Kein Schlußstrich in Griechenland
Jan Krüger AK DistomoEindrücke aus Athen und Distomo und der aktuelle Stand zu den griechischen Entschädigungsforderungen gegenüber Deutschland.
218 Namen werden am 10. Juni 2015 in der Gedenkstätte in Distomo verlesen. Es sind die Namen der ermordeten Bewohner_innen des Ortes Distomo, der am 10. Juni 1944 von einer deutschen SS-Einheit im Rahmen der „Partisanenbekämpfung“ überfallen wurde. Das Massaker gilt als eines der schlimmsten Verbrechen des II. Weltkriegs. Die Trauer der Menschen ist spürbar, kaum jemand lebt in Distomo, der oder die keine Angehörigen verloren hat. Jeder Jahrestag wird mit mehrtägigen Feierlichkeiten begangen. Konzerte, Theateraufführungen, politische Veranstaltungen und kirchliche Zeremonien. Am Jahrestag findet die eigentliche Gedenkfeier statt. Nach einem Gottesdienst führt eine Prozession, angeführt von einer Militärkapelle und Fahnenträgern, zu der nahe gelegenen Gedenkstätte, die sich auf einem Hügel am Rande des Ortes befindet. Dieses Jahr nehmen u.a. der griechische Staatspräsident Prokopis Pavlopoulos und die Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou teil.
Seit vielen Jahren besucht der AK Distomo die Gedenkfeier und unterstützt die Entschädigungsforderungen der Opfer und deren Hinterbliebenen. Zudem besuchen wir im Rahmen der Reise Opferverbände, politische Initiativen, antifaschistische Gruppen und Juristen_innen in Athen, mit denen wir im solidarischen Austausch stehen.
Mit dem Wahlsieg des linken Bündnisses Syriza ist die Situation dieses Jahr eine andere. Einige Mitglieder der Regierung haben Reparations- und Entschädigungsforderungen gegenüber Deutschland offen formuliert. Die Verbrechen der Deutschen und die beharrliche Verweigerung der deutschen Regierung, auch nur in Verhandlungen bzgl. der Schuldenfrage zu treten, wurden anschließend von einer internationalen Öffentlichkeit diskutiert — auch in Deutschland. Anfang 2015 wurden Hoffnungen geweckt und ein weiteres offensives Vorgehen der griechischen Regierung erwartet. Mit der Erpressung der Syriza-Regierung durch EU, IWF und insbesondere der deutschen Regierung im Juni 2015 sind die Entschädigungsforderungen erneut weit in den Hintergrund geraten. Viele sind nicht nur deshalb von Syriza enttäuscht.
Unsere Reise begann in Athen. Dank der neuen politischen Konstellation hatten wir dieses Jahr die Möglichkeit, eine Sitzung des Parlamentsausschusses für Entschädigungsfragen zu besuchen und dort unsere Position darzulegen. Zudem trafen wir den Justizminister Nikos Paraskevopoulos und konnten uns über mögliche Schritte bzgl. der Entschädigungen in Griechenland austauschen. In der Rechtsanwaltskammer Athen haben wir in einer öffentlichen Veranstaltung gemeinsam mit dem Rechtsanwalt Joachim Lau aus Florenz über die juristische Auseinandersetzung und den aktuellen Stand der individuellen Entschädigungsklagen berichtet und diskutiert.
Die juristische Auseinandersetzung
Die juristische Auseinandersetzung begann bereits 1995, als in Griechenland und Deutschland Klagen eingereicht wurden. Der Kampf um Entschädigung sowie die folgenden Gerichtsprozesse sind eng mit der Person Argyris Sfountouris verbunden. Argyris Sfountouris überlebt als kleiner Junge das Massaker in Distomo. Anlässlich des 50. Jahrestages des Massakers organisiert er 1994 eine internationale Tagung in Delphi zu den Themen Wiedergutmachung und Versöhnung. Anschließend wendet er sich an die deutsche Botschaft in Athen. Sein Anliegen wird brüsk abgelehnt. Das Massaker in Distomo sei eine „Maßnahme der Kriegsführung“ gewesen. Die Überlebenden sahen angesichts dieser Haltung keine andere Möglichkeit, als ihr Recht vor Gerichten zu suchen.
In Deutschland wurden die Klagen in allen Instanzen einschließlich des Bundesverfassungsgerichts abgelehnt. Anders in Griechenland. Der Aeropag sprach den Klägern im Jahr 2000 eine Summe von 28 Mio. Euro Entschädigung zu. Das höchste Gericht Griechenlands ließ den deutschen Einwand der „Staatenimmunität“ für NS-Kriegsverbrechen nicht gelten. Die damalige rot-grüne Regierung übte daraufhin massiven Druck auf die griechische Regierung aus, die im Jahr 2000 als Mitglied des Euro-Raumes aufgenommen werden sollte und somit leicht erpressbar war. Im Zuge dessen verweigerte die griechische Regierung die Zustimmung zur Zwangsvollstreckung der deutschen Liegenschaften in Griechenland.
Die Kläger wandten sich an Gerichte in Italien. Das höchste italienische Gericht, der Kassationshof in Rom, gab den Klägern Recht und erklärte das griechische Distomo-Urteil in Italien für vollstreckbar. Deutschland widersetzte sich dem Urteil, verweigerte weiterhin die Auszahlung der Schadenersatzsumme und bemühte selbst den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag, um seine Position durchzusetzen. Im Februar 2012 fällte der IGH sein Urteil und gab der deutschen Seite Recht, indem er das Prinzip der Staatenimmunität auch im Fall von Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen bestätigte. Er stellte somit die Entscheidungen der höchsten Gerichte in Athen und Rom auf den Kopf. Das Recht des Stärkeren hat sich gegenüber den Menschenrechten der Opfer und deren Hinterbliebenen durchgesetzt. Damit schien die juristische Auseinandersetzung zu einem jähen Ende zu kommen.
Allerdings widerspricht das IGH-Urteil einem der obersten Prinzipien der italienischen Verfassung: Dem Recht auf Zugang zu den Gerichten in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen. In einer aufsehenerregenden Entscheidung erklärte das italienische Verfassungsgericht im Oktober 2014, dass die Entscheidung des IGH in Italien keine Anwendung finden darf. Dem folgte im April 2015 auch der Kassationshof im Fall Distomo. Die Vollstreckung des Distomo-Urteils ist nun möglich und nur noch formal-juristisch zu stoppen. Nach 20 Jahren einer unwürdigen, juristischen Auseinandersetzung — einige der Kläger_innen aus Distomo sind in diesem Zeitraum verstorben — waren die Kläger_innen einer Entschädigung noch nie so nahe.
In den Ministerien in Berlin werden aktuell alle Alarmglocken läuten. Der „Schlussstrich“ unter die Nazi-Vergangenheit will nicht gelingen. Der gesamte Konflikt wird in eine neue Phase treten. Dies wäre wünschenswert, denn das verheerende Urteil des IGH von 2012 muss revidiert werden.
Offene Versammlung Perama
Eine weitere Station war der Besuch der „Offenen Versammlung Perama“, ein Nachbarschafts- und Arbeitslosenzentrum in Piräus. Im Hafen von Piräus wirkt die Wirtschaftskrise wie unter einem Brennglas. Verfallene Hafenanlagen und eine Arbeitslosigkeit von ca. 75 Prozent sind die Reste eines vormals wirtschaftlich erfolgreichen Hafens, in dem die Mehrzahl der Bewohner_innen von Piräus eine Arbeit finden konnte.
Seit vier Jahren wird im Zentrum Solidarität und Widerstand gelebt. Durch die Verhinderung von Zwangsräumungen und „Stromabschaltungen“ wird versucht, die Folgen der Austeritätspolitik und „Hilfspakete“ zu lindern. In der Küche werden täglich Dutzende Mahlzeiten gekocht. Seit diesem Jahr hat das Zentrum einen Garten, in dem Gemüse für die Mahlzeiten angebaut wird.
Unterschiedlichste Besucher_innen folgen unserem Beitrag zu dem aktuellen Stand der Entschädigungen. Trotz der akuten Existenzprobleme setzen sich die Menschen auch mit diesem Thema auseinander. Danach werden wir über die aktuelle Situation in Perama informiert. Ein wichtiger Aspekt des Zentrums ist der Kampf gegen die Faschisten in Griechenland.
Distomo
Unsere nächste Station ist Distomo. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion informiert Rechtsanwalt Joachim Lau über den aktuellen Stand des Verfahrens in Italien. Danach folgt eine sehr lebhafte Diskussion, in der die Frage der Entschädigung sowie einer möglichen Vollstreckung kontrovers diskutiert wird. Wir treffen Mitglieder der „Antifaschistischen Bürgerversammlung von Distomo“, die sich im Frühjahr 2014 gegründet hat. Für uns ist es die erste politische Gruppe außerhalb des etablierten Parteienspektrums in Distomo, die wir kennenlernen. Ein zentrales Motiv aller Mitglieder ist die Sorge, dass rechte und rechtskonservative Parteien das Gedenken in Distomo instrumentalisieren und verunglimpfen. Auf Betreiben der „Bürgerversammlung“ wurde der jährlich stattfindende, martialisch wirkende Fackelumzug am Vorabend der Gedenkfeier für dieses Jahr ausgesetzt. Das Bündnis initiiert in den umliegenden Schulen Projekte, die sich mit der Besatzungszeit, dem Massaker von Distomo und dem Faschismus auseinandersetzen. Wir verabreden einen kontinuierlichen Austausch.
Am 18. Juli erreicht uns die Meldung, dass es in Distomo mehrere Waldbrände gegeben hat, die durch Brandstiftung verursacht wurden. Die Gedenkstätte hat nur geringfügig Schaden genommen, aber die Bäume und Pflanzen des Hügels, auf dem sie sich befindet, sind fast vollständig verbrannt. Die Täter sind bislang nicht bekannt, das Motiv ebenfalls nicht.