Ein Plädoyer für gründliche Recherchen statt spektakulärer Hypothesen
Tomas Lecorte (Gastbeitrag)Fast sieben Jahre sind seit der Aufdeckung des NSU vergangen, mehr als elf Jahre seit dem - soweit bekannt - letzten Mordanschlag. Dennoch ist dieses Kapitel des deutschen Rechtsterrorismus weit davon entfernt, geschlossen zu werden. Das liegt auch daran, dass sich der „Fall NSU“ kaum vom Thema gesamtgesellschaftlichem Rassismus und/oder Fremdenfeindlichkeit trennen lässt. Vor allem aber gibt es rund um die Kerngeschichte des NSU-Trios ein breites Feld bekannter, vermuteter oder auch rein spekulativer Strukturen und Beziehungen, deren Personal von Neonazis bis hin zu staatlichen Akteuren reicht. Die Annahme, es müsse um mehr gehen als um drei FanatikerInnen, die jahrelang eine isolierte Terrorkampagne durchziehen, ist praktisch „common sense“ in allen Milieus, die sich mit dem Thema beschäftigen.
Die Bandbreite der verschiedenen Deutungen und Theorien sprengt den Rahmen eines kurzen Artikels. In den vergangenen Jahren waren es oft nicht die gründlich recherchierten Beiträge, welche die größte Wirkung erzielten, sondern kurze und spektakuläre Hypothesen. Es gibt verschiedene psychologische und kollektiv-emotionale Dynamiken, die bewirken, dass der NSU größer und mächtiger gezeichnet wird, als er wirklich war. Es soll hier nicht der Versuch gemacht werden, Verschwörungsideen zu besprechen - denn Glaube und Gefühl lassen sich nicht mit Argumenten widerlegen.
Eine Untersuchung der kommunikativen Mechanismen, die bei der öffentlichen Be- und Verarbeitung des NSU-Falles wirksam waren, wäre eine Bereicherung dieser Debatte. Die Feststellung, es gebe viel Ungeklärtes und Rätselhaftes an diesem Fall, ist nur die halbe Wahrheit.
Tatsächlich gibt es wenige Kriminalfälle, die so gründlich durchleuchtet wurden. Es gibt zehntausende Seiten an Material: Dokumente, Aussagen und Material des NSU selbst. Deren eigene Sammelwut war absurd und der Versuch, das Material mittels Brandlegung zu vernichten, war dilettantisch. Hinzu kommen Nachermittlungen nahezu aller Sicherheitsbehörden, und schließlich - vor allem dank der Untersuchungsausschüsse - umfangreiche Informationen über die Neonazi-Szene und die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes. Die Sorge des Verfassungsschutzes vor Publizität, die zu Datenvernichtungsaktionen führte, war berechtigt, inklusive der Furcht vor der Enttarnung von V-Leuten. Dass sich komplexe „Lebenssachverhalte“ nie restlos widerspruchsfrei und objektiv darstellen lassen, dass Fragen unbeantwortet bleiben und nicht alles logisch erscheint ist normal und in jedem Kriminalfall werden Fehler gemacht. Im Leben wird gelogen, falsch erinnert und ungenau erzählt. Die ungeklärten und rätselhaften Aspekte im Fall NSU sind nicht besorgniserregend zahlreich, sie werden nur ungewöhnlich stark öffentlich diskutiert.
Nachdem sowohl der Prozess vor dem OLG München, als auch die Arbeit der meisten Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern ein vorläufiges Ende gefunden haben, bleiben sicherlich Fragen unbeantwortet. Viele „große“ Fragen sind durch die Akten und die weiteren Untersuchungen hinreichend geklärt: Das Trio wurde 1998 nicht in den Untergrund „eskortiert“, sondern es gab über mehrere Jahre eine intensive, allerdings erschreckend schlechte Fahndung durch Polizei und Verfassungsschutz nach den „Bombenbastlern von Jena“. Die Aktivitäten des NSU, das jahrelange Leben in der Illegalität, die Banküberfälle und Mordanschläge sind plausibel nachvollziehbar und finanziell und logistisch möglich gewesen ohne „schützende Hände“. Die rassistische Ideologie des „führerlosen Widerstands“ und die Eigendynamik von Radikalisierung und Illegalität erklären die Taten des NSU. Mundlos und Böhnhardt haben am 4. November 2011 im Wohnmobil in Eisenach Doppelselbstmord begangen.
Selbstverständlich gibt es auch noch offene Fragen, zum Beispiel: Wer außerhalb des Trios gehörte zum „inner circle“, der wusste, was der NSU tat? Gab es eine feste logistische Struktur, die z.B. bei der Waffenbeschaffung tätig war? Was hat sich 2007 in Heilbronn genau abgespielt? Warum hatten Mundlos und Böhnhardt im November 2011 so viele Waffen und Geld im Wohnmobil? Was hat Andreas Temme, ehemaliger LfV-Beamter und 2006 in Kassel am Tatort anwesend, verschwiegen? Warum hat sich der thüringische Verfassungsschutz in der Fahndungsphase von 1998 bis 2003 so stark engagiert?
Dazu ein paar Gedanken: Es gibt keinen Anlass zu der Vermutung, ausgerechnet der NSU habe die Regeln der Konspiration nicht beachtet. Dazu gehört das „need-to-know“-Prinzip: Alle wissen nur das, was sie wissen müssen. Es dürfte einige Helfer- Innen geben, die nicht wussten, worin sie verwickelt waren. Es war eine politisch-
kriminalistische Strategie der deutschen Sicherheitsbehörden gegen die radikale Linke der 1970er und 1980er Jahre, alle Personen als „RAF“ zu denunzieren, die irgendeinen Kontakt in diese Richtung hatten. Diese Kontaktschuld-Methode sollten wir uns nicht zu eigen machen. Es gab nicht hunderte von NSU-Netzwerker- Innen, aber es gab mit Sicherheit Personen, die genauer Bescheid wussten - vermutlich im Bereich der inneren „Blood & Honour“-Struktur.
Die Herkunft der meisten Waffen des NSU ist ungeklärt. Waffen zirkulieren auf dem Schwarzmarkt, werden gekauft und verkauft und Waffenfetischisten reden nicht über Ideologie oder geplante Verwendungszwecke. Kaum einer aus diesen Kreisen wird dazu öffentlich Aussagen machen, schon aus Eigenschutz und Geschäftsinteresse. Die Waffen des NSU waren nicht auffällig hochwertig oder einheitlich - vermutlich wurde genommen, was zu kriegen war. Dennoch ist dies ein NSU-Bereich, in dem die Logistik relativ gut aufgestellt war und wo deshalb zu fragen ist, ob das allein zu bewerkstelligen war. Der Mordanschlag in Heilbronn 2007 ist vermutlich das am schlechtesten aufgeklärte Verbrechen des NSU. Warum haben Mundlos und Böhnhardt ihren Aufenthalt spontan verlängert und waren sie am Tatort allein? War es ihre letzte Tat, und wenn ja, warum? Gab es eine Verbindung zu Michèle Kiesewetter? Vorstellbar scheint, dass die Tat einen qualitativen Sprung des NSU einleiten sollte, dass aber die Umstände der Tatausführung selbst und die Folgen im Gegenteil zu einer Verunsicherung und Demotivierung des NSU führten: Erhöhter Fahndungsdruck, bizarre öffentliche Meldungen (Fahndung nach dem „Phantom“), vielleicht auch das Bewusstsein, sich überschätzt zu haben und nur durch Glück entkommen zu sein. War es Fetischismus und Kriegerkult, der Mundlos und Böhnhardt dazu brachte, sich im Wohnmobil mit ihrer Beute und ihren Waffen zu umgeben oder hatten sie nach dem Bankraub weitere Pläne?
Andreas Temme taugt nicht zum Mitverschwörer, aber offensichtlich ist, dass er gelogen hat. Die Fahndung nach den Untergetauchten ab 1998 ist rein faktisch nachvollziehbar, es bleibt aber die Frage, was das LfV Thüringen antrieb. War es das skurrile Ego von Behördenchef Roewer, der der Polizei zeigen wollte, dass er besser ist? Wollte man das flüchtige Trio anwerben?
In den vergangenen sieben Jahren hat es keinen stichhaltigen Hinweis auf eine größere von staatlichen Stellen planvoll inszenierte Verschwörung gegeben. Spekulationen beruhen auf vereinfachten und aus dem Rückblick verkürzten Betrachtungen der Ereignisse, sie schreiben die Geschichte auf das vorher festgelegte Ende hin, sind also ahistorisch. Ihr festes Gerüst ist das „cui bono“ (wem nützt es), das als Motivation der Verschwörer_innen unterstellt wird und alle faktischen Widersprüche überspült. Doch dieses Argument funktioniert nicht - was ist der politische Sinn einer rassistischen Mordkampagne, von der praktisch niemand wusste, dass sie rassistisch gemeint war? Welche politischen Widerstände etwa gegen seine damalige Migrationspolitik hätte ein Staatsapparat bekämpfen wollen, der eben diese Politik seit Jahren fast ohne hörbare Opposition durchsetzte?
Der radikale Flügel der Linken hat dazu beigetragen, den politischen Druck gegen Vertuschungen und den „Übergang zur Tagesordnung“ zu erhöhen. Das ging oft auf Kosten von tatsächlicher Aufklärung und emanzipativem Denken. Mystifizierungen und Ressentiments gegen unklar definierte Mächte, die lügen und manipulieren, sind der Stoff, aus dem auch die neurechte Massenbewegung schöpft. Davon sollten wir die Finger lassen und uns die Mühe des genauen Hinschauens und Hinhörens machen.
(Tomas Lecorte analysiert und schreibt zum NSU seit 2012 auf seiner Webseite www.lecorte.de. 2017 erschien bei "NSU Watch" sein Artikel zu den Todesfällen von Zeug_innen im NSU-Komplex.)