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Politisch motivierte Polizeispionage

Jason Kirkpatrick (Gastbeitrag)
Einleitung

Staatliche Repressionsmaßnahmen unter dem Einsatz von Undercover-Polizisten werden auch zehn Jahre nach der Enttarnung des britischen „Spycops“ Mark Kennedy noch weiter aufgedeckt.

SDS-Gründer Conrad Dixon (rechts) und andere "Spycops" im Jahr 1968.

Nach einer Kneipentour durch Berlin-­Friedrichshain fragte mich mein Freund Mark plötzlich, ob ich Neonazis kennen würde, die wir zusammen mit seiner „Antifa-­Crew“ aus England angreifen könnten. Da ich mit ihm vorher noch nie über deutsche Neonazis gesprochen hatte, fragte ich mich, ob er ein Agent-Provocateur-Spion sein könnte.

Der europaweite Skandal der politisch motivierten Undercover-Polizeispionage wurde von der Lebensgefährtin des britischen Polizeispitzels Mark Kennedy aufgedeckt, die durch einen Reisepass seine wahre Identität herausfand. Kennedys Geschichte wurde bereits breit erzählt, vom Antifaschistischen Infoblatt1  bis hin zum ARD-Weltspiegel im Januar 20212 . Dass es Kennedy auf Linke und Klimaaktivist_innen abgesehen hatte3 und sieben Jahre lang quer durch ganz Europa spionierte4 , ist ebenfalls gut dokumentiert.

Im Jahr 2011 hatte der Präsident des Bundeskriminalamtes Jörg Ziercke vor dem Bundestag-Innenausschuss eingeräumt, dass Kennedy auch in den drei deutschen Bundesländern (Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg und Berlin) angeheuert worden war, um linke Protestbewegungen zu infiltrieren.5 Doch die Aufmerksamkeit der Presse für den Kennedy-Skandal flaute schon nach einigen Monaten wieder ab. Durch kontinuierliche Proteste, Lobbyarbeit bei Oppositions-Politiker_innen, Pressearbeit und Informationsveranstaltungen in ganz Großbritannien gelang es linken Aktivist_innen, der von Polizei und Politik verbreiteten Einzelfallthese entgegenzuwirken und weitere verdeckte Ermittler zu enttarnen.

Geheimnisse aufgedeckt, Spycops geoutet

Im Zuge der Aufarbeitung der Spitzelfälle kamen Gemeinsamkeiten ans Licht: Viele nutzten LKW‘s oder Vans, um damit Protestmaterial auszuliefern oder Aktivist_innen nach Hause zu fahren. Ein effizienter Weg um herauszufinden, wo Protestmaterial gelagert wurde, Aktionen geplant waren und Aktivist_innen wohnten. Auch sollten vorgetäuschte gemeinsame Interessen ein Gefühl der Kameradschaft erzeugen.

Kennedy war bei deutschen Aktivist_innen beispielsweise als Fan des Fußballvereins FC St. Pauli bekannt. Nach und nach wurden immer mehr Undercover-Polizisten enttarnt: Darunter Bob Lambert6 , der ein gemeinsames Kind mit einer Tierrechtsaktivistin hatte, beide jedoch verließ und zu seiner „echten“ Familie zurückkehrte. Später wurde Lambert zum Leiter des „Special Demonstration Squad“ (SDS) ernannt, eine Polizeieinheit, die seit 1968 soziale Bewegungen der politischen Linken vorwiegend in England und Wales unterwanderte. Danach erfand sich Lambert als Geschäftsmann neu und leitete eine private Spionagefirma. Daneben lehrte er am „John Grieve Centre for Policing and Community Safety“ im Referat für Kriminologie mit Sitz an der „London Metropolitan University“, der Universität „Exeter“7 und der Eliteuniversität „St. Andrew‘s in Schottland“. Durch Proteste wurde Lambert dazu gezwungen, von den akademischen Posten zurückzutreten.6

Neben Lambert konnten die Identitäten von mehr als einem Dutzend ehemaliger Spionagepolizisten aufgedeckt werden. Durch interne Ermittlungen der britischen Polizei kamen mehr Geheimnisse ans Licht. Im Jahr 2014 erwirkten Frauen, die zu intimen Beziehungen mit Polizeispitzeln überlistet worden waren, nach jahrelangen Kämpfen, dass sich die Polizei für den sexuellen Missbrauch und die Grundrechtsverletzungen entschuldigen und ihnen hohe Entschädigungen zahlen musste.8

Undercover Policing Inquiry

Aufgrund neuer Informationen über verdeckte Ermittlungen gegen „Black-Justice-Kampagnen“ durch den Whistleblower und Ex-Spycop Peter Francis9 sah sich die damalige Premierministerin Theresa May dazu gezwungen, eine unabhängige öffentliche Untersuchung der verdeckten Polizeiarbeit in England und Wales zu veranlassen. Die „Undercover Policing Inquiry“ (UCPI)10 wurde im Jahr 2015 nach Enthüllungen ins Leben gerufen, die Polizei habe Aktivist_innen und Familienmitglieder von Jugendlichen ausspioniert, die in den letzten zwei Jahrzehnten bei rassistischen Angriffen getötet worden waren - darunter auch die Familie des ermordeten schwarzen Jugendlichen Stephan Lawrence11 .

Aktivist_innen erreichten, die gesamte fast 40-jährige Wirkungszeit des SDS von der UCPI untersuchen zu lassen. Durch den Status eines „Core Participant“, was so etwas wie sachverständiger Zeuge ist, wurde ich vom UCPI-Vorsitzenden als eines von über 200 Opfern von „Spycops“ ausgewählt, denen eine rechtlichen Vertretung finanziert wurde.12

Anfangs wurde behauptet, dass die über 1.000 bespitzelten Gruppen veröffentlicht werden würden und die Aktivist_innen Einblicke in die über sie angelegten Polizeiakten erhalten würden. Deren Hauptanliegen war es, dass die verantwortlichen Entscheidungsträger aus Polizei und Politik klar benannt werden sollten. All diese Hoffnungen blieben bislang unerfüllt, stattdessen wurde das Verfahren von der Polizei mit juristischen Tricks bis Ende 2020 verzögert.

Begleitet wurden die Anhörungen von Protesten, einer Anhörungsaussetzung, nachdem dem Vorsitzenden von den Beteiligten das Vertrauen entzogen wurde13 und Pressekonferenzen vor dem „Londoner High Court“.

Während der Anhörungen im November 2020 wurden Jahresberichte des SDS von 1968 bis 1972 veröffentlicht einschließlich der Jahresbudgets, sowie Protokolle der regelmäßigen Spionagetreffen, Berichte über die Bespitzelung irischer Solidaritätsgruppen und die Anzahl der Offiziere in der Einheit.14 Auch ein „Familienfoto“ der ersten SDS-Einheit, Fotos von Spionagepolizisten der damaligen Zeit, darunter der SDS-Gründer Conrad Dixon wurden veröffentlicht.15

Zu den aufgedeckten Angriffen der britischen Spionagepolizei auf irische Gruppen kam auch ein Angriff auf die ehemalige prominente Aktivistin und nordirische Ex-Parlamentarierin Bernadette Devlin16 , die jetzt den Status einer UCPI-Kernteilnehmerin anstrebt. Außerdem wurde bekannt, dass die Spionagepolizei die nordirische Bürgerrechtsvereinigung ins Visier genommen hatte, die den „Bloody-­Sunday“-Protest von 1972 organisiert hatte - ein weiterer Skandal, von dem man bisher glaubte, er sei durch die zehnjährige „Bloody-Sunday“-Untersuchung aufgeklärt worden.17 Da zahlreiche Verstöße gegen britisches Recht durch die Spionagepolizei aufgedeckt werden, wird die UCPI die am längsten laufende Untersuchung in der britischen Geschichte werden. Bisher wurden 60 Millionen britische Pfund ausgegeben, die Hälfte davon für die Polizei.

Private Spionage für Unternehmens­interessen

Weniger bekannt sind die Verflechtungen zwischen staatlicher Spionage, privaten Spionagefirmen und der Unternehmenswelt. Rod Leeming, ein Leiter der „Special Branch‘s Animal Rights National Index“, die Tierrechtsgruppen im Auge behielt, gründete später die Sicherheitsfirma „Global Open“. Die private Spionagefirma beriet multinationale Pharmakonzerne, die von der Bespitzelung von Tierrechtsaktivist_innen profitierten, was Kennedy europaweit tat.18 Die Firma „Global Open“ spielte eine Rolle bei Paul Mercers Infiltration der „Campaign Against the Arms Trade“19 und stellte später Mark Kennedy ein.

Kennedy erwähnte auch seine Spionagetätigkeit für das FBI und die US-Sicherheitsfirma „Densus Group“, als er 2013 vor dem „UK Home Affairs Select Committee“ aussagte. Das Sprungbrett von öffentlich ausgebildeten Spionagepolizisten, die in der Privatwirtschaft arbeiten, ist gut dokumentiert.

Ein Beispiel ist der Fall der irischen „Shell-to-Sea-Kampagne“20 : Hier wurden lokale Landwirte und Aktivist_innen nicht nur vom britischen Spycop Kennedy infiltriert, sondern die Firma „Shell Oil“ heuerte auch lokale Polizisten als Sicherheitschefs an und beschenkte die lokale Polizei mit großen Mengen an Alkohol, als diese gegen Aktivist_innen vorging, die gegen eine Shell-Erschließung im Westen Irlands protestierten.21

Verfahren in Deutschland

In Deutschland findet derzeit ein Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Schwerin statt, in dem es um die Spitzeltätigkeiten Kennedys während des G8-Gipfels im Jahr 2007 in Heiligendamm geht. Es soll gerichtlich festgestellt werden, dass der dortige Einsatz Kennedys gegen Kirkpatrick rechtswidrig war. Nach Aussage der Rechtsanwältin Anna Luczak stehen die Erfolgsaussichten der Klage gut, weil auch das LKA vor Gericht den ausschließlich legalen Aktivitäten Kirkpatricks rund um den G8-Gipfel nicht widersprochen habe.22

Zu beantworten bleibt, wer den britischen Polizisten Kennedy nach Deutschland geholt hat und ob es weiterhin Spionagepolizisten geben wird, die über Grenzen hinweg unter dem Schutz von Politik und Justiz Grundrechte verletzen. Deutsche Gerichtsverfahren und die britische „Undercover Policing Inquiry“ werden historisch als Indikatoren dafür zu werten sein, wie sehr diese Staaten die Rechte ihrer Bürger_innen respektieren. Wir werden das beobachten.