Jenseits des Neonazismus – Ideologien der Ungleichwertigkeit
Gregor WiedemannAm 22. Juli 2011 ermordete Anders Behring Breivik auf der norwegischen Ferieninsel Utoya 69 Menschen. Zuvor hatte er ein Regierungsgebäude in Oslo in die Luft gesprengt und dabei ebenfalls mehrere Menschen getötet. Seine Taten begründet Brevik in einem mehr als 1500-seitigen »Manifest« sowohl mit wüster antiislamischer Hetze, als auch mit Zitaten liberaler Freiheitsdenker. Ein radikaler Muslimhasser, der für sich in Anspruch nimmt, die Demokratie zu verteidigen? Die Expert_innen der staatlichen deutschen Sicherheitsarchitektur sind von dieser Erscheinung derart überrascht, dass einige schon übereifrig ein drittes Ende an das Hufeisen schmieden. So warnte der Präsident des Bayrischen Verfassungsschutzes Anfang August angesichts der Ereignisse in Norwegen vor einer »neuen Form des Extremismus«, der sich gegen den Islam und die Religionsfreiheit wende, dessen Grenzen insbesondere zum »Rechtsextremismus« jedoch »noch nicht scharf« seien.1
Die Äußerungen des LfV-Präsidenten sind ein leuchtendes Beispiel für Beschränktheit und Verblendung, die das Extremismus-Modell für die Analyse gesellschaftlicher Zustände zur Folge hat. Dass antimuslimische Ressentiments eines extremistischen Randes ein Problem für den gesellschaftlichen Zusammenhalt werden könnten, ist angesichts der millionenfachen Auflage von Thilo Sarrazins rassistischem Buch »Deutschland schafft sich ab« eine späte und hochgradig naive Form von Erkenntnis; das Beharren auf einer scharfen Abgrenzung zwischen »Rechtsextremismus«, der »auch andere Ziele« verfolge, und »antiislamistischem Extremismus« schlicht grotesk. Der Sozialwissenschaftler Volker Weiß weist darüber hinaus darauf hin, dass es sich bei Anders Breivik nicht um einen (Neo-)Nazi handelt1 – eine Bezeichnung, die bisweilen zum Synonym für den diskreditierten Rechtsextremismusbegriff geworden ist. Stattdessen strebe er laut eigener Aussage nach einer »Konservativen Revolution«, wie sie u.a. auch die sogenannte »Neue Rechte« in Deutschland kolportiert, setzt dabei jedoch statt auf diskursive Hegemonie auf Gewalt.
Was jedoch der norwegische Massenmörder, der sozialdemokratische Elitist oder Neonazis miteinander teilen, ist ihre Überzeugung nicht alle Menschen seien gleich viel wert. Zugeschriebene oder selbst gewählte Merkmale werden für sie zu einem legitimen Grund für Benachteiligung und Ausschluss von Menschengruppen. Das Bielefelder Institut für Konflikt- und Gewaltforschung untersucht dieses Phänomen unter der Bezeichnung »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« (GMF) im Rahmen einer Langzeitstudie, deren Ergebnisse jährlich unter dem Titel »Deutsche Zustände« veröffentlicht werden. Zur Halbzeit ihres zehnjährigen Forschungsprojekts konstatierten sie auf Basis ihrer Daten »das Vorliegen eines Syndroms, das sich auf eine generalisierte Ideologie der Ungleichwertigkeit [IdU] zurückführen lässt«.2 Dessen Elemente bilden Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Behinderten, Islamophobie, Sexismus, Etabliertenvorrechte sowie die Abwertung von Langzeitarbeitslosen.
Die Funktionen, die mit solchen Ungleichwertigkeitsvorstellungen verknüpft sind, können durchaus unterschiedlich sein. Beispielsweise ließe sich Breiviks Weltbild als Ausdrucksideologie charakterisieren – als ein geglaubtes Apriori-Wissen über die Einteilung der Welt in Gut und Böse, das nicht gerechtfertigt werden muss. Sarrazins Thesen tragen dagegen eher Züge einer Rechtfertigungsideologie, mit der Machtinteressen und soziale Hierarchien apologetisch gegen einen sozialen Wandel verteidigt werden sollen.
Das letztere jüngst soviel Zuspruch erfahren, hängt mit dem Zusammenspiel von Ungleichwertigkeit und Ungleichheit zusammen. Auf als unveränderlich geltende Merkmale wie Geschlecht oder Ethnie begründete kategoriale Klassifikationen eignen sich Wilhelm Heitmeyer zufolge besonders dazu, existierende soziale Ungleichheit in Ungleichwertigkeit zu transformieren, mit der Folge der Verzerrung, Biologisierung oder Naturalisierung sozial konstruierter Realitäten. Die in den letzten Jahren verschärfte soziale Ungleichheit ist das Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse, die mit einer verstärkten Ökonomisierung aller Lebensbereiche einhergegangen sind.3 Immer mehr Menschen verfügen dauerhaft nicht über die nötigen materiellen Ressourcen, um an der Gesellschaft teilzuhaben, was ihnen jedoch nicht mehr als Folge ökonomischer und politischer Strukturen, sondern als individuelles Versagen angelastet wird. Den GMF-Studien zufolge werden sie zunehmend anhand von Nützlichkeitskriterien bewertet.4
Insbesondere bei der Stigmatisierung von Migrant_innen und Langzeitarbeitslosen wird die Transformation sozialer Ungleichheit in Ungleichwertigkeit sichtbar. Funktional gesehen, tragen sich verfestigende (kultur-)rassistische Weltwahrnehmungen und eine »Rassifizierung des Prekariats«5 dazu bei, die andauernde Ausgrenzung der benachteiligten Gruppen zu legitimieren. Auf verschiedenen Stufen eines Eskalationsprozesses kann dies von Missachtung/Verachtung über Diskriminierung bis hin zu Unterdrückung und physischer Vernichtung der »Minderwertigen« führen. Für Heitmeyer und Co. stellen GMF und IdU daher auch keine Ersatzbegriffe für »Rechtsextremismus« dar. Letzterer wird vielmehr mit einer neuen Definition in das Theoriegebäude eingefügt: IdU + Gewaltakzeptanz.6
Wenn mensch sich also auf die Suche nach Begriffen »zur Benennung des Spektrums rechts von der CDU bis militante Neonaziszene« begibt, dann handelt es sich hierbei um einen verkürzten Ansatz. Es geht weder um den simplen Austausch von Begriffen7 , noch sollten Problembeschreibungen auf die Konstruktion eines »bösen Anderen« beschränkt bleiben. Begriffe wie Neonazismus und Neofaschismus weisen insofern Parallelen zum Rechtsextremismusbegriff auf, als dass sich die Wahrnehmung von Neonazis und Faschisten ebenso auf eine Vorstellung von Randgruppen erstreckt, von denen sich ein problemfreier »Normalbereich« klar abgrenzen ließe. Wann diese Begriffe und die dahinterliegenden Konzepte zur Problematisierung gesellschaftlicher Zustände taugen, und wann nicht, sollte deshalb wohl überlegt sein. Andernfalls besteht die Gefahr, dass diskriminierende Tendenzen jenseits vermeintlicher Ränder übersehen werden oder eine vorschnelle Stigmatisierung bestimmter Akteure bzw. ihrer Einstellungen beispielsweise als nazistisch politische Auseinandersetzung verhindert.
Der Verzicht auf einen Sammelbegriff zur Skandalisierung kann stattdessen dazu beitragen, die Debatte offen zu halten. Ideolog_innen der Ungleichwertigkeit jenseits des Neonazismus lassen sich dann je nach spezifischer Ausprägung für diskriminierende, antiindividualistische, antiuniversalistische, autoritär-dezisionistische und somit antidemokratische Einstellungen und Handlungen kritisieren. Eine Erweiterung des Fokus vom »bösen Anderen« hin zu Ideologien der Ungleichwertigkeit sollte diesbezüglich eine Problematisierung ermöglichen, auch ohne gleich die »Nazikarte« auszuspielen.
Gregor Wiedemann, Forum für kritische Rechtsextremismusforschung, Mitherausgeber des kürzlich im VS Verlag erschienenen Sammelbandes »Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismusmodells«
- 1www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,77 6735,00.html
- 2Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (2008): Deutsche Zustände. Folge 6. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 22.
- 3Vgl. Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hg.) (2007): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- 4»Erklärungskraft haben ökonomische Orientierungen insbesondere für das Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit, die Abwertung von Langzeitarbeitslosen, sowie Obdachlosen«, Küpper, Beate; Zick, Andreas (2008): Soziale Dominanz, Anerkennung und Gewalt. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 6. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 68.
- 5Wollrad, Eske (2008): White Trash – Das rassifizierte Prekariat im postkolonialen Deutschland. in: Altenhain, Claudio et al. (Hg.): Von »Neuer Unterschicht« und »Prekariat«, Bielefeld: Transcript.
- 6Klein, Anna; Küpper, Beate; Zick, Andreas (2009): Rechtspopulismus im vereinigten Deutschland als Ergebnis von Benachteiligungsgefühlen und Demokratiekritik. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 93–112.
- 7Wie auch im Aufruf des AIB »Beyond Rechtsextremismus« zu dieser Debattenreihe zu lesen war. In: AIB 89 (Winter 2010/2011), »Beyond Rechtsextremismus«