nordrhein-Westfalen darüber nach, dem Beispiel Hessens zu folgen, das Teilbereiche der Justizvollzugsanstalt Hünfeld privatisiert hat und auf diesem Wege dort eine Kostensenkung von bis zu 15 Prozent erwartet. Kurzfristig jedenfalls. Denn ob unzureichend ausgebildete private Wachdienste einen Beitrag zur Resozialisierung der Häftlinge beitragen können, wie es bislang durch die hoch qualifizierten Vollzugsbeamten geschieht, ist mehr als fraglich.
Zudem geht mit jeder Auslagerung Gestaltungsspielraum verloren: Wer etwa Gefängnisküchen privat betreiben lässt, verliert zugleich dringend benötigte Ausbildungsplätze für junge Gefangene. Kurzfristige Einsparungen verschließen nur allzu oft den Blick auf die langfristigen Folgen und Folgekosten: Nur soweit eine erfolgreiche Resozialisierung stattfindet, führt der Vollzug zur Vermeidung von Folgekosten, mit denen Rückfalltäter die Gesellschaft belasten. Von den sonstigen Folgen der Rückfallkriminalität ganz zu schweigen. Frieder Dünkel meint deshalb, dass sich die Privatisierungsidee im Strafvollzug in Deutschland auf Dauer nicht durchsetzen wird. Hoffentlich nicht nur ein frommer Wunsch.
Kostenreduzierung bis zur Grenze der Verfassungswidrigkeit oder darüber hinaus
Denn weitere Einsparungen, soviel ist sicher, wird es im Strafvollzug geben. Vielleicht noch flankiert von Einsparungen bei der Beamtenbesoldung - auch diese liegt neuerdings im Verantwortungsbereich der Länder. Nicht von ungefähr wurde in den letzten Wochen u.a. der Einsatz der sogenannten elektronischen Fußfessel allein unter Kostengesichtspunkten diskutiert. Empirische Untersuchungen zur Anwendung dieser Vollzugsform kamen ebensowenig zur Sprache wie Bedenken etwa zum Datenschutz, die ihr gegenüber durchaus bestehen. Gerade vor dem Hintergrund notorisch leerer Kassen werden die Länder versuchen, ihre Justizhaushalte, die sich ansonsten durch Einnahmen im wesentlichen selbst tragen, weitestgehend von Vollzugskosten zu befreien. Dann werden auch Hemmungen fallen, Kostenreduzierungen bis zur Grenze der Verfassungswidrigkeit oder gar darüber hinaus zu versuchen.
Dass ein menschenwürdiger Strafvollzug grundsätzlich eine nächtliche Einzelunterbringung der Häftlinge erfordert, steht bereits zur Debatte. Kaum, dass die Föderalismusreform beschlossen war, machte der Justizsenator aus Hamburg den Vorstoß, die Mehrfachbelegung gesetzlich als Regelfall verankern zu wollen. Und das ist nur der Anfang. Dass der Stammtisch und seine Medien auch besonnene Justizpolitiker bedrängen können, fürchtet auch Friedhelm Sanker vom Bund der Strafvollzugsbediensteten in NRW: Nichts sei im Strafvollzug so schlimm wie das Ohr am Stammtisch. Voraussichtlich werden künftig die Grenzen der Einspar-Begehrlichkeiten in jedem Einzelfalle von den Verfassungsgerichten gezogen werden müssen. Das Ansehen der Justiz wird dadurch nicht gewinnen.
Bereits begonnen hat der beinahe schon ideologische Kampf um die Vollzugsphilosophie. Bayern und Baden-Württemberg haben als erste Länder Gesetzesentwürfe zum Ersatz für das noch bundesweit geltende StVG vorgelegt. »Um konzeptionelle Pflöcke einzuschlagen«, wie Frieder Dünkel mutmaßt. Und richtig: Die Zielsetzung des Strafvollzugs wird in den beiden Entwürfen nachhaltig verändert. Gab es im bisherigen StVG nur ein Vollzugsziel, nämlich die Resozialisierung des Straftäters, soll nun gleichberechtigt die Sicherheit daneben treten. Das verblüfft vielleicht auf den ersten Blick: Meint man doch, der Strafvollzug diene stets der Sicherheit der Bevölkerung; was sollte an den Entwürfen der Südländer also neu sein? Tatsächlich ist es jedoch ein erheblicher Paradigmenwechsel. Wo vorher im Zweifel zugunsten der Resozialisierung durchaus auch ein – ohnehin niemals auszuschließendes – Risiko eingegangen werden musste, wenn etwa über die Frage eines offenen Vollzugs zu entscheiden war, wird fortan der Resozialisierungsgedanke im Zweifel zurückstehen. Das hat auch auf sämtliche weiteren grundsätzlichen Fragen des Strafvollzugs Auswirkungen. Seine bisherige Ausrichtung auf eine nachhaltige Resozialisierung wird entfallen. Allein: Sie beförderte qualifizierte und – weltweit anerkannte und nachgeahmte – Vollzugskonzepte.
Im Strafvollzug soll Sozialtherapie erfolgen, braucht es Aus- und Fortbildung ebenso wie – spätestens gegen Ende der Strafzeit – Vollzugslockerungen zum Einüben von Normalität. Es gehört zum empirisch gesicherten Wissen, dass solcherart gestalteter Strafvollzug die Rückfallgefahr erheblich verringert, also erfolgreich Sicherheit schafft. Dies gilt sogar für sogenannte Karrieretäter, also für vielfach und schwer Vorbestrafte. Bezogen auf die Rückfallwahrscheinlichkeit ohne Behandlung vermag eine sozialtherapeutische Behandlung im Strafvollzug auch bei diesen das Rückfallrisiko um mehr als 50 Prozent zu senken, wie kriminologische Untersuchungen in den 1990er Jahren nachgewiesen haben. Ein Verwahrvollzug hingegen, wie er bei einer zunehmend einseitig auf Sicherheit ausgerichteten Vollzugskonzeption stattfinden wird, täuscht Sicherheit nur vor.
Fehlerhafte Politik ist das eigentliche Sicherheitsrisiko
Die Auswirkungen der unterschiedlichen Vollzugskonzepte lassen sich bereits beobachten: Tatsächlich ist es ein Unterschied, ob ein Häftling in Bayern oder in NRW einsitzt. Während sich 2004 im Süden gerade einmal 7,8 Prozent der erwachsenen Strafgefangenen im offenen Vollzug befanden, waren dies im Norden 31 Prozent. Also mehr als dreimal so viele und zwar ohne negative Konsequenzen. Straftaten oder Fluchtversuche während der Vollzugslockerungen stellten die Ausnahme dar. Vergleichbares gilt für sonstige Vollzugslockerungen wie Beurlaubungen, Aus- und Freigänge. Und dennoch haben Hessen und Hamburg unter der konservativen Regierungspolitik der ehemaligen Justizminister Wagner und Kusch von dem ehemals liberalen Vollzugskonzept Abschied genommen und bereits 2004 die Vollzugslockerungen um mehr als die Hälfte gekürzt. In Hamburg soll dies auch unter dem neuen Justizsenator Lüdemann und zudem auf landesgesetzlicher Grundlage fortgesetzt werden: Der geschlossene Vollzug soll – anders als im bisherigen Strafvollzugsgesetz – der Regelfall werden, Hafturlaub die Ausnahme sein und an den Gesundheitskosten sollen sich die Häftlinge künftig selbst beteiligen. Letzteres unabhängig davon, dass Gefangene in der Regel nur selten über ausreichend Geldmittel verfügen. Diese Politik, meint Frieder Dünkel, die angesichts mangelnder Entlassungsvorbereitung mit großer Wahrscheinlichkeit zu höheren Rückfallquoten führen wird, sei das eigentliche Sicherheitsrisiko.
Auf die Verfassungswidrigkeit einer nicht mehr bundeseinheitlichen Gesetzeslage im Strafvollzug hat der in Leipzig lehrende Strafrechtsprofessor Manfred Seebode hingewiesen. Bereits jetzt gibt es Rechtsanwälte, die Häftlinge erfolgreich beim sogenannten Vollzugs-Hopping beraten. Es ist nicht allzu kompliziert, sich zum Vollzug ein bestimmtes Bundesland auszusuchen. Und naheliegenderweise wählt man jenes mit dem liberalsten Strafvollzug. Was die Betroffenen schon praktizieren, kommt dank Manfred Seebode nun auch in der Wissenschaft an: Zwar gibt es in Deutschland ein für jedermann geltendes Strafgesetzbuch, aber keinesfalls für jedermann gleich belastende Strafen.
Das von den Befürwortern der Reform geprägte Unwort vom »Föderalismuswettbewerb« bekommt dadurch einen ganz anderen Inhalt. Und dieser verstößt gegen das verfassungsrechtliche Gebot, dass Strafen gesetzlich bestimmt sein müssen: Weder der urteilende Richter noch der Verurteilte bestimmen über die Strafvollstreckung, beide wissen nicht sicher, in welchem Bundesland die Verbüßung erfolgen wird, welches Vollzugsgesetz mit welchen Vollzugslockerungen oder Strafzeitreduzierungen zur Anwendung kommen wird. Eine bestimmte Strafe ist bei 16 Vollzugsgesetzen und der Möglichkeit des Länderwechsels kaum denkbar. Andersherum verlangt das Strafgesetzbuch vom Richter bei der Bestimmung der Strafe, dass dieser die Auswirkungen der Strafverbüßung auf den Straftäter berücksichtige. Auch das dürfte ohne eine einheitliche Vollzugsordnung und bei einem weiteren Auseinanderdriften der Vollzugspraxis in den Bundesländern unmöglich sein.
Die Praxis weiß längst, wie erheblich die qualitativen Abweichungen bei 16 Landesgesetzen sein können: Beim Maßregelvollzug, also etwa bei der Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern und Entziehungsanstalten, lässt sich dies unschwer seit langem studieren. Denn der Maßregelvollzug lag stets im Verantwortungsbereich der Länder. Um eine weitere Zerfaserung der Rechtslage in Deutschland zu vermeiden und eine möglichst hohe Qualität beizubehalten, haben Berlin und Thüringen Anfang August 2006 vereinbart, gemeinsam mit zehn Bundesländern zumindest Jugendstrafvollzugsgesetze so weit wie möglich anzugleichen. Die SPD-geführten Justizministerien haben dazu am 22. August 2006 in Berlin beschlossen, bereits Mitte 2007 einen Entwurf vorzulegen. Gelänge dies, läge darin zumindest vom Terminplan her ein gutes Omen. Das Bundesverfassungsgericht hat vom Gesetzgeber nämlich im Mai 2006 gefordert, spätestens zum Ende 2007 den Jugendstrafvollzug gesetzlich zu regeln. Zu begrüßen ist auch, dass sich die Länderinitiative auf den Jugendstrafvollzug beschränken will: Erklärtermaßen, um dem dort tragenden Erziehungsgedanken genügend Aufmerksamkeit zu widmen. Und zumindest im Falle von Berlin, um zunächst die Rechtslage beim Erwachsenenstrafvollzug und damit die derzeit hohe Qualität unangetastet zu lassen. So wichtig aber die parteiübergreifende Initiative auch ist: Sie wird die aufgezeigten Gefahren nicht vermeiden können, wenn es nicht gelingt, die vollzugsideologischen Gräben zu überbrücken.
Nachdem bereits manche ohne Scham von einem »Feindstrafrecht« sprechen, sollten wir nicht auch im Strafvollzug mühsam erreichte Qualitätsstandards zugunsten vermeintlicher Einsparungen und zu populistischen oder ideologischen Zwecken aufgeben. Auch daran, wie eine Gesellschaft mit ihren schwarzen Schafen umgeht, zeigt sich der Grad ihrer Zivilisation.
Dr. Mario Cebulla ist Richter am Landgericht und Bundesvorstandsmitglied der Neuen Richtervereinigung (NRV).
Der Erstabdruck dieses Artikels erfolgte in leicht gekürzter und redaktionell überarbeiteter Fassung in FREITAG 40/2006
www.freitag.de