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Erinnerung an die Opfer des NSU in Nürnberg

Antifaschistische Initiative „Das Schweigen durchbrechen!“
Einleitung

Am 23. Juni 1999 explodiert in der Pilsbar „Sunshine“ in der Nürnberger Südstadt eine Rohrbombe. Der Sprengsatz steckt in einer Taschenlampe, die bei Betätigung explodiert. Der 18-jährige Mehmet O., der in der Bar putzt, wird durch die Splitter in Oberkörper, Gesicht und Armen verletzt. Am 9. September 2000 vertritt Enver Şimşek einen Kollegen an einem mobilen Blumenstand in der Liegnitzer Straße in Nürnberg. Kurz nach 15 Uhr wird er im Laderaum seines Transporters schwer angeschossen aufgefunden. Die Täter feuerten acht Mal auf ihr Opfer. Am 13. Juni 2001 wird Abdurrahim Özüdoğru, vermutlich gegen 16.30 Uhr, in seiner Änderungsschneiderei im Alter von 49 Jahren durch zwei Kopfschüsse getötet. Stunden später wird seine Leiche gefunden. Ismail Yaşar wird 9. Juni 2005 um 10:15 Uhr in seinem Imbiss in der Scharrerstraße in der Nürnberger Südstadt von einem Kunden tot aufgefunden, getötet durch zwei Kopfschüsse sowie drei Schüsse auf den Oberkörper.

Antifaschistische Kundgebung vor der ehemaligen Pilsbar Sonnenschein.

Das Unterstützungsnetzwerk des NSU und Traditionslinien bis heute

Heute wissen alle, dass der Bomben-Anschlag und die Morde vom NSU begangen wurden. Doch jahrelang konzentrierten sich auch in Nürnberg die Ermittlungen der Polizei wie auch die Presse darauf, den Opfern und Angehörigen Verstrickungen in kriminelle Strukturen anzudichten und die Taten zu bagatellisieren. Gefördert werden sollte damit das Narrativ krimineller Ausländer, die sich gegenseitig töten.

Dass der NSU so häufig in Nürnberg zuschlug, lässt vermuten, dass es lokale Unterstützung gegeben haben muss. Schon während seiner Zeit beim „Thüringer Heimatschutz“ (THS) verfügte das spätere NSU-Kerntrio über gute Kontakte nach Nürnberg. Sie besuchten die damalige Kneipe "Tiroler Höhe", die ein wichtiger Anlaufpunkt der überregionalen Neonaziszene war. Daneben ist auf der gefundenen Kontaktliste des NSU für Nürnberg der Neonazi Matthias Fischer vermerkt.

Fischer war bis zu seinem Umzug nach Brandenburg 2014 der wichtigste Kader der regionalen Szene. Durch verschiedene Mitglieder war die Organisation mit anderen militanten Neonaziorganisationen wie „Blood&Honour“ oder den „Hammerskins“ gut vernetzt. Dass Einige der dort organisierten Neonazis auch bereit waren zu töten, zeigt ein Fall aus dem April 2010: In einer Nürnberger U-Bahn greift ein Neonazi einen jugendlichen Antifaschisten an und schlägt ihn fast tot. Nur durch das Eingreifen einer Reinigungskraft und deren sofortigen Wiederbelegungsmaßnahmen überlebt der junge Mann.

Als aktuelleres Beispiel für eine rechtsterroristische Organisierung in Franken ist Susanne Gemeinhardt-Seitz aus Leinburg im Nürnberger Land zu nennen. Die extrem rechte Heilpraktikerin plante Anschläge auf Muslim:innen, Kommunalpolitiker:innen und Polizist:innen. Sie pflegte eine Freundschaft zum Ehepaar Eminger aus dem NSU-Umfeld.

Indizien für lokale UnterstützerInnen des NSU gibt es genug: Alle Tatorte lagen in Nebenstraßen und waren zum Teil nicht als (post-)migrantisch geführte Läden zu erkennen. Neben den Tatorten wurden im ausgebrannten Wohnhaus des Kerntrios weitere Ausspähprotokolle für Anschlagsziele gefunden. Das deutlichste Indiz für lokale Unterstützer_innen ist aber, dass das Bekennervideo des NSU der Lokalzeitung "Nürnberger Nachrichten" (NN) persönlich in den Briefkasten geworfen wurde, nachdem sich das Kerntrio selbst enttarnt hatte.

Festzuhalten bleibt: Der NSU verfügte über enge Kontakte in den nordbayerischen Raum.

Rassistische Ermittlungsarbeit im NSU Komplex

Über inzwischen fast zwei Jahrzehnte häufen sich bei der mittelfränkischen Polizei „Ermittlungspannen“ und Skandale rund um NSU-Komplex. Jahrelang wurden Angehörige der Opfer aufgrund ihres Migrationshintergrunds schikaniert, Straftaten unterstellt und gegen sie ermittelt.

Schon nach dem ersten Bombenanschlag auf die Pilsbar Sonnenschein konzentrierten sich die Behörden auf das Umfeld des Opfers, ein rechtsextremer Hintergrund wurde ausgeschlossen. Mehmet O. wurde Schutzgelderpressung, Versicherungsbetrug und Drogenhandel unterstellt, sein Umfeld ausgeleuchtet. Besonders brisant an diesem Fall ist, dass eigentlich bundesweit alle Polizeidienststellen dazu aufgerufen worden waren, offene Taten, die ins Schema des NSU fallen könnten, beim Bundeskriminalamt zu melden. Auch nach der Selbstenttarnung des NSU hielten es die Nürnberger Behörden weder für nötig, die Ermittlungen gegen rechtsterroristische Strukturen aktiv zu unterstützen, noch einen respektvollen Umgang mit den Angehörigen der Opfer und Überlebenden zu pflegen. Bisher gab es nicht einmal eine Entschuldigung.

Bekannt wurde außerdem die Sonderkommission mit dem Namen „Bosporus“, die in Nürnberg nach dem Mord an İsmail Yaşar ermittelte. Maßgebliche Weichen für alle bundesweiten Ermittlungen wurden jedoch bereits im Jahr 2000 nach dem Mord an Enver Şimşek gestellt. Der leitende Ermittler Albert V. zementierte nach diesem Mord das Narrativ einer „ausländischen Drogenmafia“. An diesem Narrativ wurde konsequent bei allen Ermittlungen rund um die Česká-Mordserie festgehalten, obwohl Betroffene immer wieder betonten, man möge gegen Rechts ermitteln.

In allen Mordfällen ermittelte die Polizei ergebnislos in Richtung „Organisierte Kriminalität“. Keines der Opfer hatte Verbindungen zum Drogenhandel. Dennoch wurden jahrelang Telefone von Angehörigen und Freund_innen und ihre Autos abgehört. Eine Weile wurde sogar ein eigener Döner-Imbiss in der Nürnberger Südstadt betrieben. Alles ohne Erfolg.

Dass Zeug_innen bei den Morden an Şimşek und Yaşar von zwei Fahrradfahrern am Tatort berichteten, die im Zusammenhang mit Schussgeräuschen gesehen wurden, hatte keine Auswirkungen auf die Ermittlungen. Adile Şimşek wurde schließlich unterstellt, den Mord an ihrem Mann in Auftrag gegeben zu haben, da ihr Mann sie betrogen haben soll. Dabei wurden ihr Bilder einer Frau vorgelegt, mit der ihr Mann angeblich eine weitere Familie gehabt haben soll. Dass das nicht stimmte, wussten die Ermittler_innen. Sie hatten Adile Şimşek wissentlich Bilder einer Unbekannten vorgelegt.

Nach all dem ist mehr als verständlich, dass von Rassismus Betroffene kein Vertrauen mehr darin haben, von den Sicherheitsbehörden geschützt zu werden.

Bedeutung antifaschistischen Gedenkens

Im Rahmen einer Gedenkwoche im Jahr 2013 brachten Antifaschist_innen an den drei Tatorten Gedenktafeln für die Ermordeten an, eine weitere am ehemaligen „Sonnenschein“. Seitdem finden dort in jedem Jahr Gedenkveranstaltungen statt. Am Anfang wurden diese allein von engagierten Antifaschist_innen organisiert. Inzwischen sieht auch die Stadt die Notwendigkeit, an den jeweiligen Tatorten der Opfer zu gedenken und organisiert eigene Gedenkveranstaltungen zu runden Jahrestagen. Verschiedene zivilgesellschaftliche Akteure veröffentlichten 2019 ein Papier mit Forderungen an die Stadt für ein würdiges NSU-Gedenken.

Einige Forderungen sind inzwischen umgesetzt: Der Parkplatz, auf dem Enver Şimşek ermordet wurde, heißt nun Enver-Şimşek-Platz. Zudem existiert für Abdurrahim Özüdoğru eine städtische Gedenktafel. Migrantische Organisationen und antifaschistische Gruppen kämpfen dafür, weitere Orte des Andenkens für die Betroffenen zu schaffen.

Dass das Erinnern an die Ermordeten vor allem Neonazis stört, zeigen die Schändungen der Gedenkorte in den letzten Jahren. So urinierten Neonazis an die Gedenkstehle des städtischen Mahnmals und verbreiteten ein Foto davon mit der Überschrift: „Wir pissen drauf!“ in den sozialen Medien. Alle Gedenktafeln an den Tatorten wurden in den letzten Jahren entweder entwendet oder beschädigt und mussten mindestens einmal restauriert oder ausgetauscht werden. Es bleibt wichtig an die Opfer des NSU zu erinnern. Die Tatorte sind offene Wunden der Stadtgesellschaft und erfordern eine Auseinandersetzung mit rechtem Terror.

Erkennbar wird das vor allem im Stadtteil Gleishammer. Dort liegt die Scharrerstraße, in der İsmail Yaşar ermordet wurde. Der Tatort, an dem immer wieder neue Bilder, Zeichnungen, Kacheln, Kerzen oder Blumen auftauchen, erinnert daran, dass es keinen Schlussstrich geben kann, solange die gesellschaftlichen Ursachen, die die Taten des NSU ermöglichten, nicht beseitigt sind und der Komplex nicht vollumfänglich aufgeklärt ist. Die aktuellen Verhältnisse mahnen dabei die Notwendigkeit dieser Auseinandersetzung an. Rechter Terror entsteht nicht im luftleeren Raum und ist nicht auf „verwirrte Einzeltäter“ reduzierbar. Es gilt also als Zivilgesellschaft ein würdiges Gedenken an die Opfer und Betroffenen zu organisieren und deren Wünsche, Bedürfnisse und Ängste ernstzunehmen. Dabei sollte das Gedenken nicht darauf abzielen, dass Image der Stadt aufzupolieren, sondern das Erinnern an die Opfer wachzuhalten und zu verhindern, dass sich ähnliches wiederholt.