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Fünf Jahre nach Rostock: Ein Blick zurück im Zorn

Einleitung

Aus aktuellem Anlaß (Dresden-Heidenau) und anläßlich der Jahrestage des Pogroms in Rostock Lichtenhagen dokumentieren wir diesen Text aus dem AIB Nr. 41 (4/1997)

Fünf Jahre nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen ist ein Blick zurück nötig. Der Verfasser dieser Zeilen gesteht, dass dieser Rückblick nur sehr persönlich ausfallen kann. Das Wesentliche ist bereits gesagt: Das Ausmaß dieses inszenierten Pogroms, dieses politisch gewollten Angriffs auf eine wehrlose Minderheit, ist längst beschrieben, der Skandal nicht zuletzt im AIB 20a (November/ Dezember 1992) und dem Film »The trues lies in Rostock« ausführlich dokumentiert.

Eines ließen die hektischen Wochen seinerzeit nicht zu: kritisch zu betrachten, wie die radikale Linke sich verhielt, den eigenen Anteil und das eigene Versagen völlig zu begreifen. Denn sofern man von einzelnen Ereignissen spricht, war das Pogrom sicherlich eine der bedeutendsten Niederlagen der deutschen Linken nach 1945. Unmittelbar nachdem am Sonntag, dem 23.8.1992, die ersten Übergriffe vom Vorabend bekannt geworden waren, machten sich in verschiedenen Städten Norddeutschlands und in Berlin dutzende von Leuten auf den Weg nach Rostock. Ihre Absicht war, nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres – den Angriffen in Hoyerswerda, Mannheim und anderswo – weitere Pogrome zu verhindern.

Am Nachmittag hatten sich sechzig oder mehr Personen zusammengefunden und berieten, was zu tun sei. Damit keine Missverständnisse auftauchen: Hier standen Leute, die seit Jahren mit militanten Auseinandersetzungen vertraut waren, die in anderen politischen Bereichen und z.T. für weit unwichtigere Fragen lange Gefängnisstrafen oder ihre Gesundheit riskiert hatten, und die nicht prinzipiell Gewalt ablehnten. Aus Lichtenhagen erreichten Augenzeugenberichte das Plenum. Während die Antifas zum Teil noch anreisten, hatten sich bereits wieder erste Gruppen jugendlichen Mobs zusammengefunden, waren aber noch wenig entschlossen.

Aus dem Haus, in dem die VietnamesInnen lebten, kamen Anrufe, die von neuen Angriffen berichteten. Für das jämmerlich unentschlossene Plenum stellte sich die Frage, was nun zu tun sei. Einzelne, gerade diejenigen, die schon vor Ort gewesen waren, plädierten dafür, vor das Haus zu ziehen und weitere Angriffe durch Präsenz zu verhindern, nötigenfalls auch mit Gewalt zurückzuschlagen. Es war eine realistische Einschätzung, dass zumindest die Chance bestand, hiermit die Situation grundlegend zu ändern. Es bestand tatsächlich die Möglichkeit, eine Eskalation der Übergriffe zu verhindern, was unabsehbare Folgen für die weiteren Ereignisse hätte haben können.

Damit bestand aber in diesen zwei oder drei Stunden die reale Chance, die kommende Pogromwelle bereits zu ihrem Auftakt zu unterbinden. Von der Mehrheit des Plenums wurde allerdings die Angst geäußert, dass man gegen den tobenden Mob keine Aussicht habe und die Gefahr bestehe, gelyncht zu werden. Diese Angst war sicher verständlich und wohl nicht ganz unbegründet. Doch die wenigen, die offen für ein sofortiges, direktes Eingreifen stimmten – und ich bekenne, dass ich selbst nicht zu ihnen gehörte ― erklärten, dass es Situationen gebe, in denen man dann im Zweifelsfall bereit sein müsse, die entsprechenden Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Als Weiße und als geschlossene Gruppe sei unsere Situation allemal sicherer als die der eingeschlossenen Flüchtlinge und Vertragsarbeiterinnen. Seit Jahren hatte man mit moralischen Argumenten Zivilcourage eingefordert, den schweigenden AugenzeugInnen etwa des 9. November 1938 zurecht vorgeworfen, durch ihr Zusehen mitschuldig zu sein.

Nun, selbst in eine vergleichbare Situation geraten, war die Angst um den eigenen weißen Hintern offenbar größer. Den moralischen Ansprüchen entsprach kein Bewusstsein darüber, wie man sich in der konkreten Situation selbst zu verhalten habe. Weder hatten wir uns selbst als Faktor der Geschichte ernst genommen, noch hatten wir uns ernsthaft klargemacht, dass in solchen Situationen im Zweifel auch Gefahr für unser eigenes Wohlergehen bestehen kann. Angst als dumpfes Gefühl unterscheidet sich von Furcht – einer rationalen, sachlich begründeten Risikoeinschätzung. Angst entsteht dort, wo eine Situation unvertraut ist; seit den Erfahrungen von Hoyerswerda hätten wir uns aber zumindest theoretisch mit den Notwendigkeiten und Gefahren angesichts eines Pogromes vertraut machen können. Ich schreibe dies, weil ich – mehr als in anderen Situationen – hier ein großes konkretes Versagen der Linken angesichts einer echten historischen Verantwortung sehe, das ich außerdem für ein ganz persönliches Versagen halte.

Denn obwohl ich die Forderung, sofort in Lichtenhagen einzugreifen, für das einzig Richtige hielt, hatte ich nicht den Mut, dies auch offen zu sagen. Ich bin auch nach wie vor der Überzeugung, dass wir echte Chancen hatten, den Mob zu verscheuchen. Wenn Gefahr drohte, dann sicher – wie der weitere Verlauf des Abends zeigte – durch die Polizei, die offenbar den Auftrag hatte, das Pogrom in jedem Falle stattfinden zu lassen. Übrigens nahmen Menschen mit weit weniger entwickeltem antirassistischen »Bewusstsein« als unserem, die Gefahren in Kauf. Ständig waren Deutsche im Haus, die durchaus Gelegenheiten zu individueller Flucht hätten nutzen können. Das Plenum entschied sich für eine Geste der Hilflosigkeit, für eine Demonstration im sicheren Hinterland des Pogroms. Explizit wurde erklärt, dass dieser Schritt weniger gefährlich sei... 

Reaktionen

Natürlich war es richtig, zunächst die Verantwortlichen an dem Pogrom, die durch ihre Aktivitäten und ihre Hetze Schuldigen zu benennen, und so schnell wie möglich vor Ort eine zweite und größere Demo zu organisieren. Wir vergaßen darüber, dass man auch durch Unterlassung mitschuldig werden kann. Dem Mob, vor dem wir aus Angst versagten, hat die radikale Linke denn auch nie verziehen. Die Reaktion war mehr als verblüffend. Wie kaum ein anderes Ereignis zeigte doch gerade das Pogrom von Rostock, dass der rassistische Mob für sich selbst genommen nichts ist, zur Gefahr erst dann wird, wenn seine Taten geduldet werden. Das Pogrom enstand – nachweislich! – genau an dem Tag und Ort, wo die politisch Verantwortlichen es wollten; wo eine Bürokratie, welche Menschen verwaltet wie Dinge, die Situation aus Berechnung eskalieren ließ; wo eine zynische, selbstgefällige und unverantwortliche – hier passt das hässliche Wort – Journaille die Hetze aufgegriffen und verbreitet hatte. Sobald Politik und Bürokratie ihr Ziel – die faktische Abschaffung des Asylrechtes - erreicht hatten, als die Angriffe auf andere Immigrantinnen begannen, den vermeintlichen »sozialen Frieden« zu stören, und als das Ansehen Deutschlands im Ausland litt, gelang es den drei Gruppen Politik, Bürokratie und Presse, den Mob der Pogromhelden wieder zur Ruhe zu bringen.

Der Mob ist immer eine diffuse Masse von individuellen Feiglingen, die die Gelegenheit und den Mangel an Widerstand ausnutzen. Wer dies nicht glaubt, muß sich nur noch einmal die Filmaufnahmen in »The trues lies in Rostock« (dt.: »Die Wahrheit liegt/lügt in Rostock«) ansehen. Sie sind in den selben Minuten entstanden, als wir einige Kilometer entfernt unsere Ängste besprachen. Man kann sie als Lehrbeispiel für die Entstehung von Pogromen und die Zusammensetzung des Mob betrachten. Hier bekommen die z.T. sehr jungen Schaulustigen, die jeweils sehr unentschlossenen Grüppchen die Pflastersteine von einigen einzelnen Aufheizern regelrecht in die Hand gedrückt. Dann freilich, und weil niemand sie an ihren Taten hindert, putschen sie sich immer mehr auf, die Meute wächst an, um sich ein paar Tage nach den Übergriffen vollständig aufzulösen, als ob es sie nie gegeben hätte. Schuld an den Übergriffen trägt nicht nur der Mob, sondern eine ganze Gesellschaft.

Aber ob wir mögen oder nicht – dazu gehören nicht nur diejenigen, die jubeln oder unbeteiligt zuschauen, sondern auch diejenigen, die aus Angst gelähmt sind, also auch wir. Indes, die antirassistische Bewegung flüchtete sich in Theoreme vom prinzipiellen Rassismus der Deutschen, in undifferenzierte Beschuldigungen, bei denen die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten von aktiven Brandstiftern, jubelnden Zuschauern, journalistischen Stichwortgebern und bürokratischen Schreibtischtätern zu einem einzigen »nationalen Konsens« verwischt wurden, während die eigene Unterlassungsschuld nie und nirgends offen thematisiert wurde. Sehr bequem. Für die Zukunft müssen wir die Lehre ziehen. Statt stets und überall verbal mit radikalen Parolen um uns zu werfen, statt in jedem Einzelereignis die Nagelprobe zu wittern, müssen wir lernen zu erkennen und zu unterscheiden, wann eine echte historische Verantwortung besteht, wann der Lauf der Dinge von unserem Handeln und Unterlassen tatsächlich mit beeinflusst wird. Dann müssen wir aber auch in der Lage sein, im entscheidenden Moment das richtige zu tun. Zu dieser Fähigkeit gehört es, sich in seinem eigenen Bewusstsein darauf einzustellen. Dass wir selbst dabei Schaden nehmen können, sollten wir uns deutlich vor Augen halten. Wir sollten aber auch lernen, dass es Situationen gibt, in denen wir uns nicht mehr aussuchen können, was wir wie machen. Dann heißt es eben: Hier ist die Rose, hier tanz!