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Migrationspolitik, die über Leichen geht

Christian Jakob
Einleitung

Es ist eine Dimension, so monströs wie die ständig wachsende Zahl der Mittelmeertoten: Bis zu 62 Milliarden Euro, so erklärte Anfang Juni der Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans, wolle die EU bezahlen, damit afrikanische und arabische Länder Flüchtlinge aufhalten.

Foto: Jakob Huber/Campact (CC BY-SA 2.0)

Schon kurzfristig sollen acht Milliarden Euro bereitgestellt werden. Mit diesen sogenannten Hilfs­geldern sollen Grenzaufrüstung, „Asylunterkünfte“, Maßnahmen gegen Schlepper bezahlt und „Investitionen angekurbelt“ werden, sagte Timmermans. Doch die EU gedenkt nicht, ihre neueste Offensive zur Migrationskontrolle auf das Öffnen des Portemonnaies zu beschränken: „Wir schlagen eine Mischung aus positiven und nega­tiven Anreizen vor, um die Drittländer zu belohnen, die bereit sind, effektiv mit uns zusammen zuarbeiten, und sicherzustellen, dass es Konsequenzen für jene gibt, die das nicht tun." Wie genau die EU jene zu bestrafen gedenkt, die nicht als Türsteher für sie bereit stehen, ließ er vorerst offen. Nach dem Vorbild des Türkei-Deals strebt die EU nach eigener Auskunft nun vergleichbare Pakte mit Jordanien, Libanon, Niger, Nigeria, Senegal, Mali, Äthiopien und Libyen an. Mit der in Rede stehenden Gesamtsumme ließen sich sechs Millionen Flüchtlinge ein Jahr lang versorgen.

Timmermans Ankündigung kam in einer Zeit, in der die europäische Grenzpolitik mal wieder in den verschärften Krisenmodus geschaltet hatte. In den letzten Maiwochen waren über 1.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, die Zahl der registrierten Toten in diesem Jahr stieg damit auf über 3.000 — mehr als je zuvor in einem Frühjahr. Doch anders als bei den letzten Großkatastrophen zwischen Libyen und Lampedusa blieb es diesmal merkwürdig still. Die Öffentlichkeit scheint sich an die Horrornachrichten vom Mittelmeer gewöhnt zu haben. Kein führender EU-Politiker sah sich zu Brandreden genötigt. Kopfzerbrechen bereitete ihnen vielmehr die Frage, wie die EU vermeidet, dass in diesem Jahr ähnlich viele Flüchtlinge ihr Territorium erreichen wie im letzten Jahr.

Denn trotz aller Anstrengungen bröckelt die Flüchtlingsabwehrfront. Die Beziehungen zum wichtigsten Türsteherstaat, der Türkei, sind derzeit ungefähr so gut wie die zu Russland — Tendenz: rapide weiter vereisend. Und so trafen sich am Rande eines Gipfeltreffens der Vereinten Nationen am 29. Mai 2016 in Antalya der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoğlu, der türkische EU-Minister Ömer Celik mit Timmermans  und kündigten ihm an, das gerade erst in Kraft getretene Flüchtligsabkommen wieder auszusetzen. Cavusoğlu und Celik ging die versprochene Einführung der Visafreiheit für Türken nicht schnell genug. Die Armenien-Resolution des Bundestages war da noch gar nicht verabschiedet worden.Das deutsche Bundesinnenministerium beeilte sich, diesen angedrohten Supergau des EU-Grenzregimes wegzuwischen. „Die Türkei hält sich an die gemachten Zusagen, insbesondere die Maßnahmen, die für die Schleuserbekämpfung greifen“, sagte Staats­sekretärin Emily Haber.

An andere Zusagen fühlt die Türkei sich hingegen keineswegs gebunden. Pro Asyl sammelte „konkrete Informationen“, dass die Türkei aus Griechenland Abgeschobene zu Hunderten im Knast von Kirklareri einsperrte. Die Organisation recherchierte den Fall einer yezidischen Familie, die vor dem IS-Terror nach Griechenland floh. Sie wurde in die Türkei zurückgeschoben und dort inhaftiert. „Die Haft endete erst, nachdem sie erzwungenermaßen ihrer „freiwilligen“ Rückkehr in den Irak zugestimmt hatten“, so Pro Asyl.

Die Türkei ist allerdings nicht die einzige, die sich nicht an Absprachen hält. Am 4. Juni 2016 wurde die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen bekannt. Die wollten wissen, wie viele Flüchtlinge Deutschland aus Italien, Griechenland und der Türkei aufnimmt. Zur Erinnerung: Im letzten Jahr hatten die EU-Staaten sich verpflichtet, insgesamt 120.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland innerhalb der EU zu verteilen. Und neben Milliardenzahlungen hatte die EU auch der Türkei einer absurden Logik folgend versprochen, für jeden aus Griechenland zurück in die Türkei abgeschobenen Syrer einen anderen Syrer aus der Türkei in die EU reisen zu lassen.
Bislang ist davon allerdings nichts zu spüren: Seit Oktober, so das Bundesinnenministerium, hat Deutschland insgesamt ganze 57 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien übernommen. Grund für diese minimale Größenordnung sei, dass die Übernahme von Syrern aus der Türkei „derzeit Priorität“ habe, so Innen-Staatssekretär Ole Schröder. Der Türkei nehme Deutschland derzeit 100 Flüchtlinge ab. In dem Land halten sich mittlerweile über 3 Millionen Flüchtlinge auf.

Noch allerdings hält die Schließung der Balkanroute weitgehend. Weil in der Türkei kaum Boote mehr ablegen, versuchen Flüchtlinge verstärkt, die 15 Kilometer nach Griechenland zu schwimmen. Die Möglichkeit, Asylanträge zu stellen, gibt es dort faktisch nicht mehr. Die Inhaftierten werden in den sogenannten Hotspots gezwungen, ihre Zustimmung zur freiwilligen Ausreise zu erklären. Ansonsten droht ihnen monatelange Haft. Auf den griechischen Inseln sitzen Mitte Mai 2016 mehr als 8.300 Menschen fest, mehrere Tausend sind inhaftiert. Die Haftlager und provisorischen Unterkünfte sind völlig überfüllt, die hygienischen Verhältnisse katastrophal. Die sogenannten Asylverfahren zielen darauf ab, die Menschen so schnell es geht in die Türkei zurück zu schicken, wo die Zustände ähnlich sind. Und damit aus Richtung Syrien möglichst niemand mehr nachkommt, baut die Türkei derzeit an der Grenze zu Syrien Selbstschussanlagen. Alle 300 Meter soll bald ein solcher „intelligenter Wachturm“ stehen. Mit den Milliarden aus Brüssel kann sich die Türkei das Projekt ohne weiteres leisten.

Immer stärker kommt da die zentrale Mittelmeerroute in den Blick. Die IOM rechnet damit, dass dort 200.000 Menschen auf die Überfahrt nach Europa warten. Beobachter gehen davon aus, dass sich diese Zahl erhöhen wird, weil der infolge der Schließung der Balkanroute erwartete Schub von SyrerInnen noch gar nicht eingesetzt hat. Denn weil auch Ägypten die Visabedingungen verschärft hat, müssen Syrer mittlerweile einen Umweg über den Sudan machen, um noch nach Libyen zu gelangen. Das dauert.
Und wie ihre Aussichten stehen, von Libyen aus an einen sicheren Ort zu kommen, ist offen. Die teils islamistischen, das Land beherrschenden Milizen stehen seit langem im Verdacht, das mörderische Schlepperbusiness an der Küste des Landes zu kontrollieren. Gleichzeitig hat der Ministerpräsident von Libyens sogenannter Einheitsregierung, Fajes al-Sarradsch, die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini Ende Mai per Brief offiziell um Hilfe beim Wiederaufbau der Küstenwache und der Sicherheitskräfte gebeten.

Es ist völlig offen, inwieweit al-Sarradsch Kontrolle über das Staatsgebiet hat. Die EU will gleichwohl die mittlerweile in „Sophia“ umbenannte Marine-Mission EUNAVFOR MED im Mittelmeer ausweiten. Neben dem Kampf gegen Schlepper soll sie nun auch die sogenannte Küstenwache von Libyen ausbilden. Die Bundeswehr soll sich daran von Tunesien aus beteiligen. 22 Nationen mit rund 1.300 SoldatInnen beteiligen sich derzeit an der Operation. Der Kampf gegen Schlepper beschränkte sich bislang auf die Zerstörung von Schlauch- und Holzbooten und die Festnahme von 69 „Schleusungsverdächtigen“. Rund 9.000 Menschen seien von den Marineschiffen seit Sommer 2015 aus Seenot gerettet worden — nur ein Bruchteil jener, die im selben Zeitraum von zivilen Einheiten gerettet wurden.

Der Linken-Abgeordnete Andrej Hunko kritisierte die Ausbildungspläne für die „Küstenwache“ genannten Milizen: „Das einzige, was diese schwer bewaffneten Männer nicht übernehmen, ist die Seenotrettung“, sagt er. Die libysche Küstenwache gefährde Menschenleben. „Die geplante militärische Zusammenarbeit der EU und der NATO mit diesen marodierenden Einheiten ist Ausdruck einer Migrationspolitik, die nur die Abwehr von Flüchtlingen im Sinn hat und dabei über Leichen geht.“ Die EU-Mitgliedstaaten müssten deshalb alle Anstrengungen auf die Seenotrettung vor Libyens Küsten richten. Es brauche keine weiteren militärischen Abenteuer in Libyen, sondern sichere Überfahrten für Geflüchtete und eine Entwicklungsperspektive für Libyen.