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Die politischen Brandstifter von Rostock-Lichtenhagen

Einleitung

Die »Unterlassungen«, die zu dem Pogrom führten, haben wir bereits benannt. Montag Vormittag tagte der Krisenstab, zu dem CDU-Bundesinnenminister Rudolf Seiters angereist war. Am selben Abend sind die entscheidenen Personen überhaupt nicht (wie Rudolf Seiters) oder zumindest während der Stunden des Brandes, in denen das Gebäude mit den vietnamesischen Familien dem angreifenden Mob überlassen wurde, »nicht anwesend« (so der CDU-Innenminister Lothar Kupfer, der Rostocker Polizeidirektor Siegfried Kordus und der SPD-Oberbürgermeister Klaus Kilimann).

Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F082412-0020 / Schaack, Lothar /CC BY-SA 3.0

Der CDU-Bundesinnenminister Rudolf Seiters (mitte) forderte: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben, ich hoffe, dass die letzten Beschlüsse der SPD, sich an einer Grundgesetzänderung zu beteiligen, endlich den Weg frei machen.“

Schon an dem ersten Angriffstag konnten sich die Neonazis und ihre SympathisantInnen aufgrund der Tolerierung durch die Polizeiführung weitgehend ungestört austoben. Das Haus konnte - neben dem spärlichen Einsatz von 35 Beamten, die von ihren Vorgesetzten verheizt wurden — nur durch die Selbstverteidigung der vietnamesischen BewohnerInnen und unterstützender Rostocker Antifas gehalten werden. Daß das Pogrom drei Nächte laufen konnte, ohne daß ernsthaft dagegen eingeschritten wurde, kann kaum jemand ernsthaft – außer den direkt Verantwortlichen – mit »Einsatzpannen« entschuldigen.

Handlungsbereit zeigte sich die Polizei durchaus Sonntagnacht, als sie über 60 AntifaschistInnen in Haft nahm, die damit mehr als die Hälfte der Festgenommenen dieser Nacht stellten (über die Presse verbreiteten die Polizeidienststellen dann, »Rechte und linke Autonome« hätten gemeinsam an den Angriffen teilgenommen). Offensichtlich sollten antifaschistische Kräfte dem hausgemachten Pogrom nicht dazwischen pfuschen. Zwei Monate vor dem Pogrom hatten die Rostocker Polizeioberen um Polizeidirektor Siegfried Kordus und Polizeioberrat Jürgen Deckert gezeigt, wie die Rostocker Polizei vorgeht, wenn es um die Durchsetzung einer Veranstaltung von Neonazis geht: 500 Beamte, mit Verstärkung  aus Norddeutschland, boten sie auf, um die Rostocker GegendemonstrantInnen einer DVU-Versammlung von der Straße zu prügeln.

Erst in der dritten Pogromnacht wurde ein neues Einsatzkonzept gefahren; die Gewalttätigkeiten Dienstag und Mittwoch richteten sich in Lichtenhagen, nunmehr »ausländerfrei«, fast nur noch gegen die Polizei und gegen Autos der AnwohnerInnen. Die Erklärungen der PolitikerInnen in den Tagen nach dem Pogrom strotzen von kaum noch zu überbietenden Zynismus. Ein Bedauern oder eine Solidaritätserklärung gegenüber den Flüchtlingen und den vietnamesischen Familien kam ihnen nicht über die Lippen1 . Landesinnenminister Lothar Kupfer (CDU) behauptete wiederholt, daß der Einsatzauftrag der Polizei erfüllt worden wäre, es wäre »keinem Asylbewerber, keinem Anwohner und auch keiner anderen schützenswerten Person Schaden zugefügt worden«2 . Obwohl er nochmals vom Ausländerbeauftragten detailliert die Situation der vietnamesischen BewohnerInnen in dem brennenden Haus geschildert bekam, verkündete er kurz darauf vor dem Schweriner Landtag: »Die Polizei hat ihren Einsatzauftrag erfüllt, keinem Asylbewerber wurde auch nur ein Haar gekrümmt«3 und verschwieg wiederum, daß fast 115 VietnamesInnen zusammen mit einem ZDF-Fernsehteam und Rostocker Antifas umgekommen wären. Der CDU-Ministerpräsident Berndt Seite äußerte auf den Vorwurf, die Polizei habe die Menschen im "Sonnenblumenhaus" schutzlos sich selbst überlassen: „Niemand hat das ZDF-Team aufgefordert, das Haus zu betreten.“ Die VietnamesInnen erwähnte er nicht. In der zweiten Pogromnacht bedauerte im Fernsehen, daß »deutsche Polizisten gegen deutsche Bürger« vorgehen mußten und forderte ein Stopp für den »unkontrollierten Zustrom von Ausländern nach Mecklenburg-Vorpommern«. Den Bundesinnenminister hätte es eine Handbewegung gekostet, bereits in der ersten Angriffsnacht massenweise BGS-Kräfte nach Rostock zu schicken. Er kommentierte das Pogrom damit, daß »große Teile der Bevölkerung besorgt über den massenhaften Zustrom von "Asylbewerbern" seien«4 . Zur gleichen Zeit übrigens machten SPD und "Die Grünen" Rudolf Seiters (CDU) für die massenhafte Verschleppung von Asylanträgen beim Zirnsdorfer Bundesamt verantwortlich; diese solle offenbar die »Asyldiskussion« anheizen.

Die sozialdemokratische Variante in der Person von Kanzlerkanidat Björn Engholm bedauerte zwar die Gewalt etwas stärker als seine christdemokratischen Kollegen, kam dann aber auch zum Wesentlichen: der Änderung des Asylrechts. Die SPD-Führung entschied sich folgerichtig an dem Sonntag nach den Pogromtagen für die Änderung des Grundgesetzartikels.

Der Einzige, der aus diesem Kreis ausscherte, war der inzwischen ehemalige Sprecher der Landtagsfraktion Knut Degner. Er warf den Rostockern und Schwerinern Politikern »Verantwortungslosigkeit, Ignoranz und menschenverachtenden Zynismus« vor. Er hatte im Gespräch mit dem Rostocker Innensenator Peter Magdanz (SPD) die Gewißheit bekommen, daß die Verantwortlichen die Zustände in Lichtenhagen bewußt zu diesem explosiven Punkt haben kommen lassen, »um weitere Asylbewerber vom Kommen abzuhalten«5 . Doch die rassistische Stimmung ist schon so weit geschürt, daß ein Pogrom wie in Lichtenhagen gesellschaftsfähig wird.

Millionen FernsehzuschauerInnen konnten die Angriffe am Bildschirm verfolgen, keiner der verantwortlichen Politiker brauchte zurückzutreten - der einzige, der seinen Hut nahm, war der SPD- Pressesprecher Knut Degner. Den VertreterInnen der großen Parteien geht es nicht nur um die Abschaffung des §16 des Grundgesetzes, der das Recht auf Asyl garantiert. Sie wissen sehr wohl, daß das, was sie der Bevölkerung hier als kurzfristige »Lösung des Flüchtlingsproblems« anbieten, keine ist. Es ist ein Ausgangspunkt für eine massive Verschiebung der bundesdeutschen Verhältnisse nach rechts, wobei die verschärfte Gangart gegen Flüchtlinge, wie die geplanten Massenabschiebungen von Roma und Sinti im November 1992, nur einen Bereich darstellen.

Im Anschluß an das Rostocker Pogrom preschte die CDU mit neuen Vorschlägen zur Verschärfung der Sicherheitsgesetze vor, die sicher nicht das Ziel der Eindämmung von rassistischer Gewalt haben. Die soziale und politische Situation in der BRD ist durchaus heikel, wie Erklärungen der Politiker in der Zeit um den Rostocker Pogrom deutlich machten. Bundeswirtschaftminister Jürgen Möllemann kündigte am 31. August an, daß in verschiedenen Bereichen der deutschen Wirtschaft eine Rezession ins Haus stehe und der »Aufschwung Ost« noch mehrere Jahre warten müßte. Gefolgt wurde dieser Beitrag »zur Lage der Nation« mit Vorschlägen, wie den Beschäftigten am besten das Geld für die Finanzierung der Einheit aus der Tasche gezogen werden könnte: Investivlöhne, Solidarbeiträge, Steuererhöhung und Aushöhlung der tariflichen Rechte. Doch von der Bevölkerung wird diesem Angriff nicht viel entgegengesetzt und es ist keine gesellschaftliche Kraft sichtbar, die den berechtigten Unmut zur Entwicklung eines Kampfes für soziale Verbesserungen nutzen könnte.

In dieser Situation erfüllt die freigegebene Jagd auf »Scheinasylanten« wunderbar die ihr zugedachte Funktion, den Unmut und Frust der Bevölkerung gegen nichtdeutsche Feindbilder abzulenken. Die eigentlichen Verursacher der sozialen Krise erscheinen gar nicht auf der Bühne. Der als Sündenbock ausgemachte »Wirtschafts-Asylant« ist zur einfachen Zielscheibe frustrierter Jugendlicher, deutscher RassistInnen und deutscher SpießerInnen geworden. Die Beispiele des »ausländerfreien« Hoyerswerdas und Lichtenhagens versprechen leichte Erfolge beim Treten nach unten und beleben den deutschen Nationalismus und Rassismus als Massenerscheinung. Und die Rechnung geht vorerst auf: es gibt wenig Widerspruch aus der Bevölkerung gegen die Anti-Asyl-Kampagne, viele sehen in den Flüchtlingen das Problem und nicht im erstarkenden Rassismus. So gab es keinen Protest von Hunderttausenden, als in Lichtenhagen fast ein hundertfacher Mord durch RassistInnen und ihre aufgeputschen SympathisantInnen begangen wurde. Die Herrschenden spielen wieder mit den neonazistischen Kräften, in der Hoffnung sie für ihre Zwecke einsetzen und sie kontrollieren zu können. Welch gefährliches Spiel dies bedeutet, dazu brauchen wir nicht extra historische Parallelen bemühen. Verglichen mit Hoyerswerda, konnten die Neonazis in Rostock mit einer erheblich verbesserten Struktur in die Ereignisse eingreifen. Die Gewaltwelle, die dem Pogrom von Lichtenhagen folgte und noch immer anhält, wird im folgenden Artikel beschrieben. Ebenso der Ausbau des paramilitärischen Netzes der Neonazis, den die AntifaschistInnen in naher Zukunft verstärkt zu spüren bekommen werden.

  • 1Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth spricht sich direkt nach dem Pogromwochenende für eine rasche Änderung der Asylpolitik aus. Der stellvertretende CDU-Bürgermeister Wolfgang Zöllick (CDU): »Wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, daß so eine Anlaufstelle inmitten eines solchen Wohngebietes sehr problematisch ist (…) Dieser Zustrom ist unkontrollierbar und hat überdimensionale Ausmaße angenommen (...) Hier ist organisierter Menschenhandel betrieben worden.« (TAZ-Interview, 25.8.92) . Erwin Eppler, sozialdemokratischer Abgeordneter von Lichtenhagen in der Rostocker Bürgerschaft: Er verurteilt die Gewalt, kann aber auch die Menschen verstehen. »Ich habe ja grundsätzlich nichts gegen Ausländer, aber das hier war ja zuviel.« (Berliner Zeitung, 25.8.92) . Der CDU-Justizminister Herbert Helmrich: Auf die Frage des »Mecklenburger Aufbruch«, ob man gegen Flüchtlinge »etwa eine Mauer ziehen« sollte: »Ja, es geht gar nicht anders.« (TAZ, 5.9.92) bzw. auch: Wir brauchen eine neue Mauer“, denn „was uns überschwemmen wird, geht bis in die Türkei“. Bundesinnenminister Rudolf Seiters forderte noch während des Pogroms auf einer Pressekonferenz in Rostock am 24. August 1992: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben, ich hoffe, dass die letzten Beschlüsse der SPD, sich an einer Grundgesetzänderung zu beteiligen, endlich den Weg frei machen.“ Der CDU-Ministerpräsident Berndt Seite folgte mit der Stellungnahme: „Die Vorfälle der vergangenen Tage machen deutlich, daß eine Ergänzung des Asylrechts dringend erforderlich ist, weil die Bevölkerung durch den ungebremsten Zustrom von Asylanten überfordert wird“.
  • 2Der Spiegel, 36/1992
  • 3"die tageszeitung" (TAZ), 28.8.1992
  • 4"die tageszeitung" (TAZ), 25.8.1992
  • 5Aus dem Offenen Brief des (ex-)SPD-Pressesprechers Degner: Ein Gespräch mit Innensenator Magdanz gab ihm »die Gewißheit, daß verantwortliche Politiker in Schwerin und Rostock die politischen "Brandstifter" des Lichtenhagener Desasters sind.« (...) »Keine Stunde länger dürften Menschen wie Minister Kupfer, der Rostocker OB Kilimann, sein Stellvertreter Zöllick und der Rostocker Innensenator Magdanz im Amt bleiben. Keine Stunde länger dürfen Menschen in diesem Lande so gewissenlosen und zynischen Figuren ausgeliefert sein. Sie aber weichen nicht und lügen weiter, um ihre Haut - nein - ihre Macht und ihre Sessel — notfalls aber wenigstens ihre Versorgungsansprüche zu retten.« (...) »Als Gast der Landespressekonferenz am Dienstag, den 25.August 1992, mußte ich mit anhören, wie der Rostocker Innensenator Magdanz mit den Worten zitiert wurde, daß man nur noch mehr Asylbewerber anlocken würde, wenn man weitere Unterkünfte schaffen würden« (...) »Dabei nahm man offensichtlich das Potenzieren sozialen Sprengstoffs in Kauf und wollte diesen als politisches Druck mittel benutzen.« (...) »Der Rostocker Innensenator Peter Magdanz antwortete mir auf die Frage, ob es in seiner Macht gestanden hätte, die Asylbewerber wegzubringen, in Turnhallen der Stadt oder ähnlichen Unterkünften, daß dies in seinen Augen keine Lösung gewesen wäre. Er hätte dies wohl tun können, aber am nächsten Abend hätte er die nächste Turnhalle vollgehabt, weil "die telefonieren doch mit Rumänien und dann stünde er  am nächsten Abend vor dem gleichen Problem.« (...) »Mein Resümee, daß er damit Menschen in ihrer Not zu politischer Manövriermasse zur Abschreckung anderer gemacht habe, quittierte er mit Achselzucken.« »Da ich aus Äußerungen der genannten Verantwortlichen weiß, wie eng sie in dieser Angelegenheit zusammengearbeitet haben und da ich daran auch keinen Zweifel habe, muß ich davon ausgeben, daß auch alle Genannten dafür die Verantwortung tragen. (...) Sie haben nach meiner festen Überzeugung mit dem Feuer gespielt und wir alle haben die Explosion erlebt« .