Skip to main content

Deutschland 2015

Einleitung

„Es gibt keinen Platz mehr in Deutschland – es können nicht alle kommen!“
Von Flensburg bis Passau: Das Volk der Deutschen macht wieder mobil. Dabei wäre eigentlich noch das ein oder andere Milliönchen Geflüchteter notwendig, um auch nur den Bevölkerungsstand von 2002 wieder zu erreichen. Auch wenn alle 60 Millionen weltweit (!) vom UNHCR registrierten Geflüchteten und Vertriebenen kämen – käme lediglich die Bevölkerungsdichte von Holland langsam in Sicht (und man wäre immer noch weit unter derjenigen von Südkorea, Bangladesch oder Mauritius). So viel zu den „dramatischen“ Zahlen. 

Foto: Freedom House (PD)

Hinter dem populistischen Geschrei aus allen Parteien und von „besorgten Bürgern“ nach einer Obergrenze für das Recht auf Asyl verbirgt sich die Forderung nach einem erinnerungsbereinigten Grundgesetz. Es geht darum, die Reste des Artikels 16, schon 1993 im Artikel 16a bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, endgültig auszulöschen. Die Forderungen nach Begrenzung der Zahl der Geflüchteten hat keine „juristische“ Wirkung. Denn: Rechte haben ihrem Wesen nach keine zahlenmäßige Begrenzung, deshalb würde jede Beschränkung umgehend vom Bun­des­gerichtshof kassiert werden. Will man juristisch die Grenze betonieren, bleibt nur die komplette Abschaffung jenes Grund­­gesetzartikels, der Gesetz gewordenen Kon­sequenz aus der Flucht von Millionen vor der deutschen Vernichtungsmaschine von 1933 bis 1945.

Weil deutsche Grundgesetzexperimente international aus historischen Gründen auf wenig Begeisterung stoßen, macht derzeit ein zunächst unverdächtiger Begriff erneut Karriere: der des „Kontingentflüchtlings“. Er bietet die Möglichkeit, handverlesene Quali­tät zur marktkonformen Lösung des deut­schen Demographieproblems zu impor­tie­ren. „Kontingentflüchtlinge“ durchlaufen weder Asyl- noch sonstige Anerkennungs­verfahren, sondern erhalten direkt eine Aufenthaltserlaubnis, da sie auf Grund einer Übernahmeerklärung des Innenministeriums kommen dürfen. Es ist bisher die einzige Chance, einen Aufenthalt zu bekommen. Denn für alle derzeitig in der Bundesrepublik eintreffenden und eingetroffenen Geflüchteten besteht nach Dublin III oder Artikel 16a des Grundgesetzes keine Chance auf einen Aufenthaltstitel. Damit ist die derzeitige Debatte genau betrachtet surreal, wären nicht die politischen Schäfchen, die dabei ins Trockene gebracht werden sollen — und dass es braune sind, zeigt die Flexibilität der Schmuddelgrenzen bürgerlicher Parteien.

Die aktuelle Debatte hat aber nicht nur die altbewährte Variante der täuschenden Zahlen, sondern auch die der drakonischen Maßnahmen. Hier rückt das „Asylverfah­rensbeschleunigungsgesetz“ mit dem „Entlastungsbeschleunigungsgesetz“ ins Zentrum, das quer durch fast alle Fraktionen des Bundestags huldvolle Würdigung fand. Es störte im völkischen Eifer so gut wie keine/n Parlamentarier/in, dass die im Grundgesetz garantierte Menschenwürde, nämlich die „Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ auch für Geflüchtete gilt, selbst wenn ihre Abschiebung bevorsteht ­— wie das Bundes­verfassungs­gericht 2012 in einem Grundsatzurteil feststellte. Seit Monaten verletzen insbesondere die Landes- und Bundesbehörden konsequent das Gesetz und arbeiten an der Perfektionierung des menschenunwürdigen Lagersystems — scheinlegalisiert nur durch eilfertig und juristisch zweifelhafte Rahmengesetze, die Zwangsaufenthalt mit Arbeitsverbot, Residenzpflicht, Sachleistungen und Leistungskürzungen in den sogenannten „Erstaufnahmeeinrichtungen“ von drei auf sechs Monate verlängern. Diese gezielt herbeigeführten katastrophalen La­gerzustände produzieren Entmen­schlichung und Entkulturalisierung der Geflüchteten. Auf diese Weise entwürdigt werden sie zu Reizobjekten der rassistischen Volksseele. So läuft die zuverlässige Produktion von Brandherden von „oben“ auf Hochtouren. „Ehrenamtler“ werden mit ihrem humanitären Engagement dazu missbraucht, kostengünstig Lagerleben auf­recht­­zuer­halten.

Politisch gedeutet ist es das alte Dilemma der humanitär und/oder antirassistisch Engagierten. Denn nach geltendem Recht erfüllt ja im Prinzip keine/r der Geflüchteten die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel. Prinzipiell ist jede Partizipation oder Mitarbeit an staatlich koordinierten oder organisierten Handlungen eine Mitarbeit am Lager- und Abschiebungssystem. Somit füttert jede/r, der bei Registrierung und Versorgung mitwirkt, nur die Abschiebemaschinerie. Dass aber zum humanitären Engagement keine Alternative bleibt, liegt an den politisch gewollten Zuständen. Ohne das humanitäre Engagement würden die Geflüchteten schlichtweg ‚gegen die Wand laufen’. Was allerdings die mittelfristige Perspektive für alle bietet, die sich nicht in die Illegalität begeben, ist am Beispiel des Schicksals der Beteiligten am Geflüchtetencamp auf dem Berliner Oranienplatz zu studieren. Die ‚friedliche’ Räumung ist gerademal eineinhalb Jahre vorbei, doch inzwischen wurden so gut wie alle Anträge auf Aufenthalt abgelehnt.

Damit selbstorganisierte Protestcamps nicht erst entstehen können, sollen Geflüch­tete zukünftig möglichst fernab Deutschlands entsorgt werden. Ein Vorschlag sind „Transitzonen“, die zwar noch auf nationalem Gebiet liegen, jedoch als „exterritoriales Gebiet“ deklariert werden und aus denen wie im „Flughafenverfahren“ die Geflüchteten auch gleich wieder ab­geschoben werden können. Da sie ja noch nicht in die Bundesrepublik eingereist sind, konnten sie auch keinen Asylantrag stellen. Selbstverständlich haben die zuständigen Beamten die Aufgabe, zu prüfen, ob ein Antrag „offensichtlich unbegründet“ ist, bevor die „beschleunigte Abschiebung“ in die „sicheren Herkunftsländer“ erfolgt.1 Diese Abschiebung erfolgt nach von der EU-Kommission herausgegebenen Handbüchern2 , die auch brutale Abschiebungen für Behörden legitimieren. Sie enthalten aber immerhin noch das Feigenblatt, dass im Extremfall „nach dem Grundsatz, keine Rückführung um jeden Preis“3 — also wenn am Zielort nur noch eine Leiche ankäme — „abzubrechen“ sei.

Damit jedoch solche aufwändigen Maßnahmen möglichst vermieden werden können, tendiert man zu größerer geographischer Entfernung als ein probates Mittel. Die früher diskutierten „Auffanglager“ feiern nun unter der Bezeichnung „Hotspot“ Wiederauferstehung. Im Zentrum dieser Bemühungen steht momentan die Türkei, deren Verfolgung oder auch Ermordung von Oppositionellen, Kurd_innen oder lästigen Journalist_innen irrelevant werden angesichts der Chance, für wenig Geld dort Lager eingerichtet zu bekommen. Die Geflüchteten können so problemlos in das demnächst „sichere Herkunftsland“ Türkei abgeschoben werden. Es wurde auch schnell Einigkeit darüber erzielt, dass die türkische Armee nun in Syrien einmarschieren darf, um „vor Ort“ eine so genannte Schutzzone ein­zurichten — mitten im kurdischen Gebiet.

Flankierende Maßnahmen werden dann nur noch für den Seeweg als Fluchtroute notwendig. Mittel der Wahl ist ein konsequentes Schiffeversenken — am besten noch in deren Heimathafen, was die „Mittelmeer-Mission“ der Bundesmarine auch vorsieht. Dass dies ausschließlich der Unterbindung von Fluchtmöglichkeiten dient, wird inzwischen nicht einmal mehr bestritten.

Resümee: Der Anteil des Rassismus in der Bevölkerung hat vermutlich kaum zu­genommen, er war schon immer sehr hoch. Aber es hat sich etwas geändert. Dank der „Tabubrecher“ in Politik und Gesellschaft und der gehypten Mediendiskurse à la Sarrazin zeigt er sich offener. Und das verschiebt die gesellschaftlichen Grenzen ge­zielt in Richtung Akzeptanz von Bedrohung, Brandstiftung, Mord und Totschlag. 

  • 1Das ist wohl der Grund, warum dies nicht direkt den Befehlssempfängern der Bundeswehr übertragen werden kann. 
  • 2„Handbuch zu den europarechtlichen Grundlagen im Bereich Asyl, Grenzen und Migration“
  • 3Rückkehr-Handbuch, S. 50