Skip to main content

Spanien: „Antifascistas“

Miquel Ramos übersetzt und lektoriert vom AIB
Einleitung

Ein Buch über Kämpfe gegen die extreme Rechte in Spanien seit den 1990er Jahren.

Bild: Ausschnitt Buch-Titel

Zwei Monate nach dem rassistischen Pogrom in Rostock-Lichtenhagen wurde 1992 Lucrecia Pérez1 in Madrid ermordet. Lucrecia war eine schwarze Migrantin, die in einem verlassenen Gebäude lebte. Ein Neonazi-Kommando, angeführt von einem Agenten der Guardia Civil, schoss aus nächster Nähe auf mehrere Personen, die bei Kerzenlicht zu Abend aßen und verletzte Lucrecia dabei tödlich. Am Tag nach der Ermordung von Lucrecia ermordeten Neonazis Silvio Meier in Berlin. Wenige Monate später töteten Neonazis einige Kilometer von meiner Stadt Valencia (Spanien) entfernt den jungen Antifaschisten Guillem Agulló2 . Ich war damals 14 Jahre alt und diese sowie andere Nachrichten über neonazistische Gewalt motivierten mich, die Nachrichten aus den Zeitungen auszuschneiden und ein umfangreiches Archiv anzulegen, zu einer Zeit, als es noch kein Internet gab.

Nach Francos Tod und dem Amnestiegesetz, das die Freilassung politischer Gefangener ermöglichte und im Gegenzug die Straffreiheit von Völkermördern, Folterern und Regimeangehörigen sicherstellte, war Spanien Ende der 1970er Jahre von einer Diktatur zu einer so genannten Demokratie übergegangen. In den 1980er Jahren herrschte in Spanien ein Klima, in dem neofaschistische Banden und Bürgerwehren Linke mit Gewalt ungestraft angreifen konnten, ehemalige Nazi-Kriegsverbrecher wie Leon Degrelle3 weiterhin unbehelligt lebten und im Zentrum Madrids Ehrungen für Hitler stattfanden.

Erst in den 1990er Jahren fühlte sich eine neue Generation junger Menschen mehr mit den sozialen und politischen Bewegungen im übrigen Europa verbunden. Die ersten (rechten) Skinhead-Banden, Fußball-Ultras und neofaschistischen Gruppen entstanden. Auf der anderen Seite standen die linksradikalen Gruppen, die Gebäude besetzten und soziale Zentren errichteten, antimilitaristische und erste antifaschistische Gruppen begannen auf neonazistische Gewalt zu reagieren.

Bei meinen Besuchen der sozialen Zentren in den 1990er Jahren in Valencia lernte ich die dort stattfindenden Kämpfe kennen, zu denen immer auch der Antifaschismus gehörte zunächst als Selbstverteidigung und dann in der Offensive. In meinem Buch4 interviewe ich Menschen aus verschiedenen Städten Spaniens, die an all diesen Bewegungen bis heute teilgenommen haben und ihre Strategien an Veränderungen anpassen mussten, die die spanische extreme Rechte durchlebte: von den franquistischen und revanchistischen Gruppen über neonazistische Banden, erste extrem rechte Parteien Mitte der 1990er Jahre und die neofaschistischen sozialen Bewegungen der letzten 15 Jahre.

Die Hassverbrechen, die Anfang der 1990er Jahre die Öffentlichkeit erschütterten, wurden von der Politik als Gewalttaten unter Jugendlichen bagatellisiert, wodurch die neonazistische Komponente in den meisten Fällen außen vor blieb. Dasselbe geschah mit neofaschistischen Anschlägen oder antifaschistischen Demonstrationen: Für Presse und Politik waren dies stets Kämpfe zwischen verschiedenen Gangs bzw. gewaltbereiten Jugendlichen.

Im Buch werden diese Ereignisse mit Nachrichtenberichten und Statements aus der Politik der damaligen Zeit ausführlich dokumentiert. Ein Kapitel ist dem Versuch gewidmet, zwei Journalisten kurz nach der Ermordung des jungen Antifaschisten Carlos Palomino im Jahr 2007 in antifaschistische Gruppen in Madrid einzuschleusen. In diesem Fall wurden die Journalisten enttarnt.

Die Geschichte des Antifaschismus ist, wie überall durch zahlreiche Kämpfe geprägt, von denen einige bis heute kaum über die eigene Szene hinaus bekannt sind. Die Organisierung junger Schwarzer in verschiedenen Städten der frühen 1990er Jahren rund um die Hip-Hop-Kultur und Antifaschismus, die feministischen und LGBTI-Gruppen, die in sozialen Zentren entstanden sind sowie die Rolle von Musik und der historischen Erinnerung gegen den Franquismus sind neben anderen Themen ein Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung einer neuen antifaschistischen Kultur im Spanien der letzten 30 Jahre. Auch die Fortsetzung des bewaffneten Kampfes bis vor zehn Jahren, als die ETA die Einstellung der Gewalt verkündete sowie der Staatsterrorismus und die bis heute andauernde Kriminalisierung der Linken unter dem Schreckgespenst des Terrorismus sind wichtige Faktoren, die das politische Handeln über Jahre hinweg bestimmt haben.

Während Neonazi-Banden mit äußerster Brutalität meist straffrei agieren konnten, konzentrierten sich die Behörden auf radikale linke Gruppen, die auf neofaschistische Gewalt reagierten und die Stadtplanung durch Hausbesetzungen und Kleingärten störten, um der Spekulation während des Immobilienbooms der späten 1990er Jahre entgegenzutreten. Polizeieinsätze gegen anarchistische Gruppen, die ständigen Räumungen und willkürlichen Verhaftungen von linken Aktivist_innen, die Monate und Jahre in Untersuchungshaft verbringen mussten, stehen im krassen Gegensatz zu den wenigen Verurteilungen von Neonazis für Gewalttaten und Waffenbesitz.

Durch seine Protagonist_innen wirft das Buch einen Blick auf die Debatten, mit denen antifaschistische Aktivist_innen und andere soziale Bewegungen bis heute konfrontiert sind: Gewaltanwendung, Bündnisse, Haltung gegenüber Medien und Politikern sowie die verschiedenen Strategien angesichts der Entwicklung der extremen Rechten. Wie soll ein Nazi-Buchladen bekämpft werden? Was tun wir, wenn Neonazis Lebensmittel ausliefern? Sollten wir die Kundgebungen extrem rechter Parteien boykottieren, die von Dutzenden von Polizist_innen geschützt werden? Sollten neofaschistische Angriffe vor Gericht angezeigt werden? Ist die Gesetzgebung gegen Hasskriminalität für den Antifaschismus nützlich, wenn sie auch zu dessen Unterdrückung dient? Diese und viele andere Fragen werden in dem Buch aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, um die Debatten anzuregen und die besten Strategien für den jeweiligen Kontext zu finden.

Mit der Aufnahme der VOX5 in die Institutionen im Jahr 2018 war Spanien nicht mehr die europäische Ausnahme. Bis dahin gab es keine institutionelle Vertretung der extremen Rechten, abgesehen von einer Handvoll Ratsmitglieder in wenigen Städten, die lediglich sporadisch auftraten. Das bedeutet nicht, dass es keine extreme Rechte gab, deren Mehrheit bis dahin für die wichtigste rechte Partei, die PP6 gestimmt hatte. Einige Mitglieder sahen in VOX eine Chance und schlossen sich an. Bei den spanischen Parlamentswahlen im Jahr 2009 erzielte VOX 52 Mandate. Seitdem wurde der „Kulturkampf“ der extremen Rechten normalisiert, der nicht nur in der öffentlichen Debatte, sondern auch in den Mainstream-Medien mit den Begriffen Rassismus, Unsicherheit, Islamophobie, Sexismus, Homophobie tagtäglich präsent ist.

Dagegen konnten Journalist_innen in den letzten Jahren entscheidend dazu beitragen, die Strategien der extremen Rechten zu entlarven und Verschwörungsmythen aufzudecken. Die Rolle des Journalismus in diesem und anderen Kämpfen ist immer ein entscheidender Faktor, ob er Teil des Problems oder ein Verbündeter ist.

In Erwartung der nächsten Wahlen im Jahr 2023 und des Verlaufs der Ereignisse in einem internationalen Kontext, der von Krieg, einer Wirtschafts- und einer Umweltkrise erschüttert wird, bereiten sich die Neofaschisten darauf vor, die Institutionen zu  stürmen und erneut auf die Straße zu gehen in ihrem „Kulturkampf“ gegen das, was sie „politische Korrektheit“ oder „Kulturmarxismus“ nennen. In diesem Kampf reichen Demonstrationen allein nicht mehr aus, sondern es bedarf vieler Bündnisse und eines Minimalkonsenses, um der Bestie in all ihren Formen und auf allen Ebenen zu begegnen.

Das Buch „Antifascistas“ versucht, die jüngsten Erfahrungen aufzuarbeiten, um daraus zu lernen und sich der Zukunft zu stellen sowie all jene Menschen zu würdigen, die ihr Leben, ihre körperliche Unversehrtheit und ihre Freiheit für die Verteidigung der Rechte aller Menschen riskiert haben.

Das Buch: „Antifascistas. Wie die spanische extreme Rechte seit den 1990er Jahren bekämpft wird“ erschien am 19. April 2022 im Capitán Swing Verlag. Eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor.

  • 1Lucrecia Pérez gilt als erste migrantische ermordete Person in Spanien.
  • 2Guillem Agulló i Salvador (1974 - 1993) war ein junger Aktivist der linken valencianischen Unabhängigkeits-Bewegung. In den frühen Morgenstunden des 11. April 1993 wurde er in seinem Heimatort Montanejos durch Messerstiche ermordet. Zahlreiche linke Organisationen gingen von einem politischen Tatmotiv aus, da die für den Mord Verantwortlichen für ihre extrem rechte Ideologie bekannt waren. Im Prozess 1995 in Castellón de la Plana verurteilte ein Richter den Angeklagten und geständigen Täter, Pedro Cuevas, wegen Mordes zu 14 Jahren Gefängnis und sprach die übrigen Mitglieder der Gruppe frei. Die Richter des Provinzgerichts wiesen die Behauptung der Staatsanwaltschaft zurück, es habe sich um ein politisches Attentat gehandelt und reduzierten die Tat auf eine Schlägerei unter Jugendlichen, sodass nur 14 Jahre Gefängnis herauskamen. Späteren Zeugenaussagen zufolge sangen die Angreifer nach dem Mord jedoch das Faschisten-Lied „Cara al sol“ (Gesicht in der Sonne) und machten den faschistischen Gruß. Nach Angaben von Guillem Agullós Vater war es ein Mitglied der extrem rechten Gruppe “Acción Radical de Burjasot“, der die Angreifer über die Anwesenheit seines Sohnes in Montanejos informierte. Zu dieser Gruppe gehörte von 2004 bis 2018 der Vorsitzende der extrem rechten Partei “Democracia Nacional“ (DN), Manuel Canduela. Laut dem Vater von Guillem hatte ein Freund seines Sohnes ihm berichtet, er werde von Neonazi-Gruppen bedroht und habe deshalb schon darüber  nachgedacht, Valencia zu verlassen. Der Mörder Pedro Cuevas wurde nach vier Jahren Haft wegen guter Führung aus dem Gefängnis entlassen. Bei den Kommunalwahlen 2007 kandidierte er auf der Liste der extrem rechten Partei "Nationale Allianz". Ein weiterer Beteiligter, Manuel Canduela, war von 2004 bis 2018 Präsident der DN-Partei. Im Jahr 2005, zwei Jahre vor seiner Kandidatur, wurde Pedro Cuevas im Rahmen der so genannten „Operation Panzer“ verhaftet, bei der ein Neonazi-Netzwerk ausgehoben wurde, das unter dem Namen “Frente Antisistema“ (Anti-System-Front, FAS) operierte. Die Guardia Civil beschlagnahmte in seiner Wohnung 40 Hakenkreuz-Armbinden, einen Nazidolch und Schlagringe sowie Gussformen zur Herstellung von Schnallen mit dem Kürzel SS.
  • 3Leon Degrelle: belgischer Offizier der Waffen-SS.
  • 4„Antifascistas: así se combatió a la extrema derecha española desde los años 90“ (Capitán Swing, 2022).
  • 5VOX: nationalkonservative, rechtspopulistische und europaskeptische Partei in Spanien, die bei den Regionalwahlen in Andalusien 2018 erstmals in das Regionalparlament einziehen konnte
  • 6PP: konservative und christdemokratische Partido Popular, die spanische Volkspartei