Kein Schlussstrich: Ein Versprechen für die Zukunft
Patrycja Kowalska (Sprecherin der Kampagne Kein Schlussstrich) (Gastbeitrag)Nach eineinhalb Jahren Vorbereitung war es so weit: Tag X, der Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess, fiel auf Mittwoch, den 11. Juli 2018. Im Gedenken an die 10 Ermordeten Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter begann um 8 Uhr morgens unsere Kundgebung in München vor dem Gericht.
Kurz nach 10 Uhr die ersten Informationen zum Urteil. Fassungslosigkeit machte sich breit. Wenige Minuten zuvor hatte ich noch in einem Interview gesagt: „Es geht nicht nur um die fünf Angeklagten – die werden höchst wahrscheinlich hoch bestraft – es geht auch darum auf weitere juristische Belangung des Unterstützerumfelds zu drängen.“ Diese Prognose war breit geteilt worden. Gerade im Fall Emingers erwarteten langjährige Prozessbeobachter*innen eine hohe Haftstrafe. Retrospektiv erscheint selbst diese geringe Erwartung als naive Hoffnung, die der Richterspruch des 6. Strafsenats am OLG München komplett unterminierte. Dass viele Menschen davon ausgingen, nach jahrelanger dichter Beweisführung im Prozess würden zumindest die engsten Unterstützer hoch verurteilt, lag nicht im bloßen Wunsch nach Bestrafung begründet: Es ist für weitere Prozesse durchaus relevant, wie die Unterstützungstaten vorher juristisch gewertet wurden. Wenn die Strafzumessung von zweieinhalb Jahren für André Emingers 13-jährigen Tatbeitrag zu der raubenden, bombenlegenden und mordenden rechtsterroristischen Untergrundorganisation so gering ausfällt, werden damit andere Unterstützungsleistungen strafrechtlich ins Irrelevante verschoben.
„Wir erkennen das Urteil nicht an.“
Das gab Familie Yozgat schon Wochen vorher öffentlich bekannt. Ohne das Eingeständnis des Gerichts, dass im Falle Halits keine Aufklärung stattgefunden hat, konnte es für seine Eltern Ayşe und İsmail Yozgat kein legitimes Urteil geben. Einige Nebenklagevertreter*innen resümierten, der Staatsschutz-Senat habe sein Urteil im wörtlichsten Sinne gesprochen – „den Staat schützend und die Betroffenen einmal mehr im Stich lassend“. Aber dieses Urteil schützt nicht nur den Staat, der den NSU in dieser Form erst möglich machte – beispielsweise wegen der unterlassenen Festnahme des Kern-Trios 1998 in Chemnitz, wodurch die Mordserie hätte verhindert werden können.
Durch die niedrige Strafzumessung relativiert das Gericht die Taten, minimiert die Chancen auf weitere NSU-Verfahren und schafft damit eine Rechtsprechung, die zum Nährboden für weitere nationalsozialistische Untergrundgruppen werden kann. Denn als der Senat mit seinem Urteil die Trio-These der BAW bestätigte, sendete er ein Signal an die rechte Szene, das Unterstützungsumfeld und an potenzielle weitere rechtsterroristische Gewalttäter*innen. Die Rezeption dieses Signals fand sogar noch im Gerichtssaal ihren plastischen Ausdruck, als die anwesenden Neonazis auf der Zuschauertribüne bei der Urteilsbegründung in Jubel ausbrachen. Fakt ist: Das Urteil im NSU-Prozess ist als politischer Freispruch des Unterstützungsnetzwerks zu werten.
Ungleich lauter ertönten wenig später die Rufe hunderter wütender Antifaschist*innen, die auf dem Vorplatz des Gerichtsgebäudes lautstark entgegneten: „Der NSU war nicht zu dritt!“. Die vorherige Fassungslosigkeit und Trauer war in kämpferische Wut umgeschlagen. Diese Wut zeigte sich auch in den Worten Elif Kubaşık‘s, der Witwe des ermordeten Mehmet Kubaşık, die über ihre Anwälte auf der Kundgebung erklären ließ: „Vielen Dank an das Gericht. Vielen Dank, dass Sie mir einen weiteren schweren Schlag versetzt haben. Und zwar einen Schlag mit den niedrigen Strafen insbesondere für Eminger und Wohlleben. Einen Schlag für mich und eine weitere Ermutigung der Dortmunder Naziszene, mit der ich alltäglich zu tun habe. (…) Ich Elif Kubaşık reagiere hier im vollkommenen Unverständnis auf diese Art des Urteils.“ Arif S., Betroffener des Keupstraßen-Anschlags, fand auf der Bühne stärkende und kämpferische Worte für die Zukunft: „Trotz allem werden wir hier weiterleben. Hier werden wir unsere Hoffnungen wachsen lassen. Niemand kann das verhindern, denn sie haben nicht mit den Millionen von standhaften antifaschistischen und demokratischen Menschen dieses Landes gerechnet.“
Im Jahr 2006 hatten die Familien Kubaşık, Yozgat und Şimşek mit Freund_innen und Nachbar_innen aus der migrantischen Community noch ohne große Unterstützung und Aufmerksamkeit demonstriert und „Kein 10.Opfer!“ gefordert. Zwölf Jahre später demonstrierten nun die Familien Kubaşık und Şimşek, Arif S. und weitere Betroffene des Keupstraßen-Anschlags, Freund*innen, Anwält*innen und Unterstützer*innen und forderten: „Kein Schlussstrich!“. Hinter ihnen reihten sich rund 6.000 solidarische Menschen ein. Bundesweit waren es über 10.000 Menschen, die anlässlich der Urteilsverkündung auf die Straße gingen.
Antifa bleibt Handarbeit
Unser Antrieb für die politische Arbeit zum NSU-Komplex war die Solidarität mit den Betroffenen rechten Terrors, aber letztlich auch die Erkenntnis, nicht zugehört zu haben, den rechten Terror nicht als solchen erkannt und den NSU nicht aufgedeckt zu haben. Die Aufklärung des NSU-Komplexes kann nicht der Justiz, den Ermittlungsbehörden, dem Staat überlassen werden. Deshalb war es Teil antifaschistischer Intervention, gezielt öffentlichen Druck auf das Verfahren auszuüben, weitere Informationen zu gewinnen und die Deutungshoheit eben nicht denen zu überlassen, die den NSU so erst ermöglichten. Deshalb schlossen sich Antifaschist*innen zusammen, durchforsteten kritisch ihre unter schwierigsten Bedingungen gesammelten Materialien der letzten Jahrzehnte und stellten die erarbeiteten Analysen für den Kampf um Aufklärung zur Verfügung. Viele Kapazitäten wurden in Prozessbeobachtung, Untersuchungsausschüsse, Recherchen, Öffentlichkeitsarbeit, Netzwerktreffen und Bündnisse gesteckt.
Überlebende des NSU-Terrors gingen mutig an die Öffentlichkeit um aufzuklären und Antworten zu finden auf das unerträgliche Leid, dass ihnen angetan wurde - von Neonazis, Beamt*innen und all denen, die nicht zugehört hatten und sie damit zu Täter*innen machten. Antirassistische Initiativen knüpften Kontakt zu ihnen und trieben die Suche nach Antworten und Rehabilitation Seite an Seite voran. Engagierte Vertreter*innen der Nebenklage thematisierten im Verfahren unermüdlich die gesamte Bandbreite des NSU-Komplexes, betonten Lücken und Leerstellen im Prozess und leisteten wertvolle Aufklärungsarbeit. Das alles, zusammen mit den investigativen Recherchen von Journalist*innen, wissenschaftlichen Kontextualisierungen und den vielen künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem NSU-Komplex sind die Gründe dafür, warum klar ist: Einen Schlussstrich kann und darf es nicht geben. Der Erfolg der Kampagne Kein Schlussstrich, die mediale und diskursive Durchsetzung, baute auf eben dieser jahrelangen Arbeit auf und knüpfte an die jahrzehntelang geführten Kämpfe an.
Kein Schlussstrich! Aber wie weiter?
Als antirassistische und antifaschistische Bewegung haben wir dazugelernt und Konsequenzen gezogen. Der Versuch, den NSU-Komplex aufzulösen, hat eine intensive Aufarbeitung rechten Terrors in Deutschland angestoßen. Trotz aller Fehler hat sich gezeigt, dass konstante und qualitativ hochwertige antifaschistische Recherchearbeit zwingend notwendig ist. Denn ohne die Recherchen der 1990er Jahre wäre der NSU ein noch dunkleres Kapitel in der Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland. Damit an dieses Wissen angeknüpft und eine sinnvolle Einordnung vorgenommen werden kann, braucht es aber solidarischen Austausch. Nirgends sonst wird die Hinfälligkeit einer vermeintlichen Trennung von „Antifa- und Antira-Arbeit“ deutlicher als im NSU-Komplex. Und nirgends offenbart sich die Bedeutung des Einander-Zuhörens schmerzlicher, als in der Tatsache, dass die zehn Morde nicht verhindert wurden. Ibrahim Arslan, Überlebender des Brandanschlags in Mölln 1992, mahnt genau das an und folgert: „Opfer und Überlebende sind keine Statisten, sie sind die Hauptzeugen des Geschehenen.“ Sie dürfen nie wieder vergessen oder überhört werden.
Durch den Kontakt zu den Betroffenen des NSU-Terrors haben sich neue Zusammenschlüsse ergeben – sie müssen ausgebaut und gepflegt werden. Es gibt noch viel zu tun: Offene Fragen sind zu beantworten, es gilt Formen des gemeinsamen würdigen Gedenkens zu etablieren, bisherige Erkenntnisse müssen zusammengetragen und ausgewertet werden, Wege für weitere Aufklärungsarbeit sind zu finden. Letztlich geht es schlicht um die kontinuierliche Weiterarbeit. Denn Kein Schlussstrich war die richtige Forderung am Ende dieses Prozesses, aber sie ist auch ein Versprechen. Ein Versprechen, dem zukünftige Arbeit folgen muss.