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Identitätspolitik: Um was es eigentlich geht

Debattenbeitrag von Felix Heese
Einleitung

Wolfgang Thierse hat sich medienwirksam dem Kreuzzug gegen „die identitäre Linke“ angeschlossen. Mit Vorwürfen, die schon lange von Francis Fukuyama und anderen rechts-libertären vorgebracht werden, mischt sich Hartz-IV-Befürworter Thierse als vermeintliches „Symbol der normalen Menschen“ in die Diskussion um Identitätspolitik ein. Es ist der Versuch eines Schulterschlusses zwischen rechten und linken „Normalen“ gegen an den Gesellschaftsverhältnissen rüttelnden „Anderen“. Es ist der Versuch, die politische „Linke“ in Deutschland zu „skandinavisieren“, also durch national-populistische Rhetorik und menschenverachtende Zuwanderungspolitik die „einfachen Leute“ wieder ins „linke“ Boot zu holen.

Foto: Christian Ditsch

Wolfgang Thierse, von 1990 bis 2013 Abgeordneter und von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestages, sieht sich als „Symbol der normalen Menschen“.

Viele stimmen Thierse zu: Identitäts­politik sei eine Gefahr für Meinungsfreiheit und Demokratie. Sie sei ein „ätzendes Gift1 , eine „Sekte2 , spalte die Gesellschaft und setze nicht auf „Versöhnung und konkrete Fortschritte3 . Identitätspolitik lenke von den wichtigen Themen ab und strebe eine „Kontrolle des Sprachgebrauchs3 an. Mit Hexenjagden („Cancel Culture“) werde ein „elitärer Wahrheitsanspruch4 durchgesetzt, der „Streit mit rationalen Argumenten4 verhindere. Dadurch werden die „einfachen Leute4 vergrault und zu rechten Populisten getrieben. Zudem sei die identitäre Linke eine gut vernetzte akademische Elite, die immensen Rückhalt in den „Redaktionen der etablierten Medien1 habe und durch ihre „ungeheure Diskursmacht5 eine „Gefahr für die Pressefreiheit5 darstelle.

Wer diesen Vorwurfskatalog gelesen hat, braucht sich die Flut an Meinungsartikeln gegen Identitätspolitik nicht mehr durchzulesen. Einer Ideologie gleich, die an den Antikommunismus des Kalten Krieges erinnert, wird einig gegen Identitätspolitik geschossen. Kämpferisch werden die Argumente der Identitätspolitik kategorisch als weltfremd und irrational verworfen. Ab und an darf ein*e Autor*in mal ein bisschen dagegenhalten, doch Reichweite bescheren reaktionäre „Sowas-wird-man-wohl-noch-sagen-dürfen“-Artikel und Empörungs-Stories über „Cancel Culture“, die meist nur Twitter-Screenshots oder -Videos sind.

Hier zeigt sich die wahre „vernetzte Elite“, die „Meinungsdiktatur“ der Mehrheitsgesellschaft und die Anspruchshaltung, die das eigene Wohlbefinden und die eigenen Privilegien über alles andere stellt. Das zeigt sich im Widerstand gegen Migration, gegen Gendersternchen und gegen Gleichberechtigung. Anstatt sich mit identitätspolitischen Argumenten auseinanderzusetzen (so anstrengend und nervig das im Einzelnen auch sein mag) und sich bewusst zu werden, wie die Machtstrukturen und Ideologien von Rassismus, Patriarchalismus und Homophobie in unserer Gesellschaft wirken, stilisieren sich Menschen als Opfer, von denen eigentlich Gewalt ausgeht: Meinungsgewalt, Themensetzungsgewalt, Sprachgewalt.

Diese Scheinheiligkeit, dieses träge „Nichts-Verändern-Wollen“, ist, was im Kern radikal ist – und zutiefst reaktionär. Für die Mehrheitsgesellschaft sind Probleme und Bedürfnisse von Menschen, die als „anders“ gezeichnet werden, irrelevant. Das sieht man an den europäischen Außengrenzen, an innerdeutscher Behördenarbeit. Die „Normalen“ machen es sich lieber meckernd in der Privilegien-Ecke gemütlich, legitimieren somit rechte Empörungsgewalt und lenken, ganz in der Tradition rechter Populisten, vom eigentlichen Thema ab.

Der moralische Zeigefinger ist der Deutschen liebstes Mittel, sei es gegen Kopftuch, ethnische Minderheiten, andere kulturelle Traditionen. Wird er allerdings nach innen gerichtet, folgt Ablehnung, Verweigerung, Hass. Der geistige Schulterschluss von rechts und links hat bereits stattgefunden, der gemeinsame Feind ist ausgemacht. Reaktionärer Widerstand gegen gesellschaftliche Veränderung ist Ausdruck einer Gesellschaft, die ein Jahrhundert lang weggeguckt, geleugnet und auf die Opfer gezeigt hat.

Im Kontext der „Critical Whiteness“ ist Thierses Fall ein gutes Beispiel. Seine vehemente Abwehrhaltung gegen den Vorwurf des Rassismus ist ein Beleg für systemischen Rassismus, da er die herrschende, rassistische Machtstruktur und die für eine weiße Mehrheit daraus erwachsenen Privilegien verteidigt, anstatt die eigene Sozialisierung innerhalb einer rassistischen Gesellschaft anzuerkennen und Diskriminierung zu reflektieren. Sein Verweis auf „normale“ Menschen spiegelt die Machtstruktur dieser Gesellschaft.

Emanzipatorische, radikale, identitäre Linke bilden nicht nur den Gegenextremismus zu den von Behörden gedeckten Neonazis und offenen Rassisten da draußen. Sie sind auch die Erwiderung an Medien und Comedians, die ganz selbstverständlich reaktionäre Ressentiments und Rassismus verbreiten. Sie sind der Gegenpol zu Autor*innen, die, wenn sie von Meinungsfreiheit reden, nur die eigene Meinungsfreiheit meinen, und damit die (Wohnzimmer-)Nazis ermutigen, ihre eingebildete Opferrolle und Gewaltfantasien auszuleben.
Diskriminierte schreien an gegen institutionelle Gewalt deutscher Behörden, lächelndes Schulterzucken der Polizei und Justiz, das Nicht-Ernst-Nehmen der Anliegen von Opfern diskriminierender Gewalt. Sie schreien, weil sie einer Wand des Schweigens, einer ideologischen Mauer des Leugnens gegenüberstehen. Die Voraussetzungen des gesellschaftlichen Miteinanders wurden vor Jahrzehnten einseitig festgelegt. Aus solch einer Machtposition heraus kann es keine gemeinschaftliche und solidarische Lösung für alle geben, sondern nur Diktat von oben.

Vielleicht muss ein linker Meinungsartikel zu Identitätspolitik mit einem staatstragenden Appell geschlossen werden: Hört auf, dem N-Wort oder der Z-Soße hinterher zu jammern. Schenkt den Anliegen diskriminierter Gruppen Gehör. Verweigert euch nicht unbequemen Wahrheiten, die außerhalb ideologisch verstaubter Grundfeste liegen. Akzeptiert den eigenen Rassismus als etwas, was man genauso überwinden sollte, wie die Idee einer einheitlichen Masse von Ausgebeuteten. Erkennt die Wahrheit, dass Deutschland seit über 50 Jahren ein Einwanderungsland ist, dass die Illusion von Assimilation gescheitert ist. Nehmt den Verlust eurer Stimme in einer Diskussion, das Gefühl der Ungerechtigkeit, der Ohnmacht, der Hoffnungslosigkeit als Beleg für die Erfahrungen von Diskriminierten und öffnet euch für eine gleichberechtigte Neuverhandlung von gesellschaftlichem Miteinander.

Und hört verdammt noch Mal auf, in eurem Selbstmitleid zu versinken und den Idealen der rassistischen Aufklärung hinterher zu trauern. Helft lieber, eine nicht rassistische, solidarische und an das Gemeinwohl aller Menschen gerichtete Gegenaufklärung voranzubringen. Erst dann kann von Versöhnung die Rede sein.