Skip to main content

Ein neu reflektierter Faschismusbegriff

Einleitung

Politische Bewegungen, deren Ideologie und Auftreten in zentralen Punkten dem ursprünglichen italienischen ›fascismo‹ Mussolinis ähnelt, sollten Faschismus genannt werden. Es handelt sich um einen weltweiten Typ von Bewegungen, der vor circa 100 Jahren entstand und bis heute existiert. Gerade wenn sich AkteurInnen selbst in die faschistische Tradition stellen und ihr nacheifern, ist der Faschismusbegriff angemessen.

Das Idealbild des faschistischen Squadristen der 1920er Jahre.

Der Faschismus bildet nur einen Teil des weit gespannten Spektrums der politischen Rechten. Alle rechten  Strömungen, vom religiösen Fundamentalismus über den Rechtsliberalismus, Konservatismus, Rechtspopulismus bis zum Faschismus gründen sich auf – jeweils unterschiedlich ausformulierte – Ideologien menschlicher Ungleichwertigkeit. Der Sammelbegriff »extreme Rechte«, also äußerste Rechte, ist ebenso wie der früher viel gebrauchte und nahezu gleichbedeutende Begriff »ultrarechts« höchst schwammig. Wie weit außen ein Rechter steht, liegt nun mal im Auge der BetrachterIn, und wen genau die »extreme Rechte« umfasst, wird schnell beliebig. Dieser Begriff ist nicht mehr als eine Hilfskonstruktion, um besonders aggressive Strömungen der  Rechten – nichtfaschistische wie faschistische – zusammenzufassen. Aber solche Hilfskonstruktionen sind manchmal nötig und sollten erlaubt sein, wenn die genaue Bestimmung des jeweils Gemeinten trotzdem nicht unterbleibt. Anders verhält es sich mit dem »ExtremISMUS«. Dieser existiert tatsächlich nur als Kampfbegriff der herrschenden Ordnung und in den Köpfen staatsnaher WissenschaftlerInnen. Wünschenswert wäre immer, sich möglichst präzise auszudrücken. In den weitaus meisten Fällen könnten Begriffe wie »rechtsextrem« durch genauere wie »neofaschistisch« ersetzt werden.

Sich für den Faschismusbegriff zu entscheiden, darf keinen Verzicht auf genaues Hinschauen und Differenzieren bedeuten. Faschismen können sich erheblich voneinander unterscheiden. In Deutschland steht ein erheblicher Teil der FaschistInnen nach wie vor unter dem Bann des historischen Nationalsozialismus und verdient daher die Bezeichnung »Neonazis«. Aber es existieren auch nicht-nazistische Faschismen in Deutschland und in der Welt, beispielsweise verschiedene nationalrevolutionäre und nationalbolschewistische Konzeptionen. Jeder Neonazi ist ein Faschist, doch nicht jeder Faschist automatisch ein Neonazi. Auch religiöser Fundamentalismus kann in faschistischen Spielarten auftreten.
In einem Artikel dieser Serie äußerte Gregor Wiedemann die Befürchtung, dass Bezeichnungen wie »extrem rechts«, »faschistisch« oder »nazistisch« es erleichtern würden, den Faschismus gewissermaßen als »böses Anderes«, als Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft zu konstruieren. Damit wäre leichter zu verdrängen, wie tief Ideologien der Ungleichwertigkeit gerade in der viel beschworenen »Mitte der Gesellschaft« verankert sind (vgl. AIB 92: »Jenseits des Neonazismus«). 

Diese Befürchtung ist unbegründet. Zur Bezeichnung der ganz normalen, alltäglichen Ungleichwertigkeitsideologien gibt es all die altbekannten Vokabeln wie rassistisch, nationalistisch, antisemitisch, sexistisch, homophob, sozialdarwinistisch und so weiter.  Gerade aus gesellschaftskritischer, emanzipatorischer Sicht bietet der Faschismusbegriff aufgrund seiner Geschichte einen Vorteil: Der Vorwurf an den Kapitalismus, den Faschismus hervorzubringen, schwingt im Faschismusbegriff immer mit. Wer kennt nicht Max Horkheimers berühmten Ausspruch, dass vom Faschismus schweigen solle, wer vom Kapitalismus nicht reden mag?

Aber wie genau sieht der Zusammenhang zwischen Faschismus und Kapitalismus aus? Traditionelle marxistische Interpretationen sehen im Faschismus in erster Linie eine bestimmte Form der Herrschaft der Kapitalistenklasse beziehungsweise deren Herrschaftsreserve. Neuere Faschismustheorien, wie die von Zeev Sternhell, George Mosse oder Roger Griffin, haben sich auf die Analyse der faschistischen Ideologie konzentriert. Davon ausgehend sollen einige Thesen aufgestellt werden, die zeigen, was den Faschismus ausmacht und ihn von anderen rechten Strömungen unterscheidet.

Der Faschismus ist eine Reaktion auf bestimmte krisenhafte Erscheinungen und existenzielle Herausforderungen, die sich im Zeitalter des modernen Kapitalismus ergeben. Der Faschismus wollte und will eine Antwort auf Klassenspaltung, Verelendung, Entfremdung, Umweltzerstörung und allgemein die kapitalistische Krisenhaftigkeit sein. Er will die eigene Nation in der internationalen Macht- und Wirtschaftskonkurrenz möglichst stark und siegreich machen und verfolgt dabei radikale imperialistische und militaristische Konzepte. Zugleich ist er eine vehemente Abwehrbewegung gegen jegliche emanzipatorische Bestrebungen. In ihrem Versuch, eine Antwort auf die Fragen der Zeit zu geben, gehen die Faschisten wie alle Rechten von der Prämisse der Ungleichwertigkeit der Menschen aus. Ihr selbst gewählter politischer Standpunkt und ihr Ideal ist der kämpfende, kriegerische Männerbund. 

Für alle Faschismen ist dieses militaristische, patriarchale Element samt einer antifeministischen Grundhaltung ganz zentral. Alle Faschismen formulieren eine Kritik an bestimmten Strukturen und Merkmalen des Kapitalismus, die sie regelmäßig zu antisemitischen oder mit Antisemitismus strukturell verwandten Positionen bringt. Sie sind ebenso antiliberal, antiparlamentarisch und antibürgerlich wie radikale Feinde linker Emanzipationsbewegungen. Sie streben mit revolutionärer Attitüde eine ganz neue Gesellschaft, einen ganz neuen Menschen an, und beziehen sich trotzdem in starkem Maße auf Geschichte. 

Diese unvollständige Kennzeichnung enthält die wichtigsten Merkmale, in denen sich der Faschismus von anderen rechten Strömungen unterscheidet. Nur AkteurInnen und Bewegungen, deren Ideologie und Praxis diese Elemente enthalten, sollten als faschistisch bezeichnet werden. Gleichzeitig ist mit dieser kurzen Kennzeichnung zumindest angedeutet, worin die besondere Aggressivität, Dynamik und Gefährlichkeit der faschistischen Rebellion in einer krisenhaften kapitalistischen Gesellschaft voller sozialer und internationaler Konflikte liegt.