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Schwieriges Erinnern in Rostock

Einleitung

Das Gedenken an Mehmet Turgut

Drei Jahre nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU), zum 10. Todestag von Mehmet Turgut gedenkt die Stadt Rostock offiziell dem Opfer der Terrorgruppe. Damit reiht sich die Stadt als Letzte in das offizielle Gedenken der sieben Städte ein, in denen der NSU mordete. Mehmet Turgut war 25 Jahre alt, als er am Vormittag des 25. Februar 2004 mit drei Schüssen in einem Imbiss in Rostock-Toitenwinkel hingerichtet wurde. Bis zur Selbstenttarnung des NSU glaubten weder Ermittlungsbehörden noch Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit an einen rassistischen Hintergrund der Morde. Einzig die migrantische Community stellte die Mordserie in einen rassistischen Kontext und gedachte bereits 2006 der Opfer. Wie auch andernorts wurde in Rostock hingegen das Umfeld des Ermordeten selbst der Tat beschuldigt, verhört, überwacht und abgeschoben. Die Nichtachtung der Opfer ging in Rostock jedoch noch weiter. Mehmet Turgut führte zum Zeitpunkt seines Auffindens den Pass mit dem Namen seines älteren Bruders Yunus Turgut bei sich. Obwohl die Ermittlungsbehörden bereits 2004 wussten, dass es sich bei dem Ermordeten um Mehmet Turgut und nicht um seinen Bruder handelte, hielten sie an der Vertauschung der Namen fest.

Der städtische Gedenkdiskurs zu Mehmet Turgut in Rostock beginnt im April 2012, als die Oberbürgermeister_innen der Städte Nürnberg, Hamburg, München, Dortmund, Kassel, Heilbronn und Rostock eine gemeinsame Erklärung zum „Gedenken und Mahnung“ an die Opfer des NSU beschlossen. In der Erklärung werden die neun Morde an Migranten und einer Polizistin als „neonazistische Verbrechen“ aufgrund von „Menschenverachtung“ benannt sowie die fehlende Sensibilität von Ermittlungsbehörden und Gesellschaft als bestürzend und beschämend bezeichnet. Bestürzend und beschämend war auch das, was dann in Rostock passierte. Von Seiten der linken Zivilgesellschaft wurde der Vorschlag eingebracht, die Straße des Tatortes in Mehmet-Turgut-Weg umzubenennen, um zu mahnen und Solidarität mit den Hinterbliebenen auszudrücken. Die Umbenennung konnte jedoch nicht ohne die Zustimmung der anliegenden Ortsbeiräte erfolgen.

Wer nicht will, findet Gründe

Reflexartig wehrten sich Kommunalpolitiker_innen und Anwohner_innen gegen ein solches Vorhaben. Sie seien nicht Schuld an dem Mord gewesen und würden daher ein zentral gelegenes Gedenken in der Innenstadt von Rostock vorziehen. Der Zugang für Tourist_innen scheint in der Argumentation wertvoller zu sein, als das Erinnern vor Ort. Gerade die Suche nach Gründen, die eine Vermeidung einer aktiven Auseinandersetzung im Stadtteil stützen, offenbart die alltagsrassistische Dimension der Gedenkdiskussion. Die Ostseezeitung (OZ) zitiert im Mai 2012 eine Anwohnerin mit den Worten: „Würde die Straße umbenannt, machen wir Turgut zu einem Opfer erster Klasse (…).“ Im Ortsbeirat Dierkow-Ost / Dierkow-West wurde man noch deutlicher: Man würde die Tat überbewerten und Opfer anderer Straftaten dadurch zurücksetzen. Insbesondere gegen die exponierte Nennung von Opfern neonazistischer Gewalt wurde sich gewehrt: „Opfer von linker Gewalt oder Ausländern werden nirgends aufgeführt“1 . Um sich dem rassistischen Mord nicht stellen zu müssen, der in der Nachbarschaft stattfand, wurden Nebelkerzen gezündet und sich in Diskussionen über hypothetische Fälle geflüchtet. Für das Abwehren einer Auseinandersetzung wird schließlich auch dankbar auf die Namensverwechslung des Opfers verwiesen. Eine Straßenumbenennung käme solange nicht in Frage, bis man nicht mehr über Mehmet Turgut wisse.

Schließlich meldete sich noch der nicht zuständige Ortsbeirat des benachbarten Dierkow-Neu zu Wort. In diesem Stadtteil liegt die Ilja-Ehrenburg-Straße, die regelmäßig von Neonazis und CDU für Propagandazwecke missbraucht wird. So schlug der Vorsitzende des Ortsbeirates Martin Lau (CDU) vor, die Ilja-Ehrenburg-Straße nach Mehmet Turgut umzubenennen und begründete es als historisch sinnvoll, wenn die Ilja-Ehrenburg-Straße den Namen eines Opfers von Gewalt trüge (OZ, 3.4.2012). Unter dem Deckmantel von historischer Sinnhaftigkeit wird so Geschichtsrevisionismus betrieben. (Siehe Kasten)

Passivität oder demokratischer Prozess?

Überlagert wurde die Auseinandersetzung um das Erinnern an Mehmet Turgut im Jahr 2012 durch einen anderen Gedenkdiskurs, den um den Umgang mit dem Pogrom von Lichtenhagen im Jahr 1992. Die städtischen Aktivitäten zum 20. Jahrestag wurden nicht zuletzt nach dem medienwirksamen Fall der „deutschen Eiche“ auf Seiten der Lokalpolitik als Misserfolg angesehen. Als Reaktion beauftragte die Bürgerschaft eine Arbeitsgruppe, die beratend neue Konzepte zum Erinnern an Lichtenhagen ‘92 entwickeln sollte. Immerhin erkannt, dass dem Pogrom und dem Mord an Mehmet Turgut ein und dasselbe Motiv zugrunde liegt, wurde kurzerhand auch das Gedenken an das NSU-Opfer in die AG ausgelagert. Die Mitarbeit zivilgesellschaftlicher Akteure in dem lediglich beratenden Gremium erwies sich als echte Pseudo-Partizipation. Im Wesentlichen bestimmte die CDU-Politikerin Karina Jens (Präsidentin der Bürgerschaft und Vorsitzende der AG Gedenken) die Agenda. Als demokratischer Weg verkauft, beginnt die Kommunalpolitik mit der Entwicklung eines eigenen Gedenktextes. Ausgehend von Kritik an einer sprachlichen Formulierung der OB-Erklärung wird schließlich im Juni 2013 ein neuer Text beschlossen. Er beginnt mit dem ersten Artikel der Menschrechtserklärung, worauf folgt: „In Gedenken an Mehmet Turgut, der hier am 25. Februar 2004 dem menschenverachtenden, rechtsextremistischen Terror einer bundesweiten Mordserie zum Opfer fiel.“ Aus Sorge um die Verletzung der Unschuldsvermutung, hatte sich die Stadt gegen die Nennung des NSU als TäterInnen entschlossen. Schließlich wolle man sich nicht auf Glatteis begeben, könnten doch Mitglieder des NSU gegen solch eine Kontextualisierung juristische Schritte einleiten. Gänzlich unbenannt bleibt auch das rassistische Motiv. Mit der Begründung im „Rechtsextremismus“-Begriff sei Rassismus per definitionem inbegriffen, wird das Problem Rassismus von der Mitte der Gesellschaft ausschließlich an den rechten Rand verlagert.

Rostock als Stadt der Opfer

Das Motiv, das sich in solch einer Darstellung der TäterInnengruppen widerspiegelt, ist in Rostock kein unbekanntes. Bereits in der kollektiven Erinnerung des Pogroms von Lichtenhagen findet eine Externalisierung der TäterInnen als Zugereiste statt. Die Bürgerschaftsvorsitzende von Rostock hat für Bedenken der Bürger_innen Verständnis, die Angst vor einer Stigmatisierung als Täter_innen haben. Sie betont, dass weder Mehmet Turgut noch der NSU Bürger_innen der Stadt gewesen seien. Die Frage inwieweit lokale Strukturen in das Verbrechen verwickelt waren, gerät bereits jetzt in Vergessenheit.

Auch wenn die Stadt nun einen offiziellen Gedenkort eingeweiht hat, so zeigte sich bereits in diesem Einweihungsakt ihr Alltagsrassismus. In der Rede des Oberbürgermeisters und der Präsidentin der Bürgerschaft wurde sich auf das „Fremde“ bezogen und der in den Reden thematisierte Ausschluss des Opfers aus der Gesellschaft so posthum fortgesetzt. Keine bzw. keiner der Redner_innen, außer der türkische Botschafter und die Brüder Turgut, waren in der Lage, den Namen des Mordopfers richtig zu benennen. Ihre fehlende Auseinandersetzung mit der Thematik offenbarte sich stattdessen in Ansprachen wie „Herr Mehmet“, gerichtet an die Brüder Turgut.

Der fehlende Wille zur Auseinandersetzung spiegelt sich schließlich auch in der Gestaltung des Gedenkortes wieder. Die zwei Bänke eines Leipziger Künstlers enthalten den Rostocker Gedenktext in Deutsch und Türkisch und sind so aufgestellt, dass die Sonne zur Tatzeit parallel zu den Beton-Bänken verläuft. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass die Bänke auf Dialog setzen und ein „leises“ nicht konfrontatives Gedenken ermöglichen. Mit der Entscheidung für eine solche Gestaltung des Mahnmals wird eine folgenlose Erinnerung begünstigt, die nichts von den Rostocker_innen verlangt. Gedenken soll nicht wehtun und keine Auseinandersetzung erzwingen. Rostock ist – wieder mal - keine Stadt der Täter, sondern der Opfer.



Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg (1891–1967)

Ilja Ehrenburg war ein jüdisch-sowjetischer Schriftsteller, Publizist, Übersetzer und Dichter.  Er engagierte sich für die Verteidigung der Kultur gegen den Faschismus, im Jüdischen Antifaschistischen Komitee der Sowjetunion und war an der Herausgabe des „Schwarzbuchs“ über den Genozid der deutschen Eroberer an den sowjetischen Juden beteiligt. In den 1950er und 1960er Jahren war er ein führender Kopf der Friedensbewegung. Gegenstand der Auseinandersetzung um Ilja Ehrenburg ist insbesondere seine Kriegspublizistik. Von Geschichtsrevisionisten wird Ehrenburg vorgeworfen, er sei Stalinist und „Deutschenhasser“ gewesen. Bereits 2001 marschierten mehrere hundert Neonazis für die Umbenennung der Straße in Rostock-Toitenwinkel auf. Seither wird alle Jahre das Thema von der CDU und Neonazis auf die Agenda gesetzt.

  • 1Auszug aus der Niederschrift der Sitzung des Ortsbeirates Dierkow-Ost, Dierkow-West vom 08.05.2012