(Nicht-)Reaktionen der autonomen Antifa-Bewegung
Wie die Polizei und die Öffentlichkeit in Rostock und darüber hinaus, wussten auch Antifas schon früh, dass am Wochenende etwas passieren würde. So hatte es beispielsweise bereits am 18. August Drohanrufe bei Zeitungen gegeben, die Angriffe auf die ZASt ankündigten. Antifaschist_innen aus Rostock baten daher schon früh verschiedene Städte um Hilfe, um in den erwarteten Zusammenstößen nicht allein dazustehen.
Direkte Interventionen
Zentrale Treffpunkte für anreisende Antifas wurden das Jugend Alternativ Zentrum (JAZ) und die zu diesem Zeitpunkt etwa acht besetzten Häuser in der Stadt.
Die dort Versammelten waren sich jedoch uneinig, wie vorzugehen sei. Verlangten einige eine sofortige und direkte Intervention, warnten andere davor, dass dies angesichts der Kräfteverhältnisse zu gefährlich sei. Trotz dieser Unschlüssigkeit wurde mehrmals versucht, aktiv zu werden.
So gelang es z.B. einer Spontandemonstration in der Nacht auf Sonntag den 23. August vor die ZASt zu laufen und die noch anwesenden Neonazis zu vertreiben.1
Doch dies blieb nur ein kurzes Aufflackern effektiver Gegenwehr. Obwohl die in Rostock nur schwach aufgestellte Polizei Dutzende Verletzte durch den rechten Mob verzeichnete, ging sie rigoros gegen die sich sammelnden Antifaschist_innen vor. Viele Teilnehmer_innen der Spontandemonstration wurden festgenommen. In den Medien war daraufhin teilweise die Rede von rechten wie linken »Krawallmachern«.2
Auch noch Tage später wurde gegen Linke, die in Polizei-Kontrollen gerieten, weit härter vorgegangen als gegen Neonazis: Eine Gruppe von Berliner Antifas, die mit drei Autos in der Nacht auf den 26. August in Rostock Patrouille fuhren, um weitere Übergriffe angesichts der völlig untätigen Polizei zu verhindern, wurde nach einer Kontrolle festgenommen. Diese sperrte sie für zwei Tage in eine zu einem Gefängnis umfunktionierte Turnhalle, zusammen mit 35 Neonazis. »In der Halle befand sich immer eine etwa gleichgroße bis etwas größere Gruppe von Faschisten, die aber heterogen wirkte. Provokationen wurden beantwortet« beschrieb die Gruppe die Atmosphäre.3
Während von den verhafteten Neonazis alle bis auf einen, der einen Polizisten mit einem Messer angegriffen hatte, schnell wieder entlassen wurden, bekamen die Antifas Anzeigen wegen schwerem Landfriedensbruch. Sieben blieben in Untersuchungshaft.
Dennoch gelang es im Laufe des Wochenendes verschiedenen kleineren Gruppen von Antifas, sich in der Nähe der ZASt aufzuhalten, um bei günstiger Gelegenheit zu handeln: »Wir haben am 23.8. während des Pogroms in Rostock den von Rechtsradikalen genutzten Jugendclub »MAX« in Rostock-Lichtenhagen abgefackelt« bekannte sich so z.B. nachträglich eine Antifa-Gruppe. »Trotz der Anwesenheit von Hunderten von Neofaschisten, des rassistischen Mobs und etlicher Bullen war die Durchführung der Aktion problemlos, da wir in dem Gewühl nicht auffielen. […] Wir sehen weder für uns noch für alle anderen AntifaschistInnen einen Grund, sich deshalb auf die eigenen Schultern zu klopfen«4
bemerkten die Verfasser_innen selbstkritisch zum Abschluss.
Andere Antifas gingen direkt gegen Neonazis vor: »In Rostock drehen die Nazis auf und versuchen Menschen zu töten. […] Was wir tun können, ist, uns welche von den Schweinen auf dem Hin- oder Rückweg vorzuknöpfen. Da wir gut getarnt sind, können wir sie einfach fragen, ob’s Spaß macht da vorne – wenn sie »ja« sagen, schnappen wir sie uns«.5
An der Gesamtlage konnte dies freilich nichts ändern: Der rassistische Mob konnte tagelang frei agieren, an einem Imbiss, der die selten günstige Geschäftsgelegenheit gewittert hatte, wurde sich mit Würstchen und Bier versorgt, bevor man mit dem nächsten Angriff begann. »Es waren mehrere tausend »Schaulustige« und ca. 500 Aktive. […] Die Faschos konnten ungestört, zum Teil unter den Augen von Zivilpolizei, Mollies basteln – die Flaschen dazu kamen aus einem Glascontainer – sich auf der Straße und dem Parkplatz sammeln und gemeinsam angreifen. […] Ein Teil der Aktiven war sichtbar organisiert, als Faschisten und feste Gruppe kenntlich, nach Beobachtung anderer z.T. von auswärts. Der größere Teil waren Menschen aus Lichtenhagen oder Umgebung, wie auch unter den Schaulustigen nach unserem Eindruck fast ausschließlich Leute aus der direkten Umgebung waren.«6
Die Demonstration
Während der Tage des Pogroms waren nur wenige hundert Antifaschist_innen in Rostock, obwohl es bundesweit für Aufmerksamkeit sorgte. Früh wurde jedoch für eine große Demonstration mobilisiert. Auf dieser protestierten dann, eine Woche nach den Angriffen, 15–20.000 Menschen gegen die Geschehnisse, die Medienhetze über angebliche »Asylbetrüger« und für Solidarität mit den Angegriffenen. Trotz dieser, nach heutigen Maßstäben großen und schnell organisierten Veranstaltung, waren die Diskussionen innerhalb der antifaschistischen Szene in den Wochen danach hart und selbstkritisch: »Wir fragen uns heute, wo die Antifa in den Tagen vom 22. bis 27. August 1992 gesteckt hat. An der bundesweiten »Stoppt die Pogrome«-Demo haben bestimmt mehrere tausend Leute teilgenommen. Diese Demo kommt viel zu spät!!« kritisierte so z.B. eine Gruppe. Bemängelt wurde ein »Nicht-Verhalten« und dass man die Pogrome selber hätte »aktiv stoppen müssen«.7
Während einige aus der Demonstrationsvorbereitung den ruhigen Verlauf der Veranstaltung lobten, weil man so den Medien nicht die gewünschten Bilder von linken Chaoten geliefert habe8
, wurde gerade dies von anderen als größte Schwachstelle kritisiert: Die Antifa hätte die Gelegenheit nutzen sollen, die Neonaziszene offensiv einzuschüchtern, wenn schon die Polizei und damit die Angst vor staatlicher Verfolgung völlig ausgefallen war.9
Eine zielgerichtete Militanz auf der Demonstration wäre für einige das richtige Signal gewesen: »Lichtenhagen hätte nicht ›brennen‹ sollen. Nicht die Wohnungen der Bürger, nicht ihre Autos. Aber zumindest jener Kiosk ›happi happi bei appi‹, der ja nichts anderes war, als die logistische Basis des Mobs […] wäre lohnendes Angriffsobjekt gewesen« bemerkte eine Gruppe.10
Auch über die Frage, ob man an die Vernunft der Lichtenhagener Bevölkerung appellieren solle, die ihre Wut über soziale Missstände nur an den Falschen ausließen, oder ob diese als überzeugte RassistInnen zu gelten hätten, bei denen jegliches Argument überflüssig sei, spaltete nachhaltig die Szene.
Historische Stunde der Verantwortung verpasst
Das Pogrom von Rostock traf die antifaschistische Szene nicht unvorbereitet. Die zahlreichen Überfälle von Neonazis seit 1990 hatten die neue Gefahr deutlich gezeigt und bereits vor dem Pogrom war bekannt gewesen, dass an diesem Wochenende etwas passieren würde. Aus den Erfahrungen von Hoyerswerda 1991 hätte man wissen können, dass tagelange Pogrome im wiedervereinigten Deutschland zum Aktionsrepertoire der Neonaziszene gehörten und sie auf zahlreiche SympathisantInnen zählen konnten.
Zu den gängigsten Parolen innerhalb der antifaschistischen Bewegung der damaligen Zeit gehörten »Die antifaschistische Selbsthilfe organisieren« und »Staat und Nazis Hand in Hand – organisiert den Widerstand«. Als die Stunde gekommen war, diese Sätze in die Tat umzusetzen, entpuppten sie sich größtenteils als Phrasen. Nur einige wenige Antifaschist_innen setzten sich in die Autos und fuhren nach Rostock.
Noch nie in ihrer Geschichte stand die autonome antifaschistische Bewegung in einer ähnlichen Situation, in der sie für einen kurzen Moment in den Lauf der Geschichte hätte eingreifen können. Dieser Augenblick war in Rostock-Lichtenhagen am 22. August 1992 – und er verstrich ungenutzt.
Im AIB Nr. 41 schrieben wir:
»Seit Jahren hatte man mit moralischen Argumenten Zivilcourage eingefordert, den schweigenden AugenzeugInnen etwa des 9. November 1938 zu Recht vorgeworfen, durch ihr Zuschauen mitschuldig zu sein. Nun selbst in eine vergleichbare Situation geraten, war die Angst um den eigenen weißen Hintern offenbar größer. Den moralischen Ansprüchen entsprach kein Bewusstsein darüber, wie man sich in der konkreten Situation selbst zu verhalten habe. Weder hatten wir uns selbst als Faktor der Geschichte ernst genommen, noch hatten wir uns ernsthaft klar gemacht, dass in solchen Situationen im Zweifel auch Gefahr für unser eigenes Wohlergehen bestehen kann. […] Ich bin auch nach wie vor der Überzeugung, dass wir echte Chancen hatten, den Mob zu verscheuchen […] Für die Zukunft müssen wir die Lehre ziehen. Statt stets und überall verbal mit radikalen Parolen um uns zu werfen, statt in jedem Einzelereignis die Nagelprobe zu wittern, müssen wir lernen zu erkennen und zu unterscheiden, wann eine echte historische Verantwortung besteht, wann der Lauf der Dinge von unserem Handeln und Unterlassen tatsächlich mit beeinflusst wird. Dann müssen wir aber auch in der Lage sein, im entscheidenden Moment das richtige zu tun. […] Dass wir selbst dabei Schaden nehmen können, sollten wir uns deutlich vor Augen halten. Wir sollten aber auch lernen, dass es Situationen gibt, in denen wir uns nicht mehr aussuchen können, was wir wie machen […]« An dieser Analyse hat sich bis heute nichts geändert.
Das (Nicht-)Handeln der Polizei
Obwohl die Polizei in Rostock schon Tage vor dem Pogrom Wind von der Sache bekommen hatte, war das Sonnenblumenhaus am Wochenende ohne relevanten Polizeischutz.
Innensenator Dr. Magdanz trat am Abend des 21. August seinen Urlaub an, da er »keinerlei verdichtete Hinweise auf Auseinandersetzungen« gehabt habe. Auch der Leiter der Polizeidirektion Rostock, Jürgen Deckert, erstellte aufgrund der besorgniserregenden Berichte nur schnell einen kurzen Einsatzbefehl und reiste dann ins Wochenende nach Bremen. Auch der Staatssekretär im Innenministerium, die Abteilungsleiter für Öffentliche Sicherheit und für Ausländerfragen, der Leiter des Landespolizeiamtes sowie der Chef der Polizeidirektion Rostock fuhren zu ihren Familien nach Westdeutschland.
Der Einsatzbefehl für die Polizei, den Deckert vorher noch schnell geschrieben hatte, fand auf einer Seite Papier Platz. Er enthielt weder einen Funkplan noch eine Abschnittseinteilung und war damit völlig unzureichend – deutlicher Beweis, wie unwichtig der kommende Einsatz genommen wurde. Die späteren RandaliererInnen wurden als »Bürger aus ausländerfeindlich eingestellten Kreisen« bezeichnet, welche die Absicht hätten, eine »Protestaktion« in Rostock-Lichtenhagen durchzuführen. Nur ein einziger Zug Bereitschaftspolizei wurde zur Verfügung gestellt.
Als am Samstag, wie angekündigt, aus einer Menge von ca. 2000 Personen mehrere hundert Jugendliche die ZASt mit Steinen und Brandflaschen bewarfen, wurden nur dreißig Polizist_innen zum Schutz des Gebäudes geschickt, die sofort angegriffen wurden. Erst jetzt wurden Wasserwerfer angefordert. Diese befanden sich aber in Schwerin und dort gab es zu diesem Zeitpunkt keine Fahrer_innen. Als sie schließlich gegen 2 Uhr morgens zum Einsatz kamen, waren sie nach kurzer Zeit leer. Am Sonntag versammelten sich bereits gegen Mittag wieder neue Gruppen vor der ZASt – immernoch war die Polizei hoffnungslos unterbesetzt.
Erst in der Nacht zum Montag kam der Leiter der Polizeidirektion Rostock Jürgen Deckert aus Bremen zurück, um selbst den Einsatz zu leiten. Offensichtlich machte dies die Lage aber nicht besser, sondern nur noch schlimmer. Auch die mittlerweile aus Hamburg eingetroffenen zwei Hundertschaften der Polizei und ein Zug des Bundesgrenzschutz (BGS) konnten daran nichts ändern. Jedoch wurden Erstere direkt vor der ZASt positioniert und konnten so vorerst ernstere Angriffe verhindern. Doch am Montagabend um 20 Uhr, als sich erneut Tausende in Volksfeststimmung versammelt hatten, gab Deckert den Befehl, die beiden Einsatzhundertschaften aus Hamburg abzuziehen. Ungläubig fragten die Zugführer mehrmals bei »Robbe 50«, der Funkzentrale der Polizei, nach, ob sie den Einsatzbefehl tatsächlich richtig verstanden hätten. Nach dem Abzug lag der Häuserblock der vietnamesischen Vertragsarbeiter_innen völlig ungeschützt da und die Angriffe erreichten gegen 22 Uhr ihren Höhepunkt. Während die ersten Wohnungen angezündet wurden, herrschte bei der Polizeileitung weiterhin völlige Unfähigkeit: »Meiner Einschätzung nach bestimmte Passivität das dienstliche Geschehen« beschrieb ein Zugführer nachträglich die Atmosphäre. Ein Führungsstab sei nicht vorhanden gewesen, stattdessen habe man das Gefühl gehabt, Deckert würde eine »Ein-Mann-Show« in der »sicheren Etappe« abliefern. Nachdem telefonisch die Nachricht einging, dass bereits drei Wohnungen brennen würden, verließ Deckert das Büro und war auch nach zwanzig Minuten nicht zurück. Nachdem mehr und mehr alarmierende Anrufe eingingen und immer noch nichts geschah, ging ein Polizist schließlich den Einsatzleiter suchen und fand ihn einige Räume weiter mit dem Staatsanwalt im Gespräch über die Frage, ob man auf ein dubioses Angebot der RassistInnen zu einem 45-minütigen »Waffenstillstand« eingehen solle. Erst nachdem ein Hamburger Hundertschaftführer darauf drängte, dass etwas getan werden müsse, erteilte Deckert schließlich den Auftrag, die Feuerwehr beim Löschen zu unterstützen.
Unfähig nur gegen Rechts
Während die rassistischen RandaliererInnen so tagelang ungestört agieren konnten, sollte es mit der linken Großdemonstration am nächsten Wochenende kein Pardon geben. Das Demonstrations-Bündnis, dem neben Autonomen auch Parteien und Gewerkschaften angehörten, wurde als »radikale und extremistische Gruppierung« bezeichnet. Die »Gewaltszene« aus der ganzen Bundesrepublik plane, sich in Rostock zu versammeln.
Was tagelang nicht möglich war, klappte nun wie am Schnürchen: Gefangenensammelstellen wurden vorbereitet, Raumschutz im gesamten Stadtgebiet bereitgestellt, Autobahnkontrollen eingerichtet. »Unter Berücksichtigung der Ereignisse der Vortage ist bei niedriger Einschreitschwelle offensiv, konsequent und unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten einzuschreiten. Störungsversuche sowie Störungen sind konsequent und unverzüglich zu beenden« hieß es in dem Einsatzbefehl. Als Polizeikräfte standen nun 14 Wasserwerfer, sechs SEK Gruppen, 12 Hubschrauber und 27 Einsatzhundertschaften zur Verfügung.
Der Feind stand für die Polizeiführung und das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommerns weiterhin Links – der versuchte Mord an den Vietnames_innen und über 150 verletzte PolizistInnen hatte daran nichts geändert.