Bückeburger Verhältnisse
Im niedersächsischen Landkreis Schaumburg befindet sich die Residenzstadt Bückeburg mit dem Sitz des niedersächsischen Staatsgerichtshofes, des Landkreisamtes und des Landgerichts. In diesem Landkreis konnten über Jahrzehnte hinweg neonazistische Gruppen und Strukturen meist ungestört agieren und sich verfestigen. In den 1970er und 1980er Jahren waren es vor allem JN- und NPD-Strukturen, die in der Öffentlichkeit ein gewalttätiges Straßenbild prägten, in den Jahren 2000 bis 2007 vor allem freie Kameradschaften, die Antifaschist_innen und Andersdenkende bedrohten, verprügelten oder sogar entführten. Bis heute sind die freien Kameradschaften ein fester Bestandteil der bundes- und insbesondere der norddeutschen Neonaziszene. Im Jahr 2011 organisierten sie den größten Neonaziaufmarsch Norddeutschlands mit internationaler Beteiligung.
Bückeburg auf dem Weg zur „national befreiten Zone“?
Die Repression gegen die extreme Rechte und deren militante Strukturen während des von der Bundesregierung inszenierten „Antifa Sommers 2000“ erzeugte zwar temporäre Ruhepausen und strukturelle Veränderungen. Jedoch erkannten die Neonazis sehr schnell, wie sie der Repression ausweichen und sich reorganisieren konnten. Bis ins Jahr 2007 wurden Staatsanwälte und Polizeibehörden im Landkreis Schaumburg selbst Zielscheibe der extremen Rechten. Einschüchterungen und Bedrohungen an Wohnungen und Arbeitsplätzen waren keine Seltenheit. Als die Kader der Nationalen Offensive Schaumburg (NOS) und ihr Mitbegründer Marcus Winter (vgl. AIB Nr. 79) Bewährungs- und Haftstrafen antreten mussten, änderte sich zum wiederholten Mal die Strategie der Kameradschaft. Die alten Mitglieder hielten sich im Hintergrund und organisierten die Gründung neuer Gruppen mit jüngeren Neonazis.
2008 gründeten junge Neonazis mit Unterstützung alter Kader die „Aktionsgruppe Bückeburg“. Wie bereits bei anderen Schaumburger Kameradschaften setzten sich die Mitglieder nicht nur aus Bückeburg, sondern auch aus den benachbarten Ortschaften zusammen. Die Bückeburger Szene wurde so attraktiv, dass Neonazikader wie Christian W. (Barsinghausen) und Daniel Bake (Ahlen) ins Schaumburger Land zogen. Sie unterstützten und erweiterten die hiesigen Strukturen. Beistand erhielt die „Aktionsgruppe Bückeburg“ durch den Hannoveraner Neonazizirkel „Für ein besseres Hannover“. Ab 2011 traten sie unter dem Namen „Autonome Nationalisten Bückeburg“ auf. Mit dem Ziel, eine „national befreite Zone“ zu errichten, kam es zu gezielten Einschüchterungsversuchen und brutalen Angriffen auf alternative Jugendliche und Antifaschist_innen. Durch ein Klima der Angst prägten die Neonazis die Stadt. Besonders für jugendliche Andersdenkende wurde jede Teilnahme am öffentlichen Leben, sogar der Schulbesuch, gefährlich.
Gegenwehr 2012 / Extremismustheorie vs. antifaschistischer Widerstand
Erst als sich ein antifaschistischer Selbstschutz organisierte, der den Neonazis auch auf der Straße Paroli bot, wandelten sich die Verhältnisse. Die Intervention der Antifa-Zusammenhänge sorgte für mehr Sicherheit und Bewegungsfreiheit für alternative Jugendliche in Bückeburg, gleichzeitig erregten die Auseinandersetzungen mediales und polizeiliches Interesse. Wurde in den Vorjahren Neonazigewalt durch Stadtverwaltung und Polizei eher verharmlost und ein akutes Problem geleugnet, so konnte dies durch das nun überregionale Interesse nicht mehr verschwiegen werden.
Die unter Druck geratene Stadt und ihre rechtlichen Organe sahen plötzlich den bürgerlichen Ruf ihrer Residenzstadt gefährdet. Als Neonazihochburg sollte Bückeburg nicht wahrgenommen werden und Bürger_innen und Tourist_innen sollten sich sicher fühlen.
Die Lösungsstrategie der Stadt war es dann, die notwendige Opposition gegen die Neonazis als Rechts-Links-Konflikt darzustellen. Die Neonazis waren somit nicht mehr Ursache der „Bückeburger Verhältnisse“ und die Eskalation konnte ihren Opfern angelastet werden. Polizei und Justiz formierten sich unter der Extremismustheorie und überzogen die progressiven Jugendlichen mit grotesker Repression, während die Neonazis als vermeintliche Aussteiger und unpolitische Mitläufer verharmlost wurden.
Polizeitaktik 2012 / Bagatellisierung der Neonaziaktionen
Im Juni 2012 wurde Schüler_innen der Herderschule in Bückeburg der von ihrer Politiklehrerin angeforderte Polizeischutz verwehrt. Etwa 20 Neonazis, vermummt mit weißen Masken, störten daraufhin eine Aktion bei der faschistische Propaganda mit antirassistischen Slogans übermalt wurde. Schüler_innen und Lehrerin wurden dabei bedroht und gefilmt.
Nach Anfragen der Presse zur Bedrohungssituation erschien folgendes Statement der Polizei in der Schaumburger Zeitung: „Überhaupt ist Kommissariatsleiter Werner Steding der Meinung, dass diese denkbar harmlosen Botschaften nicht zur Deeskalation der Lage beitragen, da dadurch neue Angriffe aus der rechten Szene provoziert werden. Auch den Straftatbestand der Einschüchterungsversuche sieht Steding nicht gegeben. Der Neonazi-Auftritt sei als eine spontane Demonstration auf öffentlichem Grund zu bewerten. Einen Verstoß gegen das Vermummungsgesetz will er ebenfalls nicht feststellen können, da „Maskerade“ bei „friedlichem Protest“ toleriert werde. Ein Beispiel dafür seien die Aktionen gegen den Castor-Transport."1
Das ist ein gutes Beispiel für die Praxis der Polizei in Bückeburg, volksverhetzende antisemitische Sprühereien nur halbherzig zu verfolgen. Die wenigen Verfahren werden durch die Staatsanwaltschaft meist mit der Begründung eines zu hohen polizeilichen Ermittlungsaufwands, die Täter festzustellen, eingestellt.
Repression 2013 / Kriminalisierung des linken Spektrums
Seit Sommer 2013 patrouilliert die örtliche Polizei unterstützt durch Züge der Einsatzhundertschaft Hannover am Wochenende intensiv durch Bückeburg. Ziel ist es, staatliches Engagement zu zeigen und Ansammlungen von vermeintlichen „Extremisten“ aufzulösen. Doch vor allem bei linken Jugendlichen werden wiederholt die Personalien festgestellt und gesammelt, sie werden durchsucht und Anhaltspunkte für eine Kriminalisierung gesucht. Dabei kommt es immer wieder zu Provokationen durch die Polizei.
Zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit:
Gegen eine Jugendliche kommt es zur Anzeige wegen Beleidigung von Polizeibeamten. In einer ersten Polizeikontrolle trägt sie ein T-Shirt mit dem Aufdruck „FCK CPS“. Die Beamten verwarnen die Jugendliche und fordern sie auf, sich nach Hause zu begeben und das T-Shirt zu wechseln, „da das weitere Zeigen des Kürzels „FCK CPS“ eine fortwährende Beleidigung der in Bückeburg eingesetzten Polizeibeamten darstelle“. Ein paar Tage später wird sie mit einem Button mit der Aufschrift „FCK CPS“ durch die gleichen Beamten kontrolliert, die dann die vermeintliche Ehrverletzung zur Anzeige bringen. Die Jugendliche wird vom Amtsgericht Bückeburg wegen Beleidigung verurteilt. In der Urteilsbegründung heißt es, die Abkürzung „FCK CPS“ habe mittlerweile einen ähnlichen Bekanntheitsgrad wie die hinreichend bekannte Abkürzung „ACAB“, „sodass der beleidigende Inhalt dieses Kürzels außer Frage steht.“ Dass es sich beim Aufdruck „ACAB“, wie vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten im Jahr 20002
entschieden, wohl eher um eine straflose Beleidigung eines Kollektivs handelt, da dieses Kollektiv aufgrund der unüberschaubaren Masse an Polizisten nicht ausreichend definierbar sei, wird vom Amtsgericht Bückeburg mit der Begründung hinweggefegt, dass es sich bei den Polizeibeamten des Polizeikommissariats Bückeburg „mit etwa 25 in Uniform diensttuenden Polizistinnen und Polizisten (...) wegen dessen überschaubarer Größe um eine hinreichend abgrenzbare Gruppe“ handeln würde. Somit gilt für Bückeburg faktisch eine Kleidungsverordnung.
Ein anderer Antifaschist bekommt für Heiligabend ein Aufenthaltsverbot für Bückeburg, angeblich zur Gefahrenabwehr. Die Zustellung der Aufenthaltsverbotsverfügung an seine neue Adresse erfolgte am Morgen des 24. Dezember, zu einem Zeitpunkt, an dem er bereits bei seiner Familie in Schaumburg war. Der Jugendliche war zuvor zur Vermeidung von Auseinandersetzungen mit Neonazis in eine andere Stadt gezogen. Er gilt für die Polizei als wichtige Person der linken Szene. Nach der Familienfeier in einem Dorf im Landkreis will er sich in Bückeburg mit Freunden treffen und wird gegen Mitternacht in einer Kneipe von sechs Polizeibeamten in Gewahrsam genommen. Anschließend lassen ihn die Beamten, die im Streifenwagen nebenher fahren, bis zum Ortsausgangsschild laufen. Von dort muss er dann mehrere Kilometer zu Fuß gehen, um zu seiner Familie zu gelangen.
Ausblick 2014 / Solidarität ist alles
Wie aus den vorherigen Absätzen deutlich wird, verfolgen Exekutive und Judikative im Landkreis Schaumburg, die auch mit der lokalen Politik abgesprochen erscheinende Strategie, Neonazitendenzen als Randproblem darzustellen. Neonaziaktivitäten werden verharmlost und linke Gegenwehr wird kriminalisiert. Dieser Grundgedanke der Extremismustheorie führt nicht zu einer Lösung des Neonaziproblems, sondern zu einer Verschärfung.
Eine breite solidarische Unterstützung für die kriminalisierten Antifaschist_innen im Schaumburgerland ist notwendig!