Willkommen beim Tribunal „NSU-Komplex auflösen“
Massimo PerinelliZusammen mit Initiativen, die bundesweit gemeinsam mit den Angehörigen des NSU-Terrors um Wahrheit und Gerechtigkeit kämpfen, wurde der Mut gefunden, ein Tribunal einzuberufen. Im Mai 2017 werden während fünf Tagen in den Räumen des Schauspiels in Köln-Mülheim folgende Dinge geschehen: Rassismus wird als etwas entlarvt, das vergeblich versucht, die Migrantisierung und damit Demokratisierung unserer Gesellschaft rückgängig zu machen. Das Tribunal wird zeigen, dass Rassismus weder pathologisch noch ahistorisch ist, sondern überwindbar und funktional. Dafür laden wir Personen und Gruppen ein, die jenseits vom NSU seit Jahren aus ihrer spezifischen Situation heraus gegen Rassismus kämpfen. Sie bringen ihre Erfahrungen ein, kontextualisieren das Geschehen und setzen die unterschiedlichen Kämpfe miteinander ins Verhältnis.
Vor allem wird der NSU-Komplex angeklagt, seine Strukturen und seine Verantwortlichen benannt. Diejenigen, die sich der Beihilfe, Unterstützung, Verschleierung, Stigmatisierung und Lüge schuldig gemacht haben, werden benannt und angeklagt. Die Gesellschaft wird ein Urteil für sie finden durch neue Ermittlungsverfahren, kritische Distanzierungen, Dienstaufsichtsbeschwerden, Kündigungen, Ächtungen...
Zentral steht jedoch das Wissen der Betroffenen im NSU-Komplex. Sie erzählen ihre Geschichten, formulieren Analysen, stellen Forderungen und verleihen ihrer Wut, ihrer Trauer und ihrer Hoffnung Ausdruck. Das Ziel ist es, bei künftigen Angriffen und Diffamierungen die Perspektive derjenigen zentral zu stellen, die das Muster des strukturellen Rassismus erkennen, wenn es ihnen begegnet, und die die Regeln des schmutzigen Spiels, das mit ihnen getrieben wird, ausbuchstabieren können. Ihre Rechte zu verteidigen und damit die Gesellschaft der Vielen zu stärken, soll das Signal des Tribunals sein.
Das Tribunal steht für die Überwindung der rassistischen Spaltung — auch innerhalb der Linken. Das ist nicht selbstverständlich. Als sich Ende der 1990er Jahre Teile der Neonazi-Szene in Strategiepapieren mit „terroristischem Untergrundkampf“ auseinandersetzten, in kleinen Zellen organisierten, bewaffneten und über RechtsRock-Vertrieb finanzierten, wurde dies von Antifa-Aktivist_innen beobachtet und öffentlich thematisiert. Außer dem Verfassungsschutz interessierten diese alarmierenden Berichte jedoch kaum jemanden. Der VS reagierte hingegen mit einer gezielten Verharmlosung der rechten Szene. Ein Bericht nach dem anderen leugnete die Möglichkeit eines „rechtsextremen Terrorismus“: Zu dumm, zu unpolitisch und zum organisierten Handeln nicht fähig, schrieben jene Beamte aus den Geheimdiensten, die gleichzeitig die Strukturen, aus denen der NSU hervorging, mit Sorgfalt betreuten. Als die Morde dann losgingen, wurde dies jedoch weder von altgedienten Antirassist_innen noch von Antifas verstanden.
Obwohl es anfänglich sogar Stimmen gab, die etwa im Falle der Nagelbombe auf der Kölner Keupstraße 2004 den richtigen Schluss zogen und schrieben, dass „viele Indizien (…) allerdings in die Richtung eines fremdenfeindlichen Motiv weisen“ und die Frage aufwarfen, warum „Ermittlungen gerade in diese Richtung verhindert werden sollen“, fanden sie keinen Weg der Solidarität.1 Die Jungle World schrieb nur einen Monat nach dem Anschlag, dass „der mutmaßliche Täter mit den blonden Haaren unter der Baseballkappe (…) gewusst haben (muss), dass hauptsächlich Migrantinnen und Migranten seinem Anschlag zum Opfer fallen würden. (…) Da der Anschlag ausgerechnet hier geschah, ist eine rassistische Botschaft der Bombe nicht auszuschließen.“2 Der Artikel verweist auf die Zeugenaussage von Hassan Yilderim, dem Kuaför auf der Keupstraße, der sah, wie der Täter das Fahrrad vor seinem Laden abstellte und ihn als einen Deutschen beschrieb. Trotz all dieser präzisen Schlussfolgerungen gelang es der deutschen Linken nicht, den entscheidenden Schritt zu machen und mit den Betroffenen selber Kontakt aufzunehmen. Tragisch, denn dann hätten sie entdecken können, dass diese zunächst durchgängig davon sprachen, dass es sich nur um einen rassistischen Anschlag gehandelt haben könne. Erst die jahrelange Stigmatisierung, die sie durch die Opfer-Täter-Umkehrung erleiden mussten, brachte ihr Reden in den späten 2000er Jahren zum Schweigen.
Auch die Angehörigen der Mordopfer erkannten das rassistische Muster der Mordserie und prangerten es öffentlich an. Die Familien Yozgat, Şimşek und Kubaşık organisierten unmittelbar nach den Morden an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat zwei Demonstrationen in Kassel und Dortmund. Mehrere tausend türkische Menschen forderten den Staat auf, das Morden zu beenden und die Täter endlich festzunehmen, aber die deutsche Linke ignorierte diesen eigentlich nicht zu übersehenden Protest. Trotz gleicher Analyse zwischen Antifa-Recherche und migrantisch situiertem Wissen gelang es nicht, miteinander ins Gespräch zu kommen. Dies ist ein folgenreiches Unvermögen, das seinen Ursprung in der nationalen Verfasstheit der deutschen radikalen Linken findet. Auch ihnen sind migrantische Lebenswelten fremd.
Erst Jahre später nach der Selbstenttarnung des NSU wurde diese Spaltung überwunden — von den betroffenen Migrant_innen. Als 2011 die Kölner Antifa — die ersten, die auf die Selbstenttarnung des NSU reagierten — nach der Enttarnung des NSU eine Demo durch die Keupstraße durchführen wollte, ohne im Vorfeld mit den Menschen dieser türkisch geprägten Geschäfts- und Ladenstraße zu sprechen, stellte sich ihnen der Vorsitzende der IG-Keupstraße, Mitat Özdemir, in den Weg und verlangte eine Erklärung. Aus dieser erzwungenen Begegnung entwickelte sich ein Dialog, der schließlich, nach unzähligen Treffen, Veranstaltungen und Gesprächen in einer kontinuierlichen solidarischen Zusammenarbeit mündete, die Seltenheit in diesem Land besitzt. In Köln entstand aus Antifagruppen, Antira-Aktivist_innen, Anwohner_innen und Betroffenen die Initiative „Keupstraße ist überall“, der es gelang, die ungute Arbeitsteilung aus Anti-Nazi-Kampf, antirassistischen Paternalismus, migrantischer Isolation und akademischen Elitismus zu überwinden und in ein solidarisches Projekt zu überführen.
Daraus wurde die Kraft gewonnen, der Stigmatisierung der Opfer eine andere Vision entgegenzusetzen und ein migrantisch situiertes Wissen in die Öffentlichkeit sowie an die Orte der vermeintlichen Aufklärung zu tragen und dort zu verstärken. Diese solidarische Allianz ist einmalig in diesem Land. Sie hat es in den letzten drei Jahren nicht nur geschafft, den NSU-Komplex in seiner gesamten gesellschaftlichen Dimension zu begreifen, sondern auch die Kontinuität der rassistischen Anschläge vor und nach 1989 zu re-thematisieren und auch hier die Aufklärung voranzutreiben. Vor allem aber wurde deutlich, was es heißt, wenn die postmigrantische Gesellschaft der Vielen sich gegen den strukturellen Rassismus formiert und diesen herausfordert.
Diese Herausforderung hat seinen vorläufigen Höhepunkt darin gefunden, den NSU-Komplex nun selber aufzuklären und anzuklagen:
Wir klagen. Wir klagen um die Opfer, die fehlen; und um diejenigen, die jahrelang bis heute so viel Leid und Demütigung ertragen mussten.
Wir klagen an, denn der Schmerz verlangt eine Konsequenz. Das Tribunal wird die Namen und Taten der Verantwortlichen unüberhörbar in den öffentlichen Raum transportieren, auf dass die Gesellschaft über sie befinden und ein Urteil über sie fällen möge.
Wir klagen ein. Wir klagen eine andere Realität ein, eine solidarische Gesellschaft, die diese Verhältnisse demokratisieren kann und es seit Jahrzehnten bereits tut.
Wir werden zeigen, dass Rassismus uns nicht nur trennt, sondern dass er auch alle miteinander verbindet, die von gesellschaftlicher Stigmatisierung betroffen sind. Die Botschaft lautet: wir bleiben, wir verändern, wir demokratisieren, wir schaffen eine Gesellschaft der Vielen.
Beteiligt euch an der Klage, beteiligt euch am Tribunal. Kommt in die Räume des Schauspiels Köln vom 17.—21 Mai 2017
#TRBNL